Studien zeigen: Familiäre Belastung steigt, Bildungssituation verschlechtert sich
Kinder mit insulinpflichtigem Diabetes können nicht gleichberechtigt am Bildungssystem teilhaben. Sie sind in Kindergärten und Schulen noch immer unzureichend betreut. Mehr als die Hälfte der Eltern reduziert aufgrund dessen ihre Arbeitszeit. Darüber hinaus sind sie häufiger vom Regelschulbesuch ausgeschlossen als gesunde Gleichaltrige. Die Folge aus dieser Gesamtsituation ist, dass betroffene Familien vermehrt psychischen, sozialen und finanziellen Belastungen ausgesetzt sind. Um das bestehende Recht von Kindern mit Diabetes auf uneingeschränkte Teilhabe an Bildung umzusetzen, bedarf es aus Sicht der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) eines bundesweiten Gesetzes und konkreter Finanzierungsmöglichkeiten auf Landesebene. Auf dem 4. Zukunftstag Diabetologie am 17. Oktober 2019 in Berlin diskutieren Experten, wie eine Verbesserung der psychosozialen Versorgung im stationären und ambulanten Bereich zu erreichen ist.In Deutschland leben schätzungsweise bis zu 17.400 Kinder unter 14 Jahren mit Diabetes Typ 1. „Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr benötigen diese Kinder in der Regel eine Unterstützung in ihrem Therapiemanagement – auch in Kindergarten und Schule“, erklärt Dr. med. Jutta Wendenburg, Sprecherin der AG Inklusion der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD). Nationale und internationale wissenschaftliche Leitlinien fordern daher eine bedarfsgerechte Unterstützung der Kinder mit Diabetes Typ 1 in Kitas und Schulen. „Der Rechtsanspruch für Unterstützungsleistungen, um eine angemessene Schulbildung zu sichern, ist übrigens unbestritten“, betont Wendenburg. Dieser ergebe sich ganz klar aus dem Deutschen Grundgesetz sowie der UN-Menschenrechtskonvention1.
DDG-Experten kritisieren, dass die praktische Umsetzung auf Landes- und Kommunalebene und – vor allem die Finanzierung dieser Maßnahmen – in Deutschland jedoch nicht ausreichend geregelt oder nicht verwirklicht wird. „Im Gegenteil: In vielen Fällen fördert das deutsche Bildungssystem eher eine Exklusion statt Inklusion betroffener Kinder“, gibt Wendenburg zu bedenken. In einer Online-Umfrage2 der AG Inklusion der DDG mit 1189 betroffenen Familien gaben bis zu 48 Prozent der Eltern an, dass ihr Kind nicht gleichberechtigt an der Schule partizipieren könne. In Kindergärten wird fast jedes dritte Kind mit Diabetes von mehrtägigen Fahrten und jedes Fünfte von Ausflügen ausgeschlossen. In Grundschulen und weiterführenden Schulen sinkt der Anteil auf unter zehn Prozent. „Es kann nicht sein, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von Kindern mit Diabetes auch nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland nicht umsetzbar ist“, so Wendenburg.
Finanzielle und personelle Unterstützungsleistungen sind schwer zu beantragen und stellen Familien vor zusätzliche Herausforderungen: „In Deutschland gibt es keine bundesweit einheitliche Regelung, wie und wo Teilhabeleistungen für Kinder mit insulinpflichtigem Diabetes beantragt werden können“, erklärt Privatdozent Dr. med. Thomas Kapellen, Sprecher der AGPD. „Für Eltern und betreuende Diabetesteams ist es zunehmend schwieriger, entsprechende Hilfen zu organisieren, um einen Regelschulbesuch des Kindes zu ermöglichen.“ Sozialgerichtsurteile belegen, dass Eltern oft nur der Rechtsweg bleibe, um den Anspruch des Kindes auf gleichberechtigte Bildung umzusetzen. Denn in den meisten Fällen lehnen mögliche Rehabilitationsträger ihre Zuständigkeit für diese Art von Leistungen ab.
Die so genannte AMBA-Studie3, in der 1144 Fragebögen von bundesweit betroffenen Familien ausgefüllt wurden, zeigt darüber hinaus auf, wie weitreichend die psychosozialen Folgen der Diabetesdiagnose für Familien – insbesondere für Mütter – sind. „In Folge der Diabetesdiagnose reduzieren 39 Prozent der Mütter ihre Berufstätigkeit, zehn Prozent geben sie ganz auf“, führt Studienautorin Professor Dr. rer. nat. Karin Lange aus. Fast die Hälfte der Befragten erleide dadurch große finanzielle Einbußen. „Je früher ein Kind an Diabetes erkrankt, umso ausgeprägter sind die psychosozialen und finanziellen Folgen“, so die Leiterin der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Umfrage verdeutlicht, dass sich gegenüber vergleichbaren Daten aus 2004 die Belastungen noch verstärkt haben.
Auch aus medizinischer Sicht ist eine außerhäusliche altersgerechte Unterstützung unabdingbar. „Studien zeigen, dass schwere Unter-, aber auch langfristige Überzuckerungen, Defizite in der kognitiven Entwicklung von Kindern mit Diabetes zur Folge haben können“, warnt DDG Vizepräsident Professor Dr. med. Andreas Neu. „Kinder mit Diabetes sind in jedem Fall auf Therapieunterstützung in Kita und Schule angewiesen, da die Qualität der Stoffwechsellage wiederum ihre kognitive Entwicklung beeinflusst.“ Die jungen Menschen befänden sich also in einem Teufelskreis aus institutioneller Ausgrenzung und Mangelversorgung.
„Angesichts des dramatischen Zuwachses der jährlichen Diabetes-Neuerkrankungsrate von rund vier Prozent – besonders von Kleinkindern – ist diese Gesamtsituation alarmierend“, betont Neu. Denn mit dem damit verbundenen steigenden Betreuungsbedarf in Kindergärten und Grundschulen sei zu erwarten, dass immer mehr Eltern Versorgungslücken schließen müssen, was die Familie in hohem Maße belaste und sozial benachteilige.
Die DDG fordert ein bundesweites Gesetz und konkrete Finanzierungsmöglichkeiten auf Landesebene. Dies ermögliche den Bildungseinrichtungen, die Inklusion von Kindern mit Diabetes durch zusätzliches, institutionseigenes Personal zu gewährleisten. In anderen Ländern wie Schweden und den USA werde dies bereits erfolgreich umgesetzt. Wie die psychosoziale Versorgung von Menschen mit Diabetes in Deutschland verbessert werden kann ist Schwerpunkt des 4. Zukunftstages Diabetologie am 17. Oktober 2019 in Berlin.
Quelle: Presseinfo Deutsches Diabetes Gesellschaft