Was bedeutet armutssensibles Handeln?

Und welche Chancen können sich dadurch eröffnen?

Auch in einem verhältnismäßig reichen Land wie Deutschland existiert Armut und hat Folgen für die betroffenen Familien. Eine gewisse Sensibilität für benachteiligte Lebenslagen und einfache Unterstützungsangebote können den Familien bereits eine Hilfe sein sowie Beteiligung und Bildungschancen ermöglichen, die sonst häufig nicht erreichbar sind.

Wohl niemand in Deutschland ist nach gängigen Definitionen von absoluter Armut betroffen, dennoch gibt es in unserem Land große Unterschiede bezüglich der sozio-ökonomischen Möglichkeiten. Es geht also um relative Armut, die nicht nur für einen ökonomischen Mangel steht, sondern auch eine Einschränkung von Lebensbedingungen, Teilhabe und Lebenschancen bedeutet. Sie ist Ausdruck sozialer Ungleichheit, die in der Regel nicht selbst verschuldet ist und trotz Erwerbstätigkeit gegeben sein kann.

Auswirkungen von Armut auf Kinder

Die meisten betroffenen Eltern versuchen trotz materieller Knappheit gerade bei den Kindern Einschränkungen zu vermeiden und die finanzielle Notlage vor allem jüngeren Kindern gegenüber nicht zu thematisieren. Dennoch kommt es häufig zu Abstrichen bei der Ernährung, Bekleidung oder der Körperpflege. Armut ist zudem oft mit einer schlechten Wohnsituation mit wenigen Rückzugsorten verbunden, was negative Folgen für das Familienklima haben kann (2). Betroffene Familien nehmen seltener an frühkindlichen Angeboten wie Krabbel- und Spielgruppen teil, sie nutzen deutlich weniger andere kostenpflichtige Bildungs- und Freizeitangebote mit ihren Kindern im Kindergar-tenalter (3). Kinder in Armutslagen entwickeln vermehrt ein geringeres Selbstwertgefühl, haben oftmals weniger Vertrauen in die Umwelt, verfügen über geringere Handlungsoptionen zur Lösung von Problemen und neigen in Konfliktsituationen häufiger zu Gewalt oder Rückzugsverhalten (3). Gerade in den ersten Lebensjahren wird deutlich seltener das Angebot einer Kindertageseinrichtung wahrgenommen, was wiederum auf den weiteren Bil-dungsverlauf negativen Einfluss haben kann (3).



Was benötigen Fachkräfte für armutssensibles Handeln? (4)

  • Selbstreflexive Professionalität – das Nachdenken über die eigene Haltung
  • Vorurteilsbewusstheit – sich seiner eigenen Schubladen bewusst werden und Zuschreibungen hinterfragen
  • Fähigkeit Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen erkennen und vermeiden zu können – Ausgrenzung durch Klischees und Barrieren zur Teilhabe identifizieren
  • Ressourcenorientierung und EmpathiefähigkeitEmpathiefähigkeit|||||Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit empathisch auf andere Menschen oder Tiere einzugehen. Dazu gehört es Gedanken, Emotionen, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale zu erkennen oder zu verstehen. Auch eigene Reaktionen auf Gefühle, wie Mitleid, Trauer und Schmerz gehören dazu.

    – wertschätzender Umgang und Hineinversetzen in andere
  • Grundlagenwissen über Armutsursachen, -symptome und -folgen


Dennoch muss immer beachtet werden, Familien in Armutslagen als eine sehr heterogene Gruppe zu verstehen. Viele dieser Familien sind von mehr als einem Belastungsfaktor betroffen (4), reagieren mit sozialem Rückzug und sind kaum motiviert zur aktiven Freizeitgestaltung (5). Es gibt aber auch viele betroffene Familien, die sehr konstruktiv mit der Problematik umgehen: sie entwickeln ein gutes persönliches Hilfsnetzwerk, nutzen gezielt die kostenlosen Angebote für Familien (6) und gestalten das Familienleben sehr erfolgreich als einen Ort zum Wohlergehen der Kinder (3).

Chancen armutssensiblen Handelns

Allein durch pädagogische Angebote können soziale Ungleichheiten nicht abgebaut werden (1). Um Kindern in Armutslagen aber eine bestmögliche Bildungsbeteiligung zu ermöglichen und damit ihre Lebenschancen zu erhöhen, ist Armutssensibilität ein pädagogischer Anspruch. Dieser wird als „Fein-fühligkeit und Empfindlichkeit gegenüber armutsbetroffenen Menschen – ihrer Lebenslage, ihren Bedürfnissen und Bedarfen, ihren Ressourcen und Bewältigungsstrategien, ihren Rechten (6)“ beschrieben.

Beim Kontakt von pädagogischen Fachkräften mit betroffenen Eltern ist zu bedenken, dass diese oft Ängste haben, da jeder Schritt aus dem privaten Raum heraus ihre prekäre Lage öffentlich machen kann und sie Stigmatisierungen und Vorbehalte befürchten (6). Durch ein aktives, wertschätzendes und feinfühliges Zugehen auf diese Eltern können Ängste und Unsicherheiten genommen werden. Aktive Nachfragen zu Ämter- und Behördenangelegenheiten und gezielte Initiierung von attraktiven, kostenneutralen Begegnungsmöglichkeiten mit anderen Familien (z. B. Elterntreff, gemeinsames Frühstück oder Grillnachmittag) können als Hilfe angenommen werden (6). Wünschenswert ist es auch, den Eltern Möglichkeiten zu bieten, eigene Ressourcen einzubringen: durch muttersprachliches Vorlesen, durch Unterstützung beim Kochen und Backen mit Kindern oder durch das Einbringen handwerklicher Fähigkeiten (6).

Problematisch können regelmäßige Zusatzkosten oder auch materielle Forderungen im Sinne einer „Mitbringliste“ sein, da es die Möglichkeiten der Familie übersteigen kann. Nicht selten haben betroffene Familien auch Hemmungen, offensiv um Unterstützung zu bitten und ihre Lebenslage so für Außenstehende sichtbar zu machen. Daher ist es sinnvoll, in Einrichtungen beispielsweise eine Ecke mit gebrauchter, gut erhaltener Kinderkleidung und/oder intakten Spielzeugen einzurichten. Ebenso können Spiele und Kinderbücher zur kostenlosen Ausleihe (z. B. als Sprach- oder Spielerucksack) angeboten werden.

Armutssensibel in der Arbeit mit Kindern

In Gesprächsrunden mit Kindern sollten Themen vermieden werden, die sozio-ökonomische Unterschiede offenlegen könnten. Beispielsweise ist die Frage „Worüber hast Du Dich am Wochenende besonders gefreut?“ geeigneter als die Frage „Was hast Du am Wochenende gemacht?“ – denn auch wenn nichts unternommen wurde, können schöne Momente erlebt worden sein. Gesprächsthemen wie Urlaube und Kindergeburtstagsfeiern sollten auf ähnliche Weise entschärft werden und Kinder vor der Verlegenheit bewahren, sich Geschichten ausdenken zu müssen.

Ungewöhnliche Verhaltensweisen sollten wertschätzend hinterfragt werden, z. B. warum ein Kind beim gemeinsamen Frühstück mehr Brote macht, als es essen kann oder viele Obststücke an sich nimmt, und diese dann in der Garderobe in der Tasche verschwinden lässt (4). Möglicherweise möchte es andere Familienmitglieder einfach mitversorgen. In diesen Fällen sollte gemeinsam nach angemessenen Lösungen gesucht werden. Immer wieder müssen Situationen differenziert und lösungsorientiert betrachtet werden, um allen Kindern die Teilhabe an Bildung von Beginn an zu ermöglichen.


Anmerkungen

[1] Simon, S. et al. (2019). Wie(so) über Armut sprechen? Zur Notwendigkeit einer armutsbewussten Praxis in Kindertagesstätten. frühe Kindheit, 22 (3), 36-41.

[2] Laubstein, C. et al. (2016). Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

[3] Müller, N. (2017). Stellungnahme der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission) des Deutschen Bundestages zum Thema „Kinderarmut“ [Kommissionsdrucksache 18. Wahlperiode 18/18]. https://www .bundestag.de/resource/blob/497498/c66c37d42ba37444019e0db142d6877f/stellungnahme_kinderarmut-data.pdf

[4] Urban, S. & Frohn, H. (2018). Armutssensibles Handeln von pädagogischen Fachkräften. KiTa Aktuell ND, (2), 28-31.

[5] Laubstein, C. (2014). Expertise zu „Lebenslagen und Potentialen armer Familien in Berlin“. Frankfurt / M.: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik.

[6] Holz, G. (2016). Armut und Armutsprävention in Kindertageseinrichtungen. unsere jugend, 68 (2), 57-67. Zitat S. 60.



Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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