Störungen der Mutter-Säuglings-Interaktion durch Smartphone

Welche Auswirkungen kann die Nutzung des Smartphones und die damit verbundene Ablenkung und Unterbrechung in der Mutter-Kind-Interaktion auf die Bindung und psychische Entwicklung des Säuglings haben? Der folgende Artikel beinhaltet Hypothesen, die sich aus der Entwicklungspsychologie, u. a. dem Still-Face-Experiment, und der Bindungstheorie ableiten – aufgrund der Relevanz des Themas, sollte auch die Elternbildung durch pädagogische Fachkräfte dazu beitragen, frühzeitig über mögliche Folgen aufzuklären.

Hierfür sind Methoden abseits der persönlichen Ansprache sinnvoll, um zur Selbstreflexion anzuregen und gegebenenfalls auf eine Handlungsänderung hinzuwirken. Die Information kann über die Wandzeitung in der Kindertagesstätte, einen allgemeinen Elternbrief oder im Rahmen eines Elternabends übermittelt werden. Unbedingt vermieden werden sollte in der entsprechenden Zusammenarbeit mit Eltern jedoch der Eindruck der Belehrung und Bevormundung. Zudem sind Ausbildungsstätten für pädagogische Fachkräfte aufgefordert, die durch die Digitalisierung auch hervorgerufenen Entwicklungsrisiken zu thematisieren.

Die Einflüsse von Digitalisierung und Individualisierung durchdringen zwischenmenschliche Beziehungen und verändern bestehende Kommunikationsformen und -muster. Tägliche Ablenkungen und Unterbrechungen durch digitale Geräte, die in die Interaktionen von Paaren, Familien und allgemein in die gemeinsam verbrachte Zeit eindringen, werden als Technoferenzen bezeichnet. Technoferenzen, die durch die Lebenspartnerin oder den Lebenspartner verursacht werden, gehen mit einer geringeren Partnerschaftszufriedenheit einher, beeinträchtigen die subjektive Lebenszufriedenheit und erhöhen das Risiko für Depressionen. Diese Zusammenhänge sind für das System Familie als Ort primärer Sozialisation und Entwicklung sehr bedeutsam.

Intuitive Verhaltensweisen in Mutter-Säuglings-Interaktionen

Eltern verfügen über intuitive Kompetenzen, die sie in die Interaktion mit dem Säugling einbringen. Auch bei gesunden Säuglingen lässt sich die Fähigkeit zu wechselseitigen, aufeinander abgestimmten Aktionen in der Interaktion feststellen. Bereits ca. zwei Monate alte Säuglinge hegen die Annahme vom aktiven Interaktionspartner. Vielfach wurde nachgewiesen, dass in diesem präverbalen Zwiegespräch die mütterliche Anpassung an die kindlichen Hinweise eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung von emotionaler Kompetenz spielt, insbesondere der frühkindlichen Emotionsregulation. Die wechselseitige Bezogenheit fördert die sozioemotionale, sprachliche und kognitive Kompetenz des Säuglings. Er passt seine Dialogmuster kulturspezifisch an, dekodiert und verinnerlicht die individuelle Kommunikation seiner Bezugsperson.

Das Still-Face-Experiment

Mit der Still-Face-Situation untersuchten Tronick/Als/Adamson/Wise und Brazelton die Selbstregulierungsfähigkeiten, Initiationsversuche und das Stressempfinden des Säuglings als Reaktion auf die mütterliche Unterbrechung der wechselseitigen Bezogenheit bereits um 1978.
Das Still-Face-Experiment hatte eine gestörte mütterliche Responsivität zum Gegenstand, verdeutlicht durch eine fehlende Ansprache, eine starre Mimik und Körperhaltung. Das kann dem emotionslosen Gesichtsausdruck der Mutter und der eingeschränkten Responsivität während der Ablenkung und Unterbrechung durch das Smartphone ähneln. Tronick et al. konnten nachweisen, dass Säuglinge Annahmen an die soziale Interaktion hegen. Werden diese in Form von plötzlich fehlender Responsivität enttäuscht, versucht der Säugling, die gewohnte Reziprozität wiederherzustellen und das Fürsorgesystem zu aktivieren. Ist dies erfolglos, entsteht beim Säugling Übererregung, die er selbstständig kaum zu regulieren vermag. In den meisten Fällen wendeten die Kinder das hoffnungslose Gesicht ab, beendeten den Blickkontakt und verharrten im inneren Rückzug.

Verbreitung des Smartphones und Nutzungsverhalten in Deutschland
Im Jahr 2020 verfügten 98,1 Prozent der 20- bis 29-Jährigen über ein Smartphone. Unter den 30- bis 39-Jährigen betrug die Marktsättigung 97,8 Prozent. Die Altersspannen bilden potenzielle Eltern ab. In der Alterskategorie bis 19 Jahre verwendeten 62 Prozent das Smartphone über 120 Minuten täglich. Diese Altersgruppe wird teilweise in fünf bis 20 Jahren selbst Nachwuchs empfangen.

In einer 2015 durchgeführten Umfrage mit 1.500 Eltern in Deutschland und der Schweiz gaben 60 Prozent der Befragten an, das Smartphone während der Kinderbetreuung zu nutzen. Bedingt durch die soziale Erwünschtheit der Antworten ist der Anteil möglicherweise noch höher.
Mit der an der Universität Bonn 2014 begonnenen Längsschnittstudie, dem „Menthal-Smartphone-Projekt“, konnte das Smartphone-Nutzungsverhalten von 30.677 Proband*innen (16.147 männlich, 14.523 weiblich) erstmalig 2015 ausgewertet werden. Teilnehmerinnen nutzten das Smartphone täglich ca. 166 Minuten und Teilnehmer 154 Minuten. Die Altersgruppe 17 bis 25 Jahre schaltete bei einer Nutzungsdauer von drei Stunden im Durchschnitt 100-mal den Bildschirm pro Tag ein. Rund alle 18 Minuten unterbrachen die Teilnehmer*innen eine Tätigkeit, um auf das Smartphone zu schauen. Auf eine 14-minütige Taktung kamen 25 Prozent.

Hypothesen und Implikationen für die Praxis

Vermutlich hängt der negative Einfluss auf die psychische Entwicklung und auf die Bindung davon ab, wie oft, wie lange und über welchen Zeitraum Technoferenzen auftreten, ob sich der Säugling schon an der Schwelle zum Kleinkindalter befindet und welche Schutz- und Risikofaktoren bestehen. Gesunde Säuglinge hegen früh Verhaltenserwartungen an die vorsprachlichen Bezogenheit und reagieren empfindlich auf Unterbrechungen in der Mutter-Kind-Kommunikation. Interaktionen sind charakterisiert durch eine aktive Teilnahme, intuitive Beobachtung und die jeweilige Abstimmung des Verhaltens auf den Säugling bzw. die Mutter. Es ist anzunehmen, dass die Nutzung des Smartphones die Wahrnehmung und Beantwortung der kindlichen Kommunikationsversuche stärker einschränkt als ohne Unterbrechungen.

Die Ablenkung kann sich auf die korrekte Interpretation der kindlichen Signale auswirken und somit eine situative Über- bzw. Unterstimulation des Säuglings erzeugen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die prompte Beantwortung durch die Mutter zeitverzögert stattfindet, was sich im Säuglingsalter als problematisch erweist.

Werden die Signale des Säuglings nur unzureichend wahrgenommen, sind Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Emotionsregulation und sensomotorische Entwicklung wahrscheinlich. Die Emotionsspiegelung und -regulierung trägt maßgeblich zur Entwicklung der sozioemotionalen Kompetenz des Kindes bei. Darüber hinaus kann für den Säugling die feinfühlige Beantwortung auf seine Signale unvorhersehbar werden. Ein inkonsistentes Fürsorgeverhalten erschwert die Erfahrungen von Kontingenz und Kausalität, kann sich ungünstig auf die Selbstwirksamkeit des Säuglings auswirken und zum unsicheren Bindungsmuster führen. Dies kann das Spiel- und Explorationsverhalten einschränken. Infolgedessen sind reduzierte Lerngelegenheiten und Beeinträchtigungen bei der Autonomieentwicklung wahrscheinlich.

Auch bei sicher gebundenen Säuglingen kann Stresserleben z. B. dadurch entstehen, dass der rückversichernde Blickkontakt beim sozialen Referenzieren nicht besteht, weil die Aufmerksamkeit vom Smartphone absorbiert ist. Ist der frühkindliche Stress durch Technoferenzen permanent und langanhaltend, was bei einer Smartphone-Abhängigkeit der Fall sein kann, kann er zu Ängstlichkeit, einer beeinträchtigten Affektregulation und einem reduzierten Erinnerungsvermögen beim Säugling führen. Werden die Bedürfnisäußerungen des Säuglings nicht oder zeitverzögert beantwortet, kann der Säugling mit Emotionsschwankungen, Quengeln und Schreien reagieren. Außerdem kann es zur eingeschränkten Aufmerksamkeit bei Explorationen infolge eines inneren Rückzugs kommen. Der daraufhin vom Säugling eingeschränkte Blickkontakt kann die Mutter verunsichern und sich ungünstig auf die beidseitige emotionale Verbundenheit auswirken. Es ist fraglich, ob er seine Versuche aufrechterhält oder sich fortan passiver verhält, was sich — je nach Häufigkeit — auf das Kappen von entsprechenden neuronalen Netzwerken auswirken könnte.

Wenn sich die Mutter während ihrer Beschäftigung mit dem Smartphone durch den Säugling gestört fühlt, kann das die Wahrscheinlichkeit für eine gereizte Reaktion erhöhen, zumal eine intensive Nutzung des Smartphones mit Impulsivität und einer verringerten Emotionsregulation einhergehen kann. Das birgt das Risiko einer negativen Gegenseitigkeit in der Mutter-Kind-Beziehung.

Die Nutzung des Smartphones wird von Müttern subjektiv als Entspannung gesehen, stellt ein niedrigschwelliges Informationsangebot dar, sowie die Möglichkeit, örtlich unabhängig emotionale Unterstützung zu erhalten. Dennoch sollte ein Bewusstsein geschaffen werden, wie sich ein unregulierter Gebrauch und die damit verbundenen Technoferenzen auf die frühkindliche Entwicklung und Psyche, die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion und auf das Wohlbefinden der Mutter auswirken können. Hierfür dürfte eine behutsame Kommunikation geeignet sein: innerhalb der Schwangerschaft, bei Willkommensbesuchen auf der Entbindungsstation oder bei Hausbesuchen von Familienhebammen und
Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger*innen. Zusätzlich sollte die Problematik in Familienbildungsstätten, Kursangeboten für Eltern mit Säugling, auf Elternabenden in Kindertageseinrichtungen, in Fachpublikationen, der allgemein verfügbaren Presse sowie von Elternratgeberliteratur aufgegriffen werden. Denkbar sind Flyer in Praxen von Frauenärzt*innen und Kinderärzt*innen, die in einfacher Sprache, aber sehr einprägsam, informieren.

Zurzeit untersuchen zwei separate Forschungsgruppen, wie sich das mütterliche Nutzungsverhalten des Smartphones auf die Qualität der Mutter-Säuglings-Interaktion auswirken kann: am Institut für Early Life Care in Salzburg6 und am Department Angewandte Psychologie und Gesundheit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.7 Die Herausforderung wird sein, nicht nur mögliche Risiken zu identifizieren, sondern mittels Aufklärung dazu beizutragen, dass Eltern die Nutzung des Smartphones kontinuierlich reflektieren und gegebenenfalls tatsächlich reduzieren.

Literatur

  • Andone I., Błaszkiewicz, K., Eibes, M., Trendafilov, B., Montag, C. & Markowetz, A. (2016). How age and gender affect smartphone usage. Conference: UbiComp 2016.
  • Institut Early Life Care/Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg (o. V.) (2021). Smart.Baby. online verfügbar: https://www.pmu.ac.at/institute-kliniken/universitaetsinstitute/early-life-care/smartbaby-studie.html [Abfrage am 22.07.2021].
  • MacLean, P. C., Rynes, K. N., Aragón, C., Caprihan, A., Phillips, J. P. & Lowe, J. R. (2014). Mother–Infant Mutual Eye Gaze Supports Emotion Regulation in Infancy during the Still-Face Paradigm. In: Infant Behavior and Development, Vol. 37 (4) (16. Juli 2014), 512-522.
  • Markowetz, A. (2015). Digitaler Burnout: warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist. München: Droemer.
  • McDaniel, B. & Coyne S. (2014). “Technoference”: The interference of technology in couple relationships and implications for women’s personal and relational well-being. In: Psychology of Popular Media Culture. Vol. 5 (1) (01. Januar 2014). 85–98.
  • McDaniel, B. & Coyne, S. (2016). Technology interference in the parenting of young children:
  • Implications for mothers‘ perceptions of coparenting. In: The Social Science Journal, Vol. 53. (4) (01. Dezember 2016). 435-443.
  • Rauh, H. (2008). Die Neugeborenzeit. In: R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel: Beltz.
  • Tronick, E., Als, H., Adamson, L., Wise, S. & Brazelton, B. T. (1978). The Infants Response to Entrapment between Contradictory Messages in Face-to-Face Interaction. In: Journal of the American Academy of Child Psychiatry, Vol. 17 (1) (01. Dezember 1978). 1–13.
  • VuMa/Statista (o. V.) (2021). Anteil der Smartphone-Nutzer in Deutschland nach Altersgruppe im Jahr 2020. Hamburg: Statista.
  • Wolfers, L., Kitzmann, S., Sauer, S. & Sommer, N. (2020). Phone use while parenting: An observational study to assess the association of maternal sensitivity and smartphone use in a playground setting. In: Computers in Human Behavior, Vol. 102 (1). 31-38.
  • Zeisler, A. (2018). Robert N. Emde – von den Grundmotiven zur Selbstentwicklung. In: A. Streeck-Fischer (Hrsg.), Die frühe Entwicklung: psychodynamische Entwicklungspsychologien von Freud bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (o. V.) (2021). Smartphone Nutzung  werdender Eltern. online verfügbar: https://www.zhaw.ch/de/psychologie/forschung/klinische-psychologie-und-gesundheitspsychologie/saeuglingsforschung/smart-start/#c117698 [Abfrage am 22.07.2021].


Verwandte Themen und Schlagworte