Wie nifbe-Vorstand Dieter Wuttig zur Begrüßung ausführte, sollen die Konferenzen die Praxis der Kindertagesbetreuung bei dieser aktuellen Herausforderung unterstützen und ihr Wissen und Orientierung vermitteln. Mit Blick auf die wichtige Integrationsarbeit in KiTa und Kindertagespflege stellte er dem Merkel-Satz „Wir schaffen das!“ ein tatkräftiges „Wir machen das!“ zur Seite. Er unterstrich die im Grundgesetz verankerte „unantastbare Würde des Menschen“ und in diesem Sinne gelte es, die geflüchteten Kinder zu stärken und zur Eigenständigkeit zu führen – „und dies nicht nur aus humanitärer, sondern auch gesamtgesellschaftlicher Sicht“.
Ute Klingemann vom Niedersächsischen Kultusministerium hob die KiTa als „Schlüssel für die Integration und eine erfolgreiche Bildungsbiographie“ der Kinder mit Fluchthintergrund heraus. Es gelte „gleiche Bildungschancen für alle Kinder“ zu realisieren und die soziale und kulturelle Vielfalt dabei als entwicklungsfördernd zu sehen. Als zentrale Herausforderungen benannte sie ein „mehr an Plätzen, ein mehr an Qualifizierung und ein mehr an Wissen und Handlungskompetenzen“. Zur Unterstützung der Praxis habe das Kultusministerium in Kooperation mit dem nifbe, der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung, dem Kindertagespflegebüro und dem Kinderschutzbund so auch die Qualifizierungsinitiative „Vielfalt fördert! Vielfalt fordert!“ initiiert, die aus zwei Säulen bestehe: Der Ausbildung von bis zu 200 MultiplikatorInnen und der Durchführung von zehn Regionalkonferenzen rund um das Thema Flucht. Über die auf nun 12 Millionen Euro verdoppelten Mittel für die Sprachförderung in den Städten und Kommunen könnten auch Fortbildungen zu den verschiedenen Aspekten des Umgangs mit Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in der KiTa durchgeführt werden.
Blick in die Lebensrealitäten von Kindern mit Fluchterfahrung
In ihrem Auftaktvortrag umriss Dr. Berrin Özlem Otyakmaz zunächst die Lebensrealitäten der nach Deutschland geflüchteten Familien und ihrer Kinder. Diese seien insbesondere geprägt durch „zermürbend lange Wartezeiten in den Erstaufnahmeeinrichtungen mit unklarer Perspektive“. Die Unterkünfte würden „in keiner Weise“ den kindlichen Bedürfnissen gerecht, was zu einer hohen psycho-sozialen Belastung führe – und dies bei Kindern, die oftmals bereits durch ihre Flucht traumatisiert oder schwer belastet seien. In besonderer Weise bräuchten diese Kinder einen „strukturierten Alltag mit Routinen und Ritualen, geschützte Räume sowie ein kindgerechtes und entwicklungsförderndes Umfeld“. Daher sollten sie möglichst schnell in eine KiTa gehen. Wie alle anderen Kinder auch, hätten sie mit Vollendung des ersten Lebensjahres und ab der Asylantragstellung ein Recht darauf. Ein Problem seien allerdings die „zu geringen Betreuungskapazitäten“ - und eine Familie mit Fluchthintergrund würde wohl kaum einen Betreuungsplatz einklagen.Vision ein inklusiven und partizipativen Gemeinschaft
Otykmaz gab in der Folge einen Überblick über die im Laufe des Jahres entstandenen frühpädagogischen Unterstützungsangebote wie Handreichungen, Praxishilfen, Materialien, Fachtagungen oder Weiterbildungen. Viele der Inhalte und pädagogischen Ansätze seien aber nicht ganz neu und schon vielerorts Praxis. An frühpädagogischen Konzepten für den Umgang mit Vielfalt hob sie die „Vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung“ von Petra Wagner, den „Kultursensitiven Ansatz“ von Jörn Borke und Joscha Kärtner sowie den von einem europäischen Netzwerk entwickelten „DECET-Ansatz“ (Diversity in Early Childhood Education and Training) hervor. DECET gehe dabei über die einzelne Bildungseinrichtung hinaus und sei auf eine inklusiv-partizipatorisches Gemeinwesen ausgerichtet. Zentrale Prinzipien seien:- Jede/r fühlt sich zugehörig
- Jede/r entwickelt die vielfältigen Aspekte seiner / ihrer Identität
- Alle lernen voneinander über kulturelle und andere Grenzen hinweg
- Jede/r beteiligt sich als aktiver Bürger
- Jede/r richtet sich gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierungen
Zur Dialektik und zum Dilemma der Differenz
Nach diesem visionären Ausblick in die Förderung der Vielfalt widmete sich Prof. Dr. Lisa Rosen von der Universität Osnabrück in einem Impulsvortrag dem pädagogischen Handeln in der Flucht- und Migrationsgesellschaft. Sie schärfte insbesondere den Blick für die „Dialektik der Differenz“, die zwischen den Polen der „Differenzblindheit“ und der „Differenzfixierung“ hin und her pendele. Kommunikation mit geflüchteten Familien und ihren Kindern finde in einem komplexen Feld aus „Machtasymmetrie, dem jeweiligen Kulturellen Skript, Kollektiverfahrungen und Fremdbildern“ statt. Hier sei in jeder Situation von neuem eine „hohe Reflexionskompetenz“ der pädagogischen Fachkräfte gefragt.„KiTas müssen zu einem sicheren Ort für geflüchtete Kinder werden“, unterstrich Rosen. Sie müssten „Struktur und Halt“ geben sowie „Zugehörigkeit vermitteln ohne Differenz herzustellen“. Abschließend wies sie, auch um die Fachpraxis vor allzu großen (Selbst-) Ansprüchen zu entlasten, darauf hin, dass wir „Politik nicht durch Pädagogik ersetzen können“ - und in diesem Sinne von Rahmenbedingungen abhängig seien.
Mehrsprachigkeit als Normalität
Die Mehrsprachigkeit stand im Fokus eines zweiten Impulsvortrages von Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou. Diese, so führte sie aus, werde zwar zunehmend anerkannt, aber eine mehrsprachige Praxis in der KiTa sei noch lange nicht selbstverständlich – und dies obwohl nach einer Studie 63% der 4-5jährigen Kinder mit Migrationshintergrund zu Hause überwiegend nicht Deutsch sprächen.Sehr kritisch nahm Panagiotopoulou die „fehlende Wirksamkeit der bisherigen Sprachförderung“ in den Blick. So hätten die wenigen vorhandenen Evaluationen gezeigt, dass eine „kompensatorische“ Sprachförderung in isolierten Settings „keine oder nur geringe Effekte“ habe. Positive Effekte habe dagegen eine alltagsintegrierte Sprachförderung in der KiTa, wie zum Beispiel das dialogische Bilderbuchlesen. Diese müsse aber zukünftig „systematisch und authentisch um die mehrsprachige Dimension“ erweitert werden. „Mehr- und Quersprachigkeit muss in der KiTa zur Normalität werden“, forderte Panagiotopoulou abschließend.
"Produktive Verunsicherung"
In drei Workshops wurden im Anschluss die Themen der Referentinnen vertieft und intensiv mit den PraktikerInnen diskutiert, die ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen im Umgang mit Kindern mit Fluchterfahrung beisteuerten. In einem vierten Workshop stellte Jutta Spacek von der Kinderschutz-Akademie in Niedersachsen, pädagogische Ansätze für den Umgang mit traumatisierten Kindern in der KiTa vor. Zudem stellten sich die Hannoveraner Familienzentren und das Rucksack- und Griffbereit-Projekt den TeilnehmerInnen vor.Die Diskussionen und der Austausch auf der Auftaktkonferenz zeigten in aller Deutlichkeit, dass der Umgang mit Vielfalt eine hohe Sensibilität und Selbstreflexion der pädagogischen Fachkräfte erfordert. Durchaus entstanden bei einigen KiTa-Leitungen und FachberaterInnen auch Irritationen und, wie Lisa Rosen es formulierte, „produktive Unsicherheiten“ im Hinblick darauf, „was man jetzt tun soll und was nicht“. So gab die Konferenz auch Impulse für eine weitere intensive Auseisandersetzung mit dem Thema und für eine neue (Selbst-) Vergewisserung.