Verhaltensoriginelle Kinder – eine besondere Herausforderung?

Einen ressourcenorientierten Blick auf herausforderndes Verhalten entwickeln ■ Die tägliche Arbeit mit Kindern in sozial-emotionalen Kompetenztrainings sowie die didaktische und praxisorientierte Arbeit mit Erzieherinnen und Erziehern in Fortbildungen bilden die Grundlage für diesen Artikel. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise aller Beteiligten, ressourcenorientierte Arbeitsansätze, Zitate von Erzieherinnen zum Thema sowie ein Fallbeispiel einer Kita beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven.

Als Coach mit einem systemischen Arbeitsansatz habe ich mich auf das Thema der Entwicklung von sozial-emotionalen Kompetenzen spezialisiert, um auf Verhalten, Verhaltensbesonderheiten oder -auffälligkeiten und Störungen des Sozialverhaltens von Kindern individuell eingehen zu können. Eine sensible und achtsame Kommunikation ohne Etikettierungen ist mir dabei sowohl in Fortbildungen als auch in der Integration von Kindern in Kursen wichtig. In der lernpädagogischen Praxis gehe ich davon aus, dass hinter jedem Verhalten eine »positive Absicht« steckt, die ein Kind für (s)eine problematische Lebenssituation zum Ausdruck bringt und so darauf hinweist, dass es in seinem Umfeld Belastungsfaktoren gibt, auf die es kreativ, originell, mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen reagiert. Wichtig ist mir, ein Verhalten grundsätzlich nicht als negativ zu bewerten, sondern vielmehr auch darin die Chance zu sehen, das zu verstehen, was ein Kind auf eine besondere Weise auszudrücken versucht.

Auch in Fortbildungen brennt den Erzieherinnen und Erziehern das Thema der »verhaltensoriginellen Kinder« unter den Nägeln. Wenn sie von Kindern sprechen, die kreativ und originell, witzig, spontan, hilfsbereit, aufgeschlossen, begeisterungsfähig und entdeckerfreudig für Neues sind, erleben sie z.B. im Gruppenkontext diese Kinder auch so manches Mal als herausfordernd, anstrengend, wütend, impulsiv, zappelig, streitlustig, laut, extravagant, in sich gekehrt, unsicher, zurückgezogen bis einzelgängerisch.

Verständlich ist, dass alle Beteiligten im System Kita jeden Tag vor großen Herausforderungen stehen – die Kinder, ihre Eltern und die Erzieher/innen.

Wann ist Verhalten verhaltensoriginell?

»Verhaltensoriginell, verhaltenskreativ oder auch verhaltensauffällig ist ein populärwissenschaftlicher, d.h. unwissenschaftlicher Begriff, der manchmal in euphemistischer Weise verwendet wird, um vor allem bei Kindern ein irgendwie auffälliges und generell unerwartetes Sozialverhalten zu kennzeichnen. Meist wird dabei ein nicht nur vorübergehend auftretendes, sonderbares, meist mit sozialen Spannungen einhergehendes und erzieherisch nicht zugängliches Verhalten von Kindern bezeichnet [...]« (Stangl 2019).

Das Hier und Jetzt annehmen – Entwicklung ermöglichen

Die Gründe für das Entstehen von originellen oder besonderen Verhaltensweisen können sehr vielfältig sein. In den meisten Fällen kommen mehrere Ursachen zusammen und man spricht von einer Multikausalität. Die Folgen von Trennung, Verlust einer Bezugsperson, Arbeitslosigkeit, Armut oder andere belastende Lebensereignisse spiegeln sich oft im Verhalten der Kinder wider. Werden die Handlungsweisen und Motive des Kindes als Zustand von Überforderung, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Trauer oder Wut verstanden, gelingt es besser, Beziehungsangebote zu entwickeln, um Teufelskreise erfolgreich zu durchbrechen und Stagnation bzw. sich verfestigende Verhaltensmuster zu vermeiden.

Ressourcenorientierte Interventionen

Geht es um Interventionen, ist ein guter und vertrauensvoller Beziehungsaufbau bzw. deren Gestaltung eine wertvolle Basis, um den Kindern Unterstützung zu geben. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, gute Strukturen, verständliche Regeln sowie Rituale, die sichere und vorhersehbare Abläufe für ein Kind erfahrbar machen und Grenzen, die wertschätzend gesetzt werden, geben Halt und Sicherheit. Die Fokussierung auf das »Hier und Jetzt« ist sehr hilfreich – für das Kind und die Erzieher/innen.

Die Interaktion zwischen Erzieher/in und Kind wird spürbar leichter, wenn das Verhalten und Tun des Kindes auf den Moment gelenkt werden, z.B.: »Was macht es jetzt gerade gut?« Erhält das Kind hierzu die Rückmeldung, was es genau gut gemacht hat, wird weniger an altes Verhalten angeknüpft und es gelingt, im Gehirn neue neuronale Verknüpfungen zu schaffen.

Jeder Tag kann damit wieder mehr zu einer neuen Chance werden und dabei helfen, kleine Ressourcen aufzuspüren, sichtbar und schließlich nutzbar zu machen. Eine Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes und mit ihm den Weg der kleinen Schritte zu gehen, seiner Spur und seinem Rhythmus zu folgen, unterstützt dabei, seine Widerstandsfähigkeit (ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. ) und vor allem Lernfreude im Laufe seiner Kita-Zeit weiter auszubauen.

Eine Erzieherin sagte in einer Fortbildung hierzu: »Mir ist bewusst geworden, dass kleine Schritte hilfreich sind. Bislang habe ich immer von mir gesagt, dass ich kleine Schritte mit den Kindern gehe, aber jetzt in der Aufarbeitung der Fallvignetten spüre ich, dass ich immer wieder noch einmal innehalten werde und wirklich diesen Schritt überprüfe. Dann denke ich auch mehr an den kleinen und leichten Anfang an jedem Tag.«

Diese empathische Aussage ist der Schlüssel eines optimalen Miteinanders – unter Kindern und unter Erwachsenen. Wenn ein Mensch bereit ist, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, wird es ihm viel leichter gelingen, aus dieser Haltung heraus die weiteren Schritte zu tun. Gleichzeitig bildet sie auch eine gute Ausgangslage für ein AnamneseAnamnese|||||Anamnese "bedeutet Basiserfassung von Daten und Informationen. Das Wort Anamnese stammt aus dem Griechischen und bedeutet Erinnerung, Wiedererinnerung und Gedächtnis. Ziel einer Anamnese ist es, Informationen zum biografischen Hintergrund des Kindes und seiner Familie zu erhalten." (Quelle: Schlösser, KiTa Fachtexte, 2011)gespräch zwischen Eltern und der pädagogischen Fachkraft. Der Einbezug der Eltern ist bedeutsam, Informationen zur aktuellen Lebenssituation des Kindes und seiner Familie sind wichtig, um das Verhalten auch aus allen Perspektiven betrachten und verstehen zu können. Hilfreich ist es, auch im Gespräch mehr von den Ressourcen als von Defiziten des Kindes zu sprechen.

Eine Mutter erzählte nach einem Gespräch etwa: »Mir wurde gesagt, was mein Kind alles nicht kann, aber nicht, was es gut kann. Das hat wehgetan.«

WEG DER KLEINEN SCHRITTE

Beziehungsaufbau und -gestaltung
  • ungeteilte Aufmerksamkeit
  • Fürsorge, Nähe und Zuwendung
  • Vertrauen aufbauen
  • Schutz, Sicherheit, Verlässlichkeit


Handlungsrahmen
  • Struktur und Rituale
  • Grenzen und Regeln
  • kleinste Impulse – Überforderung vermeiden
  • kleinste Veränderungsschritte
  • der Spur, dem Rhythmus des Kindes folgen
  • kleine Pausen – Kind und Erzieher/in bekommen Abstand
  • Umlenken in eine andere Beschäftigung
Neue Erfahrungen möglich machen
  • Humor entschärft eine Konfliktsituation
  • flexibel bleiben
  • In jedem Tag liegt eine neue Chance!
  • Das Kind ermutigen
  • Raum für Individuelles geben
  • Alternativen anbieten
  • Das, was das Kind gut kann, fördern!


Kreativität als Raum nutzen
  • Förderung von sozial-emotionalen Fähigkeiten
  • Einsatz von Handpuppen – Übertragung von Prozessen »ohne viele Worte«
  • Spiele gezielt einsetzen – Wut und Aggression abbauen
  • Kooperationsspiele zur Integration aller Kinder
  • Einsatz von Entspannungsgeschichten
  • Malen – Kreativität fördern


Fallbeispiel aus der Praxis einer Kita

Im Rahmen einer Fortbildung berichteten die Erzieherinnen von einem 5-jährigen Jungen, dem es im Gruppenkontext recht schwerfiel, zur Ruhe zu kommen und seinen Platz zu finden. Streitigkeiten mit anderen Kindern und ein Gerangel um ein Spielzeug waren die Folge. Er klagte über große Langeweile und darüber, dass es im Kindergarten nichts gebe, was ihn interessiere.

In der Fortbildung berichteten sie von einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem Jungen, der im Freispiel in einer Ecke allein spielte und eine Taschenlampe auseinandergenommen hatte. Geordnet lagen Kleinteile, Batterie, das Lämpchen sowie die Feder neben einigen anderen Befestigungsteilen auf dem Boden vor dem sichtlich zufriedenen Jungen. Aus Sicherheitsgründen sammelte eine Erzieherin die Teile der Lampe ein und packte sie in einen Karton. Der Junge weinte, war wütend und für den Rest des Tages wenig zugänglich für andere Aktionen.

Die drei Erzieherinnen suchten nun in Kleingruppenarbeit nach einem passenden Kontext, damit der Junge auch einen Raum für seine besonderen Fähigkeiten entwickeln konnte. Nach dem Mittagessen sei er ein wenig müder, aber er drehe sich innerlich immer wieder in seinen Gedanken hoch, rede viel und agiere und käme wenig zur Ruhe, sagten sie. Da ecke er mit seinem Verhalten immer wieder besonders an, wenn er die anderen in ihrem Ruhebedürfnis störe.

Zusammen mit den Erzieherinnen wurden die Ressourcen des Jungen sowie ein zeitlicher Rahmen für seine Experimentierfreudigkeit, die genaue Einbettung in seinen Tag und den Kita-Alltag sowie die Begleitung durch seine Bezugserzieherin konkret herausgearbeitet.

Ganzheitliches Handlungsspektrum

Der exemplarische Entwicklungsbericht des Jungen spiegelt wider, wie das Handlungsspektrum deutlich erweitert sowie Hintergrundthemen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und in die Überlegungen miteinbezogen werden konnten. Sein Interesse, »hinter die Dinge schauen zu wollen und Dinge zu ordnen« sowie »Konzentration und Entspannung« für sich zu erfahren, konnte als persönliche Ressourcen des Jungen herausgearbeitet und in konkrete Handlungsschritte umgesetzt werden.

Am Ende der Fortbildung sagte eine Erzieherin: »Mir ist sehr nachgegangen, dass wirklich jedes Kind eine Ressource hat. Und dabei kann ich die Unterstützerin sein, diese Ressource mit dem Kind zu entdecken und diese zu stärken. Das entlastet mich sehr in meiner Arbeit, weil ich eine wichtige Grundannahme verinnerlicht habe – dass eine an den Ressourcen orientierte Arbeit auch mir dabei hilft, mich besser zu erfahren und mich weniger überfordert zu fühlen.«

Eine gute Zeit für alle in der Kita

Insgesamt sprachen die Erzieherinnen davon, sich viel mehr in ihren komplexen Herausforderungen wahrzunehmen. Ihre Intuition beschrieben sie als eigene große Ressource, die ihnen öfters auch einen Weg eröffnet hatte, von dem sie in der Hektik der Alltagsangelegenheiten manchmal jedoch ablassen mussten und damit ihre Intuition außer Acht ließen. Hier versprachen sie, selbst auch wieder mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, körperliche Hinweise, Verspannungen, Ermüdbarkeit als Warnzeichen zu betrachten sowie das eigene Befinden zu hinterfragen. Dass ein lebendiges und ressourcenorientiertes Miteinander auch nach einem guten Kontakt zu sich selbst verlangt, war allen als Basis ihrer Arbeit sehr bedeutsam.

Fazit

Das Feedback einer Teilnehmerin am Ende der Fortbildung kann auch als Fazit zu diesem Beitrag dienen: »Gelingt es uns, die Lebensumstände des Kindes weniger zu bewerten, sondern im Hier und Jetzt zu bleiben, schauen wir uns das an, was gerade möglich ist! Das ist eine große Chance, um allen Kindern eine gute Zeit in der Kita zu ermöglichen.«

Literatur

  • Stangl, W. (2019): Stichwort: »verhaltensoriginell« . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. URL: https: / / lexikon. stangl. eu/ 14032/verhaltensoriginell/ (Zugri. am 12.03.2019).


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 9-2019, S. 179 - 181