Seinen „Entwurf einer Praxis und Theorie der frühen Kindheit“ stellt er unter den besonderen Fokus der zunehmenden individuellen, sozialen und kulturellen Vielfalt in der KiTa. Grundsätzlich zielt er auf ein Bildungsverständnis ab, „das nicht von vornherein auf einem Widerspruch aufbaut“ – nämlich einerseits die Selbstständigkeit der Kinder zu propagieren, sie aber andererseits fördern und bestimmte Kompetenzen vermitteln zu wollen und letztlich ihr Lernen „auf einem Nachdenken dessen auf[zu]bauen, was Erwachsene gedacht haben.“ Bildung versteht der Erziehungswissenschaftler dabei weder als einen rein individuellen Prozess des Kindes noch als einen rein sozialen Konstruktionsprozess, sondern „als Interaktionsprozess zwischen Kind, sozialen Beziehungen und kulturellen Bedingungen“.
„Demokratie der zwischenmenschlichen Beziehung von Anfang an“
In den Mittelpunkt seines Buches und auch der Frühpädagogik insgesamt stellt Schäfer die Beteiligung der Kinder in einem umfassenden Sinne. Es geht ihm um „eine Demokratie der zwischenmenschlichen Beziehungen von Anfang an, eine Demokratie auf der Basis einer wechselseitigen Verständigung von Geburt an.“ Selbstverständliche Grundlage der so stattfindenden Bildungs- und Erziehungsprozesse sind für ihn dabei „tragfähige und einfühlsame Beziehungen.“Als Ausgangsmodell frühkindliche Bildung sieht Schäfer das „ernsthafte Spiel des Kindes“, das dann „wirkungsvoll pädagogisch unterstützt und erweitert werden kann“. Das Lernen des Kindes und seine professionelle Unterstützung ist dabei auf einen „stetigen Dialog zwischen Kind und Erwachsenen" angewiesen. Für pädagogische Fachkräfte gelte es, Bildungsprozesse gezielt herauszufordern und Lernumgebungen zu schaffen, „welche die kindliche Neugier herausfordern und ihnen Arbeits- und Denkwerkzeuge geben, mit welchen sie ihrer Neugier explorierend folgen können.“ Schäfer weist hier auch auf die zentrale Bedeutung von Beobachtung und Dokumentation hin, denn man könne nur pädagogisch unterstützen, „was man wahrgenommen hat“.
In der Folge führt Schäfer sieben Grundbegriffe einer Pädagogik der frühen Kindheit ein und fachlich weiter aus:
- Anfängergeist
- Beteiligung
- Gemeinsam geteilte Erfahrung
- Resonanz
- Verständigung
- Anregen und Herausfordern
- Kultur des Lernens
„Kultur des Lernens“
Die Kultur des Lernens bildet dabei eine Klammer für die Grundbegriffe und beinhaltet sowohl explizite wie implizite Formen von Bildungsprozessen. Es geht hier also nicht nur um bewusste Lernarrangements, sondern grundsätzlich um die „Schaffung von anregenden Lebens- und Lernumwelten sowie um eine tragfähige und empathische Beziehung als Grundlage des sozialen Miteinanders“. Eine Kultur des Lernens berücksichtigt dabei fünf zentrale Dimensionen für Bildungsprozesse:- Selbstbildungspotenziale
- Soziale Potenziale / Beziehungspotenziale
- Sachpotenziale
- Strukturpotenziale
- Kulturpotenziale
Ein adäquates Bildungs- und Erziehungsverständnis für eine solche Kultur des Lernens stellt laut Schäfer eine „Pädagogik des Innehaltens“ dar, die eine „aktive, aufmerksame Zurückhaltung der pädagogischen Kräfte“ erfordert und der Aktivität des Kindes den Vortritt lässt. Gefordert ist somit eine „partizipative Didaktik“.
Gerd E. Schäfer hat seinen Entwurf einer Praxis und Theorie der frühen Kindheit mit einem vielperspektivisch-interdisziplinären Ansatz und auf der Grundlage einer „dialogischen Empirie“ entwickelt: „Das wurde in einer dialogischen Zusammenarbeit von Praktiker/innen und Theoretiker/innen umgesetzt, in der sich Theorie in der konkreten (früh-) pädagogischen Arbeit bewähren musste und modifiziert werden konnte, wie auch die Praxis durch diese Theorie immer wieder hinterfragt wurde.“
Konsequenzen für die ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.
Für die Praxis der pädagogischen Fachkräfte hält Schäfer es nun für wesentlich ein biographisch implizites Können und Wissen „in die Handlungs- und Denkweisen eines erziehungswissenschaftlich begründbaren Wissens und Verstehens“ zu transformieren. Das setze die Bereitschaft zu einem biographischen Wandel heraus und in diesem Sinne stellt sich die Biographiearbeit (die Schäfer anhand seiner Lebensgeschichte in diesem Buch auch gleich exemplifiziert) hier geradezu als Voraussetzung für die weitere Professionalisierung dar.Im Hinblick auf die Fort-, Weiter und letztlich auch Ausbildung unterstreicht Schäfer, dass ihr Zentrum nicht in der Vermittlung fachlichen Wissen bestehen sollte, „sondern in der Hilfe zur Einrichtung einer Struktur, in der man seine alltägliche Praxis genauer wahrnehmen und hinterfragen kann, in der also der Selbstwahrnehmungs- und Selbstreflexionsprozess über die eigene Praxis unterstützt wird.“
Grundpfeiler werden in Frage gestellt
Gerd E. Schäfer hat mit „Bildung durch Beteiligung“ ein sowohl theoretisch anspruchsvolles Grundlagenwerk für die frühkindliche Bildung vorgelegt, wie auch gleichzeitig die Implikationen für die Praxis in den Blick genommen und ausgeführt. Gerade in unseren Zeiten, in denen die Demokratie durch Populismus, Ausgrenzung und Diskriminierung in Gefahr geraten ist, ist sein Ansatz einer frühkindlichen Bildung durch konsequente demokratische Beteiligungs- und Verständigungsprozesse mehr als bedenkenswert und sehr überzeugend. So kann KiTa tatsächlich zur Keimzelle oder auch Schule der Demokratie werden und unsere freiheitliche Gesellschaftsform von Anfang an stützen und vor Extremismus schützen. Im Spiegel seiner Theorie treten in diesem Buch auch die Widersprüche zwischen aktuellen normativnormativ|||||Normativ bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.en Ansprüchen und Proklamationen (der Selbstständigkeit, der Partizipation des Kindes usw.) und der pädagogischen Praxis in den KiTas auf – und in letzter Konsequenz werden hier auch die Grundpfeiler der aktuellen Förder- und Kompetenzvermittlungslogik in Frage gestellt. „Bildung durch Beteiligung“ ist in diesem Sinne ein Buch, dem man viele Leser*innen wünscht und das viel Stoff für wichtige Debatten rund um die frühkindliche Bildung bietet.- Gerd E. Schäfer: Bildung durch Beteiligung. Zur Praxis und Theorie frühkindlicher Bildung. Beltz Juventa, 356 S., 24, 95 Euro.
Karsten Herrmann