Auf der fünften nifbe-Regionalkonferenz „Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung“ standen im Lingener Ludwig-Windthorst-Haus Themen wie die Pädagogische Professionalität in der Flucht- und Migrationsgesellschaft, die Mehrsprachigkeit, das Trauma sowie übergreifend die KiTa als sicherer Ort im Fokus.

IMG 4596In seinem Grußwort unterstrich Martin Gerenkamp, 1. Kreisrat im Landkreis Emsland, im Bezug zu Ludwig Windthorst die Bedeutung der Religionsfreiheit und die unhintergehbare Würde und Individualität jedes Menschen. Der Landkreis Emsland setze als vernetzte Bildungsregion konsequent auf die Integration durch Bildung. Das gelte auch für die mehreren Hundert Kinder mit Fluchterfahrungen, die im Emsland zu 75% in der KiTa und zu 25% in der Kindertagespflege angekommen seien. Für sie wie für alle anderen Kinder seien „gute Bildungsketten und gute Übergänge“ wichtig. Er freue sich, dass das nifbe in der Region eine „intensive und sensible Beschäftigung für die pädagogische Praxis mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung“ fördere und wichtige Impulse gebe.

"Vielfalt fördert! Vielfalt fordert!"

IMG 4597Nach dem Grußwort unterstrich Verena Sagrabelna vom Niedersächsischen Kultusministerium die Bedeutung der KiTa für eine Integration und für gleiche Bildungschancen von Anfang an. Im Sozialraum KiTa könne die Vielfalt tagtäglich er- und gelebt werden und so hätten viele Pädagogische Fachkräfte auch schon große Erfahrungen im Umgang mit Interkulturalität. Für die Aufnahme von Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in die KiTa seien allerdings noch „erweiterte Handlungskompetenzen“ notwendig. Zur Unterstützung der Praxis habe das Kultusministerium in Kooperation mit dem nifbe, der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung, dem Kindertagespflegebüro und dem Kinderschutzbund so auch die Qualifizierungsinitiative „Vielfalt fördert! Vielfalt fordert!“ initiiert, die aus zwei Säulen bestehe: Der Ausbildung von bis zu 200 MultiplikatorInnen und der Durchführung von zehn Regionalkonferenzen rund um das Thema Flucht. Über die auf nun 12 Millionen Euro verdoppelten Mittel für die Sprachförderung in den Städten und Kommunen könnten auch Fortbildungen zu den verschiedenen Aspekten des Umgangs mit Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in der KiTa durchgeführt werden.

"Kulturelle Brille wechseln"

IMG 4601In ihrem Auftaktvortrag umriss Dr. Berrin Özlem Otyakmaz zunächst die Lebensrealitäten der nach Deutschland geflüchteten Familien und ihrer Kinder. Diese seien insbesondere geprägt durch „zermürbend lange Wartezeiten in den Erstaufnahmeeinrichtungen mit unklarer Perspektive“. Die Unterkünfte würden „in keiner Weise“ den kindlichen Bedürfnissen gerecht, was zu einer hohen psycho-sozialen Belastung führe – und dies bei Kindern, die oftmals bereits durch ihre Flucht traumatisiert oder schwer belastet seien. In besonderer Weise bräuchten diese Kinder einen „strukturierten Alltag mit Routinen und Ritualen, geschützte Räume sowie ein kindgerechtes und entwicklungsförderndes Umfeld“. Daher sollten sie möglichst schnell in eine KiTa gehen. Wie alle anderen Kinder auch, hätten sie mit Vollendung des ersten Lebensjahres und ab der Asylantragstellung ein Recht darauf.

Otyakmaz stellte in der Folge die unterschiedlichen Entwicklung-, Erziehungs- und Sozialisationsvorstellungen von Eltern aus unterschiedlichen Kulturen vor. Kultur sei dabei nicht als Nation oder Ethnie zu verstehen, sondern als ein Überzeugungssystem, das aus der Anpassung an die jeweilige Lebensumwelt und sozio-ökonomischen Faktoren resultiere. Ein Beispiel für ganz unterschiedliche Erwartungen war dabei die Frage des alleine Schlafens von Kindern. Während deutsche Mittelschichtsmütter dies bereits ab einem Alter von drei Monaten für angemessen halten, lassen ländliche indische Mütter ihre Kinder bis zu einem Alter von sieben Jahren bei sich schlafen. auch beim eigenständigen Essen ergaben sich deutliche Unterschiede je nach Kultur.

Grundsätzlich stehe unser westliches aktuelles Bild vom Kind als kompetentes und eigenständiges Subjekt und Ko-Konstrukteur seiner eigenen Entwicklung teilweise konträr zu anderen kulturellen Auffassungen. Hier sei es wichtig, sich der jeweilige kulturellen Brille bewusst zu sein und nicht der Gefahr einer normativen Bewertung und einer defizitär-pathologischen Sichtweise zu erliegen.

An frühpädagogischen Konzepten für den Umgang mit kultureller Vielfalt hob Otyakmaz die „Vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung“ von Petra Wagner, den „Kultursensitiven Ansatz“ von Jörn Borke und Joscha Kärtner sowie den von einem europäischen Netzwerk entwickelten „DECET-Ansatz“ (DiversityDiversity|||||Im Deutschen wird der Begriff auch auch als Vielfalt benutzt und meint besonders, dass soziale Vielfalt konstruktiv genutzt wird. Im Diversity Management wird besonders auf eine positive Wertschätzung der individuellen Verschiedenheit eingegangen, um eine produktive Gesamtatmosphäre zu erreichen. in Early Childhood Education and Training) hervor. DECET gehe dabei über die einzelne Bildungseinrichtung hinaus und sei auf eine inklusiv-partizipatorisches Gemeinwesen ausgerichtet. Zentrale Prinzipien seien:

• Jede/r fühlt sich zugehörig
• Jede/r entwickelt die vielfältigen Aspekte seiner / ihrer Identität
• Alle lernen voneinander über kulturelle und andere Grenzen hinweg
• Jede/r beteiligt sich als aktiver Bürger
• Jede/r richtet sich gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierungen

Zur Dialektik und zum Dilemma der Differenz

IMG 4607Nach diesem visionären Ausblick in die Förderung der Vielfalt widmete sich Prof. Dr. Lisa Rosen von der Universität Osnabrück in einem Impulsvortrag dem pädagogischen Handeln in der Flucht- und Migrationsgesellschaft. Sie schärfte insbesondere den Blick für die „Dialektik der Differenz“, die zwischen den Polen der „Differenzblindheit“ und der „Differenzfixierung“ hin und her pendele. Kommunikation mit geflüchteten Familien und ihren Kindern finde in einem komplexen Feld aus „Machtasymmetrie, dem jeweiligen Kulturellen Skript, Kollektiverfahrungen und Fremdbildern“ statt. Hier sei in jeder Situation von neuem eine „hohe Reflexionskompetenz“ der pädagogischen Fachkräfte gefragt.

„KiTas müssen zu einem sicheren Ort für geflüchtete Kinder werden“, unterstrich Rosen. Sie müssten „Struktur und Halt“ geben sowie „Zugehörigkeit vermitteln ohne Differenz herzustellen“. Abschließend wies sie, auch um die Fachpraxis vor allzu großen (Selbst-) Ansprüchen zu entlasten, darauf hin, dass wir „Politik nicht durch Pädagogik ersetzen können“ - und in diesem Sinne von Rahmenbedingungen abhängig seien.

Mehrsprachigkeit als Normalität

IMG 4612Die Mehrsprachigkeit stand im Fokus eines zweiten Impulsvortrages von Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou. Diese, so führte sie aus, werde zwar zunehmend anerkannt, aber eine mehrsprachige Praxis in der KiTa sei noch lange nicht selbstverständlich – und dies obwohl nach einer Studie 63% der 4-5jährigen Kinder mit Migrationshintergrund zu Hause überwiegend nicht Deutsch sprächen. Gerade für geflüchtete Kinder sei die Sprache auch oftmals das Einzige, was sie noch aus der Heimat besäßen und müsste entsprechend wertgeschätzt und gefördert werden.

Sehr kritisch nahm Panagiotopoulou die „fehlende Wirksamkeit der bisherigen Sprachförderung“ in den Blick. So hätten die wenigen vorhandenen Evaluationen gezeigt, dass eine „kompensatorische“ Sprachförderung in isolierten Settings „keine oder nur geringe Effekte“ habe. Positive Effekte habe dagegen eine alltagsintegrierte Sprachförderung in der KiTa, wie zum Beispiel das dialogische Bilderbuchlesen. Diese müsse aber zukünftig „systematisch und authentisch um die mehrsprachige Dimension“ erweitert werden. „Mehr- und Quersprachigkeit muss in der KiTa zur Normalität werden“, forderte Panagiotopoulou abschließend.

In vier Workshops wurden im Anschluss die Themen der Haupt- und Impulsvorträge vertieft und weitere Aspekte zum Thema Kinder und Familien mit Fluchterfahrung wie „Traumatisierung“ oder der „Ressourcenorientierte Umgang mit Familien mit Fluchterfahrung“ vorgestellt und diskutiert.


Präsentation Prof. Dr. Lisa Rosen

Präsentation Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou