Interview mit Prof. Dr. Heidi Keller
In einer kleinen Interviewreihe möchte das nifbe die aktuelle Herausforderung durch die nun verstärkt auch in den KiTas ankommenden Kinder und Familien mit Fluchterfahrung aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Den Auftakt macht im Gespräch mit Karsten Herrmann Prof. Dr. Heidi Keller, die dafür plädiert, kulturelle Vielfalt ernst zu nehmen und tatsächlich als Chance und Bereicherung zu sehen. Sie kritisiert zugleich unseren westlichen Ego- und Ethnozentrismus, der sich in der Kita zum Beispiel bei den gängigen Eingewöhnungsmodellen festmacht.
In der Folge werden nifbe-Direktorin Prof. Dr. Renate Zimmer und Prof. Dr. Claudia Solzbacher Themen wie Selbstwirksamkeit und Selbstkompetenzen, die Sprachförderung und die Rolle der Haltung der Pädagogischen Fachkräfte im Hinblick auf Kinder mit Fluchterfahrungen in der KiTa in den Blick nehmen.
- Ein zentrales Thema in der deutschen Elementarpädagogik ist seit Monaten der Umgang mit Familien und Kindern mit Fluchterfahrung in den KiTas. Dies wird immer wieder als große und neue Herausforderung beschrieben. Zu Recht oder ist vieles an diesem Thema gar nicht so neu wie es zunächst erscheint?
Neu ist das Thema mit Sicherheit nicht, denn im Kern geht es hier um die Frage der Interkulturalität. Diese stellt sich ja schon seit vielen Jahren in den meisten KiTas im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund, die mittlerweile im Durchschnitt schon rund ein Drittel der Kinder stellen – mit zunehmender Tendenz!
Allerdings hat man die Bedeutung kultureller Unterschiede in der Entwicklung und Erziehung von Kindern lange Zeit nicht ernst genommen und tut es teilweise immer noch nicht. Da muss man nur in die Bildungs- und Orientierungspläne schauen, in denen Kultur über weite Strecken nicht als gelebter Alltag, sondern ausschließlich unter ästhetisch-künstlerischer Perspektive auftaucht.
Neu ist sicherlich die spezifische Belastungssituation, denen Kinder und Familien auf der Flucht ausgesetzt waren und die vermutlich bei vielen nicht ohne Spuren geblieben ist. Es wird ja in diesem Zusammenhang viel von Traumatisierung gesprochen und gerade auch hier ist das Wissen um kulturelle Erlebens – und Verhaltensweisen entscheidend, denn die Wirkweise und Verarbeitung von Traumata ist natürlich auch abhängig von der kulturellen Identität.
Das Grundproblem ist, dass wir in unserer westlichen Kultur sehr ego- und ethnozentrisch sind und glauben, dass die Welt überall so funktioniert, wie wir sie sehen.
- Der Umgang mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung in den KiTas ist im Kern also eine Frage der Interkulturellen Kompetenz. Was sind aus Ihrer Sicht deren Basics?
Wir definieren die Interkulturelle Kompetenz als eine Trias aus Wissen, Haltung und Können. Wissen über kulturelle Unterschiede ist die Grundlage und in meinen Fortbildungen haben die Pädagogischen Fachkräfte immer wieder Aha-Erlebnisse, wenn sie hören, wie unterschiedlich die Entwicklungs-, Erziehungs- und Sozialisationsziele von Eltern auf der Welt sein können. Und alle haben dabei ihre Berechtigung. Es gibt nicht die eine beste Methode ein Kind großzusehen, denn die Entwicklungsziele sind unterschiedlich. Man muss sich also immer darüber bewusst sein, dass man selbst eine bestimmte kulturelle Brille aufhat, durch die andere vielleicht nicht so gut sehen können.
- Reicht schon das Bewusstsein aus, dass die Vorstellungen immer auch anders und zugleich auch richtig sein können oder brauchen Pädagogische Fachkräfte detaillierte Kenntnisse darüber, wie was in welcher Kultur bedeutet?
Es gibt natürlich eine unglaubliche Fülle kultureller Unterschiede, aber es gibt es auch grundlegende Dimensionen, die sich gut eignen, eine Ordnung in die Vielfalt zu bringen. Eine solche Dimension ist, ob man die Welt aus einer individuellen Perspektive sieht, d.h. also was mir gefällt, was ich will, was ich entscheide hat Priorität - oder ob man die Welt aus einer gemeinschaftlichen Perspektive sieht, wie es z.B. ein afrikanisches Sprichwort sagt: Ich bin weil wir sind! Mit diesen grundlegenden Orientierungen sind ganz unterschiedliche Werte, Normen und Verhaltensweisen verbunden.
Im Hinblick auf die Haltung ist es wichtig, dass wir uns darüber bewusst werden, wie unsere eigene Kultur funktioniert und wie tief sie uns prägt. Das uns Selbstverständliche muss also zunächst einmal hinterfragt und aufgedeckt werden. Und das betrifft alle Lebensbereiche. Wir haben z.B. alle einen persönlichen Raum und es ist kulturell bedingt, wie nah wir andere an uns heranlassen. Stellen Sie sich z.B. vor, Sie sitzen mit einem Bekannten in einem Café zusammen und trinken Kaffee. Schieben Sie nun Ihre Tasse einfach einmal nah an die Tasse Ihres Bekannten. Und schauen Sie, was passiert! Wir müssen also verstehen, dass andere Menschen grundsätzlich anders ticken und anderes für wichtig, richtig und gut halten. Das müssen wir selber dann nicht gut finden, aber so geht es anderen eben auch mit uns. Interkulturelle Kompetenz bedeutet, dass wir diese Unterschiede zunächst einmal akzeptieren und nicht bewerten.
Wir sollten diese Vielfalt ernst nehmen und tatsächlich als Chance und Bereicherung sehen. Das wird zwar vielerorts propagiert, aber in der Realität kaum umgesetzt. Menschen mit multikultureller Identität sind kognitiv flexibler, können in verschiedenen Systemen denken und haben damit das Rüstzeug in dem von Globalisierung geprägten Alltag gut zurecht zu kommen. Menschen können sehr gut mehrere Sprachen haben und Identitäten leben. Menschen, die ihre kulturelle Identität und Ihre Sprache aufgeben, sind weniger gut integriert, sie haben einen niedrigeren Bildungsabschluss, sind häufiger arbeitslos, und es geht Ihnen insgesamt weniger gut. Das Erhalten der eigenen Kultur und der eigenen Sprache ist für Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung also ein starker protektiver Faktor.
- Was verstehen Sie nun unter dem dritten Begriff Ihrer Trias, dem Können?
Da geht es darum, dass Pädagogische Fachkräfte in der KiTa nicht nur ein eindimensionales pädagogisches Credo verfolgen, sondern Lern- und Entwicklungsangebote schaffen, die für Kinder aus verschiedenen Kulturen passen. So sind Kinder aus anderen Kulturen beispielsweise zunächst oft überfordert, wenn sie sich - wie unter anderem in den Offenen Konzepten üblich - entscheiden müssen, was sie tun möchten. Wir brauchen Alternativen zwischen verbindlich strukturierten und offenen Angeboten.
- Sehr deutlich werden kulturelle Unterschiede auch beim Thema Bindung und Eingewöhnung in der Kita. Wo sehen Sie hier mögliche Konflikte?
Das ist genau der Punkt, an dem die Konflikte zur Zeit am deutlichsten werden. Unsere Bindungs- und Eingewöhnungskonzepte wie zum Beispiel das Berliner Modell sind auf unsere westliche Mittelstandsgesellschaft ausgerichtet und passen teilweise noch nicht mal auf deutsche Familien, die nicht aus der Mittelschicht stammen. Noch viel weniger passen sie zu Familien aus Kulturen, in denen nicht die Mutter das kindliche Universum reguliert, sondern wo Kinder von verschiedenen Personen, meist Geschwistern, erzogen werden - und Varianten eben dieses Modells praktiziert die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung. Sehr viele Kinder haben etwa ab dem Alter von 1 – 2 Jahren kaum noch Kontakt zu Erwachsenen. Wenn dann plötzlich die ganze Zeit die Mutter während der Eingewöhnung präsent ist, hat das für das Kind eher etwas Beunruhigendes und Beängstigendes. Das unterschätzt man ebenso wie man auch die Ressource der anderen Kinder und der Peer-Interaktionen in der Kita (nicht nur) für die Eingewöhnung völlig unterschätzt.
- Welche Rolle spielt die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit Eltern bei der Interkulturellen Kompetenz?
Die Zusammenarbeit mit der Familie ist zentral. Wir denken natürlich, dass es immer die Eltern sein müssen, mit denen die Kita die Erziehungspartnerschaft eingeht. In vielen Kulturen sind aber andere Personen die Ansprechpartner, z.B. die Großmutter, Tanten, ältere Geschwister. Das ist natürlich hier in Deutschland nicht immer möglich, wenn die Familie verstreut ist und nicht zusammen lebt. Auch das ist eine Herausforderung, die zu bewältigen ist, wenn die sozialen Strukturen aufgebrochen sind und die vertrauten und stabilisierenden Umgangsformen nicht mehr möglich sind. Interkulturelle Kompetenz bedeutet in jedem Fall, sich mit anderen Familienmodellen und anderen Verantwortlichkeiten auseinander zu setzen und sie in die pädagogische Arbeit mit ein zu beziehen. Um hier kompetent agieren zu können, bedarf es auch anderer Ausbildungs- und Weiterbildungsinhalte, als die derzeit vermittelten.
- Schätzungen zufolge sind 40 – 50% der zu uns kommenden Kinder mit Fluchterfahrung traumatisiert. Was halten Sie von diesen Zahlen und was raten Sie KiTas im Hinblick auf dieses in den letzten Monaten sehr intensiv diskutierte Thema?
Die Zahlen kann ich nicht einschätzen. Mit Sicherheit haben aber die meisten Kinder, die über Land und Wasser nach Deutschland geflüchtet sind, Schreckliches und Belastendes erlebt. Aber ihr Umgang mit diesen Belastungssituationen und deren Verarbeitung ist wiederum auch stark kulturell geprägt. Wir sollten daher aufpassen und vermutliche Belastungsstörungen nicht einfach nach westlichen Lehrmeinungen einordnen und therapieren, denn da können wir leicht noch größeren Schaden anrichten. Es gibt aber natürlich auch Behandlungsansätze und Traumatherapien aus nicht westlicher Perspektive. Dieses Wissen muss für den deutschen Kontext aufgearbeitet und in Strategien umgesetzt werden. Das kann allerdings nicht die Aufgabe von ErzieherInnen sein. Für die Arbeit in der Kita ist es wichtig, Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln – allerdings nicht nach dem westlichen Modell. Da sind wir dann wieder bei der pädagogischen Trias.
Tipp zum Weitelesen:
nifbe Themenschwerpunkt Kinder mit Fluchterfahrung