Die Zahlen sind erschreckend: In 42 Prozent aller Familien in Deutschland mit Kindern von 0 – 10 Jahren wird heute kaum noch vorgelesen. In Familien mit türkischem Migrationshintergrund sind es, wie neueste Untersuchungen zeigen, sogar 80 Prozent, die ihren Kindern nicht regelmäßig vorlesen.
Dabei ist das gemeinsame Büchergucken und Vorlesen ein ganz entscheidender Nährboden für die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes. Hierbei werden die Grundlagen für den Erwerb der zentralen Schlüsselqualifikationen in unserer modernen Wissensgesellschaft, dem Lesen und Schreiben, gelegt.
Eine Vielzahl von Projekten und Initiativen widmet sich daher der Frage, wie man möglichst frühzeitig Eltern an das Vorlesen und Kinder an das Lesen heranführt. Zwei eng verwandte Beispiele sind die bundesweite Kampagne „Lesestart – Die Lese-Initiative für Deutschland“ und das Hamburger Modellprojekt „Buchstart“. Beide sind noch vor dem eigentlichen Vorlesen in der ersten Phase des Spracherwerbs angesiedelt und es geht hier um das gemeinsame Büchergucken. Bilderbücher erzählen noch keine Geschichten, aber sie bereiten den Weg zur Geschichte vor und bieten Wahrnehmungs- und Gesprächsanlässe, die wiederum das Sprechen lernen unterstützen. Außerdem natürlich wichtig in dieser Lebensphase: das Buch als physisches Objekt und Spielzeug: Begreifen, beknabbern, Beklopfen, Beschnuppern, Auf und zu klappen.
Ihr Vorbild haben beide Initiativen im britischen „Bookstart“-Modell, mit dem mittlerweile jährlich 2,1 Millionen Kinder in verschiedenen Altersstufen erreicht werden. Wie beim britischen Vorbild arbeiten auch die beiden deutschen Initiativen eng mit Kinderärzten zusammen.
Die bundesweite Kampagne „Lesestart“ hat im Sommer diesen Jahres begonnen und wird von der „Stiftung Lesung“ getragen und durch eine ganze Reihe von Sponsoren wie Amazon, Bertelsmann oder Gruner + Jahr finanziert. Binnen zweier Jahre sollen 500.000 Eltern bei der U6-Untersuchung ihres Kindes ein kostenloses, mehrteiliges Lesestart-Set erhalten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auch auf Familien mit Migrationshintergrund und so ist ein im Paket enthaltener „Vorleseratgeber“ auch ins Türkische und Russische übersetzt worden. Flankiert wird das Projekt durch Qualifizierungsangebote der „Stiftung Lesen“ für Eltern und Multiplikatoren in der Leseförderung.
Primäres Ziel von „Lesestart“ ist es, so Pressesprecherin Sabine Bonewitz, „gut ein Drittel aller Eltern von einjährigen Kindern in Deutschland zu erreichen und sie über die Bedeutung des Vorlesens zu informieren. Zugleich sollen Kinder mit allen Sinnen Bücher entdecken – sie fühlen, riechen, schmecken, mit ihnen spielen und sie im wahrsten Sinne des Worte zu ‚begreifen‘“. Derzeit machen bundesweit knapp 2/3 der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte bei der Aktion mit und schon jetzt sind alle in diesem Jahr zur Verfügung stehenden 250.000 Lesestart-Sets an sie verteilt. Begeistert von der Initiative zeigt sich der Kinder- und Jugendarzt Paul Volkwein aus dem hessischen Gelnhausen: „Die Eltern nehmen das Präsent mit sichtbarer Freude an und lassen sich in der so geschaffenen positiven Atmosphäre gerne in ein Gespräch über das Vorlesen verwickeln. Ungefragt kommentieren viele ihre eigene Einstellung zum Lesen. Andere wiederum nehmen erstaunt zu Kenntnis, wie früh man mit dem Vorlesen beginnen kann“.
Die positiven Rückmeldungen aus allen Teilen der Republik lassen Sabine Bonewitz auf eine nachhaltige Etablierung von „Lesestart“ auch nach der auf zwei Jahre begrenzten Projektlaufzeit hoffen. Hier versucht „Lesestart“ insbesondere die Länder mit in das (Förder-) Boot zu holen. Referenz-Modell ist hier der Freistaat Sachsen, der bereits im Winter 2006 das auf drei Jahre angelegte Vorläuferprojekt „Lesestart – Mit Büchern wachsen“ gestartet hat. Dieses wird vom Sächsischen Sozialministerium gemeinsam mit der Stiftung Lesen, dem Ravensburger Buchverlag und mit Unterstützung des Bundesfamilienministeriums durchgeführt. Hier erhalten Eltern nicht nur einmalig bei der U6-Untersuchung beim Kinderarzt ein Lesestart-Set, sondern auch eines zur U7, wenn das Kind zwei Jahre alt ist und ein drittes, fortführendes ab November 2008 in den sächsischen Bibliotheken.
So wie Sachsen ist auch schon der Stadt-Staat Hamburg einen Schritt weiter als die anderen Bundesländer: Hier werden die Gratisbuchpakete seit Januar 2007 bei der U 6-Untersuchung nahezu flächendeckend an alle Familien durch die Kinderärzte verteilt. Neben zwei altersgerechten Bilderbüchern enthalten diese Buchpakete auch medienpädagogische Anregungen für Eltern (auf Deutsch, Englisch, Türkisch und Dari), lokales Informationsmaterial sowie einen Gutschein der Bücherhallen Hamburg.
Das von der Kulturbehörde der Hansestadt initiierte und auch vom Verlagshaus Gruner + Jahr maßgeblich geförderte Projekt setzt ganz auf eine intensive sozialräumliche Vernetzung und auf die Kooperation mit bestehenden Initiativen, Einrichtungen und Anlaufpunkten für Familien. Das Buchpaket ist in Hamburg dabei nur der Türöffner für eine weiter reichende Förderung der Eltern sowie die Einbindung der Familien in die Bildungs-Institutionen und Möglichkeiten des Stadtteils. Gemeinsam mit den Bücherhallen, Elternschulen und anderen familiennahen Einrichtungen bietet Buchstart Hamburg deshalb "Gedichte für Wichte" an: offene wöchentliche Treffen für Kinder unter 3 Jahren und ihre Begleitung. Dort werden die Kinder mit Bewegungsliedern, Reimen, Fingerspielen und Bilderbüchern in die Welt der Sprache und der ersten Bilder eingeführt. Die Gruppen werden professionell angeleitet (einige davon mehrsprachig), sind kostenlos und der Einstieg ist jederzeit möglich.
Ziel ist es, so Annette Huber von Buchstart Hamburg, „mit Hilfe der Eltern von Anfang an die Sprachkompetenz der Kinder zu stärken und damit ihre sozialen Fähigkeiten und ihre Chancen im Bildungssystem zu erhöhen.“ Die Stärken des Hamburger Ansatzes sieht sie in der engen Zusammenarbeit der vielen beteiligten lokalen Partner: „Diese Kooperationen sind uns sehr wichtig, denn wir ergänzen und inspirieren uns gegenseitig". Der Erfolg gibt ihr Recht: Rund 18.000 Buchstart-Taschen werden in der Babyboom-Stadt Hamburg jährlich verteilt. Die Zahl der "Gedichte für Wichte"-Gruppen stieg von ursprünglich zwölf auf inzwischen 35, Tendenz immer noch steigend – und das, obwohl Buchstart nur das Konzept, Materialien und eine kostenlose Schulung zur Verfügung stellen kann. Die Finanzierung der Gruppe wird von den Einrichtungen getragen. „Es hat sich einfach sehr schnell unter den Eltern herumgesprochen, dass "Gedichte für Wichte" Spaß machen und den Kindern gut tun. Unsere Gruppen sind ein wichtiger neuer Baustein im bestehenden Angebot für die ganz Kleinen", sagt Projektleiterin Nina Kuhn und hofft, dass die Zahl der Gruppen bis Ende 2009 auf 50 steigt – um damit ganz Hamburg zu erreichen.
Inzwischen streckt „Buchstart“ auch seine Fühler nach Niedersachsen aus. Den Anfang machten hier die Stadt und der Landkreis Celle, wo das Projekt seit Anfang diesen Jahres läuft. Anfang nächsten Jahres wird das Modell vom Netzwerk Leseförderung Lüneburg e.V. (NLL) unter dem Slogan „Bücher für alle - von Anfang an“ auch in Stadt und Landkreis Lüneburg eingeführt. Unterstützt wird das Projekt hier durch die Ärzte und Kinderärzte, die öffentlichen Bibliotheken sowie das Regionalnetzwerk NordOst des nifbe.
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Quelle: Lesestart