Jörg Maywald im Interview mit Tina Sprung
Fachkräfte sollten Kinderrechte nicht nur kennen, sondern diese auch im Kita-Alltag fest verankern. Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie benötigen besonderen Schutz.
- Die neue Bundesregierung möchte die Kinderrechte in die Verfassung aufnehmen. Warum ist es das so wichtig?
Das Grundgesetz und die Allgemeinen Menschenrechte gelten uneingeschränkt auch für Kinder, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Sie haben spezifische Bedürfnisse und brauchen besonderen Schutz. Beispiel sexueller Missbrauch durch Erwachsene: Auch wenn das Kind zustimmt, weil es nicht versteht, was da gerade passiert, muss es vor Missbrauch geschützt werden. Zwar ist das bereits im Strafgesetzbuch verankert, aber das besondere Schutzbedürfnis und der Vorrang des Kindeswohls müssen ins Grundgesetz. Auch die Rechte auf altersgerechte Beteiligung und auf bestmögliche Förderung sollten in die Verfassung aufgenommen werden.
- Was würde sich ändern, wenn wir die Kinderrechte im Grundgesetz verankern?
Bei Entscheidungen von Gerichten und Jugendämtern hätten Richter und Behördenmitarbeiter eine klare Pflicht: Sie müssten die Interessen des Kindes mit Vorrang berücksichtigen und die Kinder anhören. Das ist heute nicht in jedem Fall verpflichtend und wird in der Praxis häufig nicht umgesetzt. Zweitens würde sich die Gesellschaft der Kinderrechte bewusst werden. Das würde auch mittelfristig etwas an der Ausbildung der Fachkräfte und der Einstellung der Eltern ändern.
- Das Thema ist also in der Gesellschaft noch zu wenig angekommen?
Mein Eindruck ist, dass die Kinderrechte nur als allgemeines Thema angekommen sind. Fachkräfte, die meisten Eltern und selbst viele Kinder kennen sie. Rechte zu kennen, heißt aber nicht, diese auch zu verwirklichen. Davon sind wir in vielen Bereichen noch weit entfernt. Durch fehlendes pädagogisches Wissen aufgrund von Defiziten in der Ausbildung werden die Kinderrechte im Kita-Alltag oft nicht gelebt.
- Und wie können Fachkräfte die Kinderrechte im Alltag leben?
Das beginnt schon bei der Begrüßung. Wenn Fachkräfte zu den Kindern sagen: „Schön, dass du da bist“, sprechen sie das Kind als Persönlichkeit an. Wichtig ist auch, sich in Kinder hineinversetzen zu können, Fehlverhalten aus Sicht des Kindes zu verstehen, die Kinderrechte zu kennen und im Alltag abzuwägen. Beispiel Zähneputzen. Das Kind möchte seine Zähne nicht putzen. Die Fachkraft kann ihm aber nicht die Zahnbürste mit Gewalt in den Mund stecken, obwohl die Kinder das Recht auf bestmögliche Gesundheitsfürsorge haben. Wichtig ist in diesem Fall, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen, dass es schlecht für seine Gesundheit ist, wenn es seine Zähne nicht putzt.
- Ein anderes Beispiel aus der Kita: Das Kind will partout nur Nudeln essen, obwohl es Suppe zum Mittag gibt. Wie sollen sich pädagogische Fachkräfte hier verhalten?
Das Kind sollte selbst bestimmen können, ob es etwas ist und wieviel und was es von dem Angebotenen es isst. Es darf nicht zum Probieren gezwungen werden. Aber: Es kann nicht immer nur das Essen geben, das die Kinder wollen. Hier ist die Verantwortung der Erwachsenen gefragt, damit sich Kinder gesund ernähren. Die pädagogischen Fachkräfte sollten gute Vorbilder sein, gemeinsam mit den Kindern essen und über ihre eigenen Vorlieben sprechen. Zudem sollten Kinder in die Planung des Mittagessens einbezogen werden: „Was esst ihr gerne?“ „Was mögt ihr gar nicht?“ – natürlich immer unter der Berücksichtigung einer abwechslungsreichen Ernährung und finanziellen Aspekten.
- Was zeichnet eine kindgerechte Beteiligung aus?
Kinder sollten über die sie betreffenden Vorgänge informiert werden, sich dazu äußern können und nicht gezwungen werden, ihre Meinung zu sagen. Kinder können auch durch Mimik und Gestik ihre Meinung äußern. Wichtig ist, dass die Erzieher altersgerecht mit den Kindern sprechen, respektvoll mit ihnen umgehen und ihre Meinung altersgerecht berücksichtigen.
- Im Kita-Alltag kann durch personelle Engpässe oft die Zeit fehlen, Kinderrechte umzusetzen. Beispiel: Die Kinder gehen raus spielen, aber ein Kind benötigt besonders lange beim Anziehen, sodass die ganze Gruppe warten muss. Wie kann ein Erzieher damit im Stress umgehen?
Wenn die Fachkraft die Erfahrung gemacht hat, dass ein Kind länger braucht, sollte sie es früher zum Anziehen schicken und sagen: „Ich habe gestern bemerkt, dass du länger gebraucht hast, um dich anzuziehen. Geh‘ doch bitte schon einmal zum Anziehen.“ Wenn das Kind allerdings den Prozess des Anziehens durch Verweigerung absichtlich blockiert, wird diese Methode nicht funktionieren. Und wie sollte die Fachkraft dann reagieren? Das pädagogische Kunststück besteht dann darin, das Kind nicht zu bestrafen oder zu beschämen, sondern sachlich die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu benennen: „Ich sehe, dass du dich nicht anziehst, dann gehst du in eine andere Gruppe, solange wir draußen sind“. Nur so werden die Rechte der Kinder, die rausgehen wollen, und das Recht des einzelnen Kindes nicht verletzt. Die Herausforderung für Erzieher besteht darin, unterschiedliche Rechte gegeneinander abzuwägen und im besten Interesse aller Kinder zu handeln.
Zur Person
Prof. Dr. Jörg Maywald ist Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Honorarprofessor für Internationale Kinderrechte an der Fachhochschule Potsdam. Er kämpft seit Jahren dafür, Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen.
Quelle: Meine Kita – Das didacta Magazin für die frühe Bildung, Ausgabe 2/2018, S. 5-8, www.fruehe-bildung.online