Adultismus

Wie können adultistische Strukturen in der Kindertagesbetreuung erkannt und reflektiert werden?

Adultismus ist ein noch recht wenig diskutiertes Phänomen der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen. Wenn pädagogische Fachkräfte, die eigenen adultistischen Diskriminierungserfahrungen aufspüren, können sie die Konsequenzen für ihr professionelles Handeln erkennen und zugunsten weniger ausgeprägter.

Adultismus als Diskriminierungsform

Das Wort Adultismus setzt sich aus dem englischen Wort „Adult“ und der Endung „-ismus“ zusammen. Adult heißt in der direkten Übersetzung erwachsen, Erwachsene. Die Endung -ismus verweist auf eine gesellschaftlich bestehende Machtstruktur, ähnlich wie bei den Begriffen Rassismus oder Sexismus. Adultismus beschreibt den Umgang von Erwachsenen mit dem Machtungleichgewicht, das zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen besteht. Der Begriff verweist auf die Einstellung und das Verhalten Erwachsener, die davon ausgehen, dass sie allein aufgrund ihres Alters intelligenter und kompetenter sind als Kinder und Jugendliche – und sich daher über ihre Bedürfnisse, Meinungen und Ansichten hinwegsetzen können. Adultismus ist eine gesellschaftliche Macht- und Diskriminierungsstruktur, die durch Traditionen, Gesetze und soziale Institutionen gefestigt wird.

Reflexion von selbst erlebtem Adultismus

Adultistisches Verhalten kann Menschen in ihrer ganzheitlichen Entwicklung behindern. Kaum jemand ist so sozialisiert, dass er nicht von Adultismus betroffen ist. Erwachsene gehen oft von einer selbstverständlichen Höherwertigkeit aus. Die geläufige Annahme, dass Kinder kleiner, schwächer und unwissender sind, scheint die Ansicht von ei-ner kindlichen Minderwertigkeit zu rechtfertigen.
Adultismus im Alltag der Kindertagesbetreuung er-kennen und benennen zu können beinhaltet, sich mit gängigen Vorurteilen gegenüber Kindern auseinanderzusetzen, das traditionelle Bild vom Kind zu hinterfragen und persönliche wie auch gesellschaftliche Werte und Normen neu zu definieren. Die Reflexion von selbst erlebtem Adultismus ist Voraussetzung dafür, sich der eigenen Wirkung gegenüber Kindern bewusst zu werden. Erst in einem zweiten Schritt können Fachkräfte lernen, adultistische Verhaltensweisen zu benennen und konstruktiv zu verändern. (2)

Methode Adultismusplakat (3)

Im Rahmen kollegialer Fachberatung, von Teamsitzungen und Supervision können Erkenntnisse zu eigenen adultistischen Erfahrungen reflektiert und Veränderungen eingeleitet werden. Die Arbeit mit dem Adultismusplakat ist dabei eine mögliche und zeitlich variable Methode, die wie folgt eingesetzt werden kann:

Lesen Sie sich die Sätze des Adultismusplakates (im folgenden grünen Kasten) gegenseitig vor, jeweils 5-6 Sätze hintereinander. Wie geht es Ihnen in der Rolle der Sprecherin/des Sprechers und in der Rolle der Zuhörerin/des Zuhörers? Welche Sätze sprechen Sie besonders an und warum? Welche lassen Sie eher „kalt“ und warum? Wie drückt sich in den Äußerungen Ihrer Meinung nach Macht aus? Was kennzeichnet die Macht der Erwachsenen? Fallen Ihnen ähnliche Sätze ein, die Sie früher gehört haben oder heute noch hören? Sind Ihnen im Unterschied dazu Sätze von Erwachsenen in Erinnerung, die tröstlich und bestärkend sind/warum?

Die Ergebnisse dienen dazu, sich die eigenen adultistischen Handlungs- und Sprachmuster bewusst zu machen und im Alltag in der Kindertagesbetreuung zu verändern.


Adultismusplakat (3)
„Dafür bist du noch zu jung! Du sollst ... Du musst ... Hörst du?! Hast du mich verstanden?! Rede endlich! Komm sofort zu mir! Halt den Mund! Du hast gar nichts zu sagen! Das verstehst du noch nicht! Ich sage es dir, wenn du groß bist! Du bist noch zu klein dafür! Du hast ja keine Ahnung. Das bekommst du sowieso nicht hin. Kannst du nicht warten? Was denkst du eigentlich, wer du bist? Schäm dich für dein Verhalten. Du bist schuld, dass ich mir/dir wehgetan habe. Du hast Strafe verdient. Immer muss ich mich mit dir blamieren. Sei nicht so zappelig! Hör sofort auf! Hör auf zu weinen! Bleib sitzen! Rühr dich nicht vom Fleck! Fang endlich an! Geh’ mir aus den Augen! Verschwinde! Hau ab! Sag kein Wort mehr! Reiß dich zusammen! Du machst sofort, was ich dir sage! Kannst du nicht besser aufpassen? Wie kannst du nur ...? Dafür musst du noch ein Stück wachsen. Das geht Kinder noch nichts an. Kinder können das noch nicht entscheiden.“

Handlungsalternativen entwickeln

Alternativen zu adultistischem Handeln zu entwickeln, bedarf der bewussten Entscheidung und Veränderung der Haltung einer jeden pädagogischen Fachkraft. Das erfordert das Hinterfragen der vorhandenen Regeln, ihres Ursprungs und Ziels innerhalb der Strukturen der Kindertagesbetreuung. Folgende Fragen können dabei unterstützend wirken.(2)
  • „Dient die jeweilige Regel der eigenen Bequemlichkeit?
  • Soll mit ihr die Macht Erwachsener demonstriert werden?
  • Soll die Regel dem Kind seine Machtlosigkeit verdeutlichen?
  • Oder dient eine Regel wirklich dem Schutz des Kindes?“
Für ein weniger adultistisch geprägtes Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen braucht es Regeln, die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene nachvollziehbar und erklärbar sind.

Orientierung am Kind

Niemand kann im Erziehungsverhalten perfekt sein, jeder Erwachsene macht in der Erziehung Fehler. Sobald aber eine pädagogische Fachkraft feststellt, dass ihr Verhalten gegenüber dem Kind verletzend bzw. adultistisch geprägt war, ist es besonders wichtig, das authentische Bedauern darüber auszudrücken. Kinder empfinden es als besonders wertschätzend, wenn mit ihnen altersentsprechend über „Erwachsenenfehler“ gesprochen wird. Eine Möglichkeit ist, das Kind zu fragen, was es stattdessen von der Fachkraft gebraucht oder sich gewünscht hätte. Kinder haben dazu meistens sehr viele und neue Ideen. Wenn pädagogische Fachkräfte ihr Verhalten an diesen kindlichen Vorschlägen orientieren, kann eine neue Beziehungsqualität entstehen.

Strukturelle Ebene

Auf einer strukturellen Ebene können pädagogische Fachkräfte ab einem bestimmten Entwicklungsstand sogar gemeinsam mit den Kindern individuelle Vereinbarungen gestalten. Darüber hinaus kann jede Partizipation von Kindern, die Mitsprache, Beteiligung und eigene Entscheidungen fördert, ein gutes Übungsfeld sein, um Lebensräume weniger adultistisch zu gestalten.(1)


Anmerkungen:

(1) NCBI Schweiz und Kinderlobby Schweiz (Hrsg.). (2004). Not 2 young 2 „Alt genug um…“. Rassismus und Adultismus überwinden. Schaffhausen: K2.

(2) Richter, S. (2013). Adultismus: die erste erlebte Diskriminierungsform? Theoretische Grundlagen und Praxisrelevanz. Zitat S. 12. https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion /Publikationen//KiTaFT_richter_2013.pdf

(3) Friesinger, T. (2018). Mehr Empathie durch Selbstempathie. Der selbstempathische Ansatz in Bildungseinrichtungen im Kontext einer inklusiven Kommunikation. Dortmund: modernes Lernen. Zitat S. 73 (Originalplakat von Weimann (2004) in über-arbeiteter, um Positivbeispiele ergänzter Version im Verlag das netz erhältlich).

(4) Ritz, M. (2008a). Adultismus – (un)bekanntes Phänomen: „Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht?“ In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (S. 165-173). Freiburg: Herder.


Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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