Musikalische Begabung fördern

Hinweise für Eltern und pädagogische Fachkräfte

Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, musikalische Begabungen zu erkennen und zu fördern. Dabei geht es weniger um die Entdeckung und Förderung musikalischer „Wunderkinder“, sondern um eine allgemeine Sensibilisierung von Eltern und pädagogischen Fachkräften für das Thema der musikalischen Begabungsförderung. Praktische Hinweise zu einzelnen Themen sollen Hilfestellungen für die pädagogische Praxis geben. Ein Anspruch auf Vollständigkeit zu den angesprochenen Themen besteht nicht.

Was ist musikalische Begabung?

Musikalische Begabung lässt sich nicht direkt beobachten oder messen. Sie ist ein theoretisches Konstrukt, das dazu dient, z.B. hervorragende Leistungen auf einem Musikinstrument oder Unterschiede in musikalischen Leistungen zu erklären. Beispielsweise spricht man oft von (hoher) musikalischer Begabung, wenn jemand auf einem Instrument hervorragend spielt. Was man aber unter „hervorragender Leistung“ versteht, ist vielfach auch eine Definitionsfrage und damit relativ. Eine einheitliche und allgemein gültige Definition musikalischer Begabung existiert (auch in der Wissenschaft) nicht. Es gibt auch Menschen, die von sich oder anderen behaupten, sie seien überhaupt nicht musikalisch begabt. Tatsächlich aber gibt es keine völlig unmusikalischen Menschen, genauso wenig, wie es keine unintelligenten Menschen gibt.

Es gibt keine unmusikalischen Menschen

Jeder Mensch besitzt eine ausbildungsfähige und ausbildungswürdige musikalische Begabung, so wie jeder Mensch auch Intelligenz und geistige Fähigkeiten besitzt. Sehr unterschiedlich kann jedoch das Maß an musikalischer Begabung sein, über das Menschen verfügen. Die meisten Menschen besitzen ein mittleres Maß an musikalischer Begabung. Nur sehr wenige sind hochbegabt, umgekehrt gibt es nur sehr wenige, die kaum musikalisch begabt sind. Im Unterschied zum Bereich der allgemeinen Intelligenz, wo man dann von Hochbegabung spricht, wenn im Intelligenztest Werte von 130 IQ-Punkten und mehr erreicht werden, gibt es keine entsprechenden „objektiven“ oder anerkannten Maßstäbe im Bereich der musikalischen Begabung. Zwar gibt es auch Musikalitätstests, sie erlauben aber nur in sehr eingeschränktem Maße Aussagen über den Grad der musikalischen Begabung, weil sie sich ausschließlich auf die Messung musikalischer Hörfähigkeiten beschränken. Allgemein kann man sagen, dass musikalische Begabung das individuelle Potenzial ist, Musik emotional zu erleben, geistig zu verstehen und Musik (mit der eigenen Stimme oder einem Instrument) zu (re)produzieren bzw. zu komponieren. Diese Fähigkeit zur musikalischen Betätigung entsteht aus dem Zusammenspiel von angeborenen Anlagen, Umwelteinwirkungen (z.B. Erziehung, Bildung, musikalischen Erfahrungen) und selbstgesteuerten Aktivitäten (z.B. Üben). Jeder Mensch wird mit dieser Fähigkeit zur Musik geboren, genauso wie wir mit der Fähigkeit zur Sprache geboren werden. Wenn in der Alltagssprache von musikalischer Begabung oder musikalischem Talent die Rede ist, sind oft Menschen mit einem besonders hohen Maß an musikalischer Begabung gemeint. Dadurch vergessen wir leicht, dass jeder Mensch musikalische Begabung besitzt, auch wenn diese sehr unterschiedlich sein kann.

Die Entfaltung musikalischer Begabung ist von Umwelt und Übung abhängig

Inwieweit und in welche Richtung das Potenzial zum Musikerleben und Musikmachen entwickelt werden kann, hängt wesentlich von der jeweiligen Person selbst, ihren Interessen, Motivationen und der jeweiligen kulturellen und sozialen Umgebung ab.

Je reichhaltiger und anregender eine kulturelle Umgebung ist, je mehr Fördermöglichkeiten sie bietet, umso besser können sich musikalische Begabungen entfalten. Einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung musikalischer Begabung hat auch die Übung. Hohe musikalische Leistungen können ohne Übung nicht erreicht werden, auch wenn Begabung vorhanden ist. Man sollte auch beachten, dass es nicht nur einen einzigen, sondern verschiedene Bereiche musikalischer Begabung geben kann. So gibt es Menschen, deren (besondere) Begabung sich beim Spielen eines Musikinstrumentes zeigt, bei anderen vielleicht in Komposition oder Improvisation.

Warum musikalische Begabung fördern?

Die Fähigkeit zur Musik ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit, die zum Wesen des Menschen gehört. Schon die frühesten Dokumente der Menschheit weisen nach, dass die Menschen seit rzeiten Musikinstrumente gebaut haben. Es gibt keine Kultur auf der Erde, die ohne Musik auskommt, sie ist für den Menschen offenbar unverzichtbar. Die Förderung musikalischer Begabung trägt dazu bei, am Kulturgut Musik teilzuhaben, es weiter zu tragen und weiter zu entwickeln. Musik ist Kommunikation, in der Musik drückt der Mensch sich aus, in ihr findet er sich wieder. Für den einzelnen Menschen bedeutet die Teilhabe an der Musik kulturelle Identität, Orientierung, Lebenshilfe und Gewinn an Glück. Durch die Förderung musikalischer Begabung, insbesondere des aktiven Musizierens, können diese Dimensionen der Musik in ihrer vollständigen Tiefe und Breite ausgeschöpft und weiterentwickelt werden. Für die Tradierung und Weiterentwicklung der Musikkultur in ihrer gesamten Vielfalt ist die Förderung musikalischer Begabung unerlässlich, denn die Kinder von heute sind die Kulturträger von morgen.

Wann musikalische Begabungen fördern?

Die Förderung musikalischer Begabungen ist zu jedem Zeitpunkt des Lebens möglich. Musikalisches Lernen und musikalische Entwicklung kann prinzipiell die gesamte Spanne des Lebens vom Säugling bis zum älteren Menschen umfassen. Für künftige Berufsmusiker, von denen hohe Leistungen erwartet werden, ist meist eine frühzeitige Entdeckung und kontinuierliche Förderung musikalischer Begabung über viele Jahre unerlässlich. Je früher die Förderung einsetzt, umso besser.

Aber die Förderung musikalischer Begabung ist nicht nur für künftige Musiker/innen wichtig, sondern auch für Menschen, die Freude an der Musik und am praktischen Musizieren haben. Denn in jungen Jahren fällt auch das musikalische Lernen leichter. Prägende musikalische Erfahrungen und richtungsweisende Entwicklungsprozesse vollziehen sich in der Regel in den Schuljahren. Darum ist auch eine frühzeitige Förderung wichtig, um nicht nur eine optimale Entfaltung der Begabungen, sondern auch eine möglichst enge Verbindung mit der Gesamtentwicklung der Persönlichkeit herzustellen. Das bedeutet nicht, dass musikalische Förderung in späteren Jahren nicht sinnvoll ist. Im Gegenteil; nur liegen der Förderung musikalischer Begabungen im Erwachsenenalter andere Motivationen und Ziele zugrunde.

Heute gibt es Angebote zum musikalischen Lernen für fast alle Altersstufen. Da nachgewiesen ist, dass Hören und musikalisches Lernen bereits einige Wochen vor der Geburt möglich ist, versuchen manche Eltern, die Entwicklung ihrer noch ungeborenen Kinder bereits während der Schwangerschaft durch das Vorspielen von Musik zu fördern. Die Wirkung und der Nutzen sind allerdings wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Andererseits schadet das Vorspielen von Musik während der Schwangerschaft nach bisherigen Erkenntnissen auch nicht.
Für Säuglinge, Kleinkinder und Kinder im Schul- und Vorschulalter gibt es verschiedene Programme der musikalischen Förderung. Sie werden von öffentlichen und privaten Musikschulen angeboten. Für die Förderung musikalischer Begabungen im Erwachsenenalter und höheren Alter existieren weitaus weniger Programme. Dennoch wird dieser Bereich in Zukunft wohl immer wichtiger werden, weil es aufgrund der allgemeinen Entwicklung der Bevölkerungszahlen immer weniger Kinder und Jugendliche, dafür aber immer mehr ältere Menschen gibt, die auch musikalisch- kulturelle Interessen, Bedürfnisse und Ansprüche haben und diesen nachgehen wollen.

Woran erkennt man besondere musikalische Begabung?

Musikalische Hochbegabung zeigt sich meist sehr früh. Es gibt eine Reihe von Verhaltensweisen, die man an musikalisch besonders begabten Kindern beobachten kann. Die in der folgenden Liste aufgeführten Eigenschaften geben einige allgemeine Hinweise. Nicht alle Menschen, die tatsächlich besonders begabt sind, müssen zwangsläufig alle diese Merkmale gleichzeitig zeigen. Aus diesen Gründen bedürfen solche Checklisten einer gewissen Vorsicht. Manche Forscher raten sogar ausdrücklich vom Gebrauch von Checklisten zur Identifikation von Hochbegabung ab (Rost & Schilling 1999, S. 25). Dennoch können sie als grobe Anhaltspunkte hilfreich sein und dazu beitragen, die Aufmerksamkeit für besondere musikalische Begabungen zu schärfen. Genaueren Aufschluss gibt ohnehin erst eine längere Beobachtung und Beurteilung durch erfahrene Lehrkräfte und Musiker/innen.

Merkmale (besonderer) musikalischer Begabung
  • Ein starkes Bedürfnis nach Musik und musikalischem Lernen
  • Starkes Interesse an Musik und Klängen
  • Starkes Bedürfnis, sich musikalisch auszudrücken
  • Starker musikalischer Darstellungsdrang
  • Innere Motivation, sich mit Musik zu beschäftigen
  • Leichtes und richtiges Nachsingen bzw. Nachspielen von Melodien und Rhythmen
  • Schon im Vorschulalter richtiges, sauber intoniertes und ausdrucksvolles Singen von Liedern
  • Bereits im Vorschulalter großes Repertoire an Liedern
  • Erfinden von originellen neuen Melodien, Rhythmen und Liedern
  • Besonders gute Merkfähigkeit für Musik
  • Hervorragende musikalische Hörfähigkeiten (Melodie, Rhythmus, Harmonie, Klang)
  • Hohes musikalisches Einfühlungsvermögen und Verständnis für Musik
  • Selbständiges und unabhängiges Erarbeiten von Musik
  • Psychomotorisches Geschick beim Erlernen eines Instruments
  • Hingebungsvolles Verfolgen musikalischer Ziele
  • Schnelles und leichtes Erlernen eines Instruments in frühem Alter
  • Hoher technischer und musikalischer Leistungsstand auf einem Instrument in frühem Alter
  • Eigener, für die Altersstufe mitunter ungewöhnlicher Musikgeschmack
  • Früher Zugang auch zu schwieriger, komplexer Musik
  • Wissbegierde und starkes Informationsbedürfnis über Musik
  • Ausdauer in der musikalischen Beschäftigung
  • Musikalische Neugier und starkes musikalisches Interesse
  • Bereitschaft zur Anstrengung beim musikalischen Lernen und Üben
  • Musikalischer Gestaltungswille
  • Engagement für musikalische Ziele
  • Hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit auf Musik
  • Völliges Aufgehen im Musikhören und im Musizieren
  • Ungewöhnliche Kreativität im Erfinden (Komponieren, Improvisieren) und Nachspielen (Interpretieren) von Musik
  • Streben nach Perfektion beim Musizieren
  • Neigung zur selbstkritischen Betrachtung

Was kann man im Elternhaus tun, um musikalische Begabung zu fördern?

Musikalische Förderung beginnt im Elternhaus. Dabei müssen die Eltern keineswegs selbst Musiker sein oder ein Instrument spielen. Wichtig ist aber, dass die Eltern selbst ein echtes Interesse an Musik haben. Ihr Interesse und ihre Wertschätzung von Musik hat Vorbildfunktion für das Kind. Wenn eines der Elternteile oder sogar beide ein Instrument spielen, ist das von Vorteil. Im Folgenden sind einige Punkte aufgelistet, die dazu beitragen können, eine musikalisch fördernde Umgebung im Elternhaus zu schaffen.

Möglichkeiten der musikalischen Förderung im Elternhaus

  • Eltern haben selbst ein Interesse an Musik
  • Gemeinsames Singen im Elternhaus bei vielen Gelegenheiten
  • Gemeinsames Musikhören und Besuch von musikalischen Veranstaltungen
  • Vorhandensein von Musikinstrumenten
  • Vorhandensein vielfältiger Musik (CDs, Radio etc.)
  • Ein oder beide Elternteile spielen ein Instrument oder singen im Chor (Vorbildfunktion)
  • Gemeinsames Aussuchen eines passenden Instruments und eines guten Lehrers bzw. einer Lehrerin
  • Musikalische Früherziehung/Grundausbildung in Musikschulen
  • Regelmäßiger Kontakt der Eltern zum Lehrer bzw. zu der Lehrerin
  • Ermutigung zum Üben durch Lob und Interesse an den Fortschritten des Kindes
  • Schaffung von regelmäßigen Übungsmöglichkeiten
  • Anwesenheit und Unterstützung beim Üben in der Anfangsphase
  • Offenheit für alternative Lehrkonzepte, die zum Kind passen könnten (z.B. Suzuki-Methode)
  • Suchen und Schaffen von Möglichkeiten zur musikalischen Betätigung, die das Kind herausfordern (Vorspiele, Organisation kleiner Konzerte, Mitwirkung in Chören, Orchestern, Bands usw.)
  • Viel Geduld auch in unerfreulichen Phasen des Übens
  • Unterstützung und Ermutigung bei Rückschlägen und Misserfolgen
  • Unterstützung von Teilnahmen an Festivals, Meisterkursen, Wettbewerben, Probespielen
  • Schulische Fördermaßnahmen (musische Klassen, Musikgymnasien)
  • Befürwortung des Wunsches, Musik zum Beruf zu machen, Unterstützung bei Bewerbungen, Prüfungen etc.
  • Generell: Vermeidung eines übertriebenen Ehrgeizes, der das Kind unter Druck setzt

Musikalische Frühförderung

Die Musikalische Frühförderung und Musikalische Früherziehung sind ein Arbeitsbereich der Elementaren Musikpädagogik. Zu deren Zielen gehört die Förderung der sprachlichen, kognitiven, motorischen und sensitiven Entwicklung von Kindern, welches durch die Sensibilisierung von Wahrnehmungen ermöglicht werden soll. Daneben dient die musikalische Frühförderung auch der Vorbereitung auf späteren Instrumental- oder Gesangsunterricht. Unterrichtsinhalte sind das gemeinsame Singen, Tanz und Bewegung, Instrumentenkunde, Musikhören, elementares Instrumentalspiel, elementare Notenlehre und Improvisation.

Dabei setzen die verschiedenen Konzepte je besondere Schwerpunkte in Bezug auf die thematische Ausgestaltung. Die spielerische Annäherung an elementare musikalische Fertigkeiten haben jedoch alle Programme gemeinsam. Es ist jedoch zu beachten, dass die Qualität von Frühförderungs-Kursen maßgeblich von den pädagogischen und fachlichen Fähigkeiten der Kursleiterin oder des Kursleiters abhängt.

Der Beitrag ist eine gekürzte und redigierte Fassung der 2014 erschienenen Broschüre „Musikalische Begabung fördern. Hinweise für Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen“, herausgegeben von der Arbeitsgruppe „Musikalische Begabung“ (Leitung: Prof. Dr. Heiner Gembris) am Institut für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) an der Universität Paderborn.

http://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/fakultaet/Institute/IBFM/Downloads/Broschuere_Begabung-Foerderung_2014-11-18.pdf


LITERATUR

  • Rost, D. H., Schilling, S. (1999): Wie erkennt man besondere Begabung? (Heft 1). Wiesbaden: Hessisches Kultusministerium.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 02-2018, S. 26-29


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