Helmut von Kügelgen (1916-1998)

Ausgewählte Aspekte zur Waldorfkindergartenpädagogik

„Die Kindergartenarbeit ist soziale Arbeit -, sie ist Erziehungswerk in dem prägsamsten Alter.“ (Helmut von Kügelgen)

Kügelgen
Helmut von Kügelgen (Quelle: Familienarchiv von Kügelgen)
Helmut von Kügelgen hat die Waldorfkindergartenpädagogik und auch die Waldorfpädagogik an sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit großer Initiativkraft befördert. Der ausgebildete Waldorflehrer hielt weltweit Vorträge und Seminare über die anthroposophische Erziehungskunst und unterstützte die Gründung von Waldorfkindergärten und –schulen sowie Ausbildungsstätten für Waldorferzieher_innen. Es ist sicherlich seinem unermüdlichen Engagement mit zu verdanken, dass die Waldorfkindergärten, neben den Montessori- , Reggio-und Waldkindergärten, zu den erfolgreichsten alternativen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen der frühen Kindheit gehören (vgl. Sugatte 2015, S. 7; Göbel/Reintahl 2019, S. 8 ff.) - trotz immerwährender Kritik aus den verschiedensten Lagern erziehungswissenschaftlicher Disziplinen. Im Herbst des Jahres 1983 verteidigte Helmut von Kügelgen in einem regen Briefwechsel mit Heiner Barz die Waldorf(kindergarten)pädagogik. Die Auseinandersetzung dokumentiert ausdrucksvoll, die unterschiedlichen (und unvereinbaren) Erkenntnisse von „akademisch wissenschaftlich orientierter Pädagogik“ und der von Rudolf Steiner begründeten „anthroposophischen Geisteswissenschaft“ (vgl. Barz 1984, S. 140 ff.).

Leben und Wirken

Helmut von Kügelgen, dessen Vorfahren 1802 in Wien in den Reichsadelsstand nobilitiert wurden, erblickte am 1.jul./14.greg. Dezember 1916 als drittes Kind seiner Eltern in Reval (seit 1918 Tallinn) das Licht der Welt. In letztgenannter Stadt hatte die aus St. Petersburg vertriebene Familie Zuflucht gefunden. Helmuts Vater, Paul Siegwart von Kügelgen, war der letzte Herausgeber der „St. Petersburger Zeitung“, die seinerzeit das bedeutendste deutschsprachige Periodikum für Ost- und zum Teil Mittelost-Europa war (vgl. Butmaloiu 2011, S. 130 ff.). Der in Deutschland verbreiteten Familie gehören u. a. die Malerin Sally von Kügelgen, die Maler-Zwillingsbrüder Karl und Gerhard von Kügelgen, der als Autor der „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ bekannte Wilhelm von Kügelgen sowie der 1914 in St. Peterburg geborene Journalist Bernt von Kügelgen an.

Infolge der Oktoberrevolution 1917 mussten die von Kügelgen erneut fliehen, da alle Adligen unter der bolschewistischen Herrschaft um ihr Leben fürchten mussten. Über Halle, Helsingfors (Finnland), Dresden, Berlin und Bukarest endete die Odyssee der inzwischen auf vier Kinder angewachsenen Familie schließlich in Berlin (Zehlendorf Mitte). Nach dem Abitur begann Helmut von Kügelgen mit dem Studium der Zeitungswissenschaften, das er „mit 23 Jahren mit der Promotion und der Ausbildung zum Schriftleiter abschloss, gerade als der zweite Weltkrieg ausbrach“ (Ley o. J., S. 19). Über seinen weiteren Lebensweg resümiert der Anthroposoph:

„Jetzt kamen nicht ganz sieben Jahre Soldat, Gefangenschaft und eben der Krieg. Ich war Kriegsberichterstatter, musste daher keinen Dienst an der Waffe tun. Mein letzter Einsatz war in Rjasan, südöstlich von Moskau, wo dann der Rückzug begann“ (zit. n. ebd.).

Während eines Fronturlaubes im Jahr 1942 heiratete Helmut von Kügelgen Gisela Wassermann, die Schülerin an der ersten 1919 gegründeten Waldorfschule in Stuttgart auf der Uhlandshöhe war. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, fünf Töchter und ein Sohn, der bereits in sehr jungen Jahren verstarb.

Nach der Entlassung aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entschied sich der Familienvater für den Beruf des Waldorflehrers. Die entsprechende Ausbildung absolvierte er am Waldorflehrerseminar in Stuttgart. Bereits nach acht Wochen übernahm er die Verantwortung für die dritte Klasse an der „Freien Waldorfschule Stuttgart“. 28 Jahre war er dort als Klassenlehrer tätig.

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur unterstützte Helmut von Kügelgen die Gründung des Verlages „Freies Geistesleben“ und zeichnete von 1948 bis 1970 als Schriftleiter der anthroposophischen Zeitschrift „Erziehungskunst“ (danach bis 1982 in Personalunion mit Manfred Leist), verantwortlich. In seinem Sabbatjahr 1960/61 lebte der Anthroposoph mit der Familie für sieben Monate in Mexiko-City. Von dort aus bereiste er Nord- und Südamerika und hielt zahlreiche Vorträge und Tagungen.

Helmut von Kügelgen hatte sich erst im Alter von über 50 Jahren, „im Gefolge der Reformen von 1968“ (Kniebe 1996, S. 1408) der Waldorfkindergartenpädagogik, also dem ersten Jahrsiebent der menschlichen Entwicklung zugewandt. In intensiver Zusammenarbeit mit dem „Bund der Freien Waldorfschulen“ regte er 1969 die Gründung der „Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten e. V.“ an, ein Zusammenschluss der damals 69 bestehenden Waldorfkindergärten aus aller Welt. In diesem Zusammenhang war er aktiver Mitgestalter der jährlichen internationalen Tagung der Waldorfkindergärten. Auch die Gründung der „Privaten Freien Fachschule für Sozialpädagogik - Waldorfkindergartenseminar“, die 1975 in Stuttgart den Schulbetrieb aufnahm, ist ihm zu verdanken. Diese „erste eigenständige waldorfpädagogische Fachschule mit staatlicher Anerkennung weltweit“ (Ley o. J., S. 140) hatte der Pädagoge noch mehrere Jahre geleitet.

Die letzten Reisen führten ihn von 1990 bis 1995 u. a. nach Finnland, Estland und Russland. Bis zuletzt setzte er sich für die Verbreitung der WaldorfpädagogikWaldorfpädagogik|||||Die Waldorfpädagogik wird der Reformpädagogik zugeordnet und wurde von Rudolf Steiner begründet (1861–1925). Seine Pädagogik basiert auf einer von ihm entwickelten Menschenkunde, die spirituelle Weltanschauung, fernöstlicher Lehren sowie naturwissenschaftlichen Erkenntnisse benhaltet. In Waldorfkindergärten sollen ErzieherInnen den Kindern durch Tun und schaffen ein Vorbild geben. Naturmaterialien sind häufig Bestandteil der Einrichtung und dienen als Lern- und Spielanreiz. und die entsprechenden Einrichtungen (Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen) ein und stellte sich zentralen Zeitfragen wie: „Waldorfkrippen, ja oder nein? Seine Antwort: ‚Ja, aber die Qualitätsfrage bei der Arbeit mit ganz kleinen Kindern müsse allerhöchste Priorität haben‘“ (Lang 2016, S. 39). Am 25. Februar 1998 starb der nimmermüde Agitator im Dienste der Waldorf(kindergarten)pädagogik in Stuttgart und ist, wie die Anthroposophen sagen, „in die geistige Welt zurückgekehrt“.

Heute sind in Deutschland Einrichtungen nach Helmut von Kügelgen benannt, bspw. der Waldorfkindergarten in Oberursel (https://www.waldorfkindergarten-oberursel.de/) oder die Waldorfschule in Fellbach (https://campuswaldorf-fellbach.de/). Ferner trägt eine Stiftung seinen Namen (https://www.waldorfkindergarten.de/stiftung/).

Allseitige Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte

Ziel und Aufgabe der Waldorfkindergartenpädagogik ist es, den Kindern in altersgemischten Gruppen „zu einer allseitigen Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte“ (Kügelgen 1979, S. 415) zu verhelfen. Das sich Ineinanderfügen und Entfalten von Leib, Seele und Geist vollzieht sich in gewissen Stufen. Die Kindergartenkinder durchlaufen noch die erste Entwicklungsstufe, d. h. sie befinden sich in der Ausbildung ihres physischen Leibes und lernen ausschließlich über ihre Sinne. Demzufolge soll die Umgebung des Kindergartens so gestaltet sein, dass sich die sinnlichen Welten der Kinder entfalten können (vgl. Kügelgen 1981, S. 275 ff.; Kügelgen 1982, S. 74 ff.).

In seiner im Jahre 1973 herausgegebenen Broschüre „Plan und Praxis des Waldorfkindergartens. Beiträge zur Erziehung des Kindes im ersten Jahrsiebt“, die bereits 1980 in 7. und erweiterter Auflage auf den Markt kam, stellt Helmut von Kügelgen im Vorwort klar, dass der Kindergarten allgemein eine öffentliche Einrichtung ist, egal ob er „fröbelsche Züge trägt, von Montessori oder von antiautoritärer Begeisterung beeinflußt wird oder ob er durch die Erziehungskunst Rudolf Steiners, d. h. durch die Waldorfpädagogik geprägt ist“ (Kügelgen 1980a, S. 9). Alle Kinder, unabhängig von Religion, ethnischer Herkunft, Weltanschauung und Einkommen der Eltern, finden im Waldorfkindergarten Aufnahme, „wenn ihre Eltern nur zur Zusammenarbeit bereit sind“ (ebd.).

Die Frage „Was unterscheidet den Waldorfkindergarten von anderen öffentlichen Einrichtungen des vorschulischen Bereichs?“ beantwortet der ausgebildete Waldorflehrer wie folgt:

„Den Waldorfkindergarten kennzeichnet vielleicht an erster Stelle die erfahrene und erkannte Überzeugung, daß der Mensch das Menschsein nur vom Menschen lernt: daß das kleine Kind den Erzieher braucht, der mit ihm lebt, der sich auch geistig-seelisch mit dem Kinderwesen verbindet, der selber bis in das hohe Alter ein Werdender und sich Wandelnder bleibt. – Die Forderungen der Pädagogik müssen nicht an das Kind, sie müssen an den Erzieher gerichtet werden! Es geht nicht um methodische Systeme, vorgeprägte Programme und die Zwangsvollstreckung ihrer Erfolge – es geht darum, Leben zu erwecken, die Geburt der Individualität in einem gesunden Leib, in einer gesunden Seele vorzubereiten. Die Pläne werden an den Entwicklungsbedingungen des Kindes fort und fort weiterentwickelt, sie rechnen mit dem ganzen Lebenslauf und seiner unwiederholbaren, schutzbedürftigen, unendlich beeindruckbaren ersten Phase“ (ebd., S. 9 f).

Helmut von Kügelgen lehnt die in den Kindergärten immer stärker um sich greifende intellektuelle Förderung in Form von Lernspielen oder „Logischen Blöcken“, entschieden ab, da vor allem im ersten Jahrsiebent jede frühzeitige Beanspruchung des intellektuellen Vermögens, alles Erklären und kritisches Beurteilen, jede durch Erwachsene provozierte und geforderte Gedächtnisleistung tief in die Gesundheitsverhältnisse des Kindes eingreift und Kräfte abzieht, die noch der leiblichen Gesundheit, der Ausgestaltung der psychischen Organe und der Entfaltung des Willens dienen. Diesbezüglich konstatiert er 1978 im „Weleda-Almanach“:

„Wachstumskräfte und die Kräfte des Gedächtnisses, der vorstellenden Intelligenz, sind identisch. Belaste ich das Gedächtnis des kleinen Kindes mit Gedächtnisstoff, mit schulischen Lernanstrengungen, so entziehe ich ihm die gesunden, leibaufbauenden, regenerierenden Bildekräfte. Darum sind frühreife Kinder blaß, und darum röten der Eifer, die Phantasie, das Spiel die Wangen. Was sollen auch die Begriffe von den Banalitäten des Lebens als Gedächtnisballast in der Seele des Kindes? Dick und dünn, rund und eckig, Feuerwehrmann und Polizist wird es früh genug und ohne Mühe unterscheiden lernen. Der schöpferische Phantasieanteil der Intelligenz, der sich im Spiel betätigt, der im Erleben angeregt wird, auf den kommt es im ersten Jahrsiebent an... Entwicklung braucht Zeit. Sowohl Vorwegnahme als auch Entbehrungen dessen, was einer Altersstufe gemäß ist, stören den Start ins Leben“ (zit. n. Beichler 1992, S. 24).

Ein weiteres bedeutendes Grundprinzip das der Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte dient, ist der Rhythmus, zumal alles „Leben sich in Rhythmen [ordnet; M. B.], und Rhythmus ist Lebenskraft“ (Kügelgen 2001, S.105). Er gibt Sicherheit, schafft Gewissheit und Orientierung für die Kinder, in der Welt anzukommen und sich in ihr zurechtzufinden: Phasen der Aktivität und der Ruhe wechseln sich ab, wiederkehrende Abläufe und Gestaltungen gliedern den Tag, die Woche, den Monat und das Jahr: Morgenkreis, gemeinsame Mahlzeiten, Sing-, Sprech- und Bewegungsspiele, das freie Erzählen eines Märchens oder Vorspielen eines Puppenspieles, als auch die profanen wie christlichen Feste sind einige Elemente.

Erziehung ist Nachahmung und Vorbild

Da das Kind das „Menschsein nur am Menschen“ lernt, bestimmen Nachahmung sowie Vorbild „und wiederholentliches Tun [das; M. B.] Lernen in der frühen Kindheit“ (Kügelgen 1991, S. 4). Dieses entfaltet sich im Bereich des schöpferischen Nachahmens durch die ausdrucksvolle Geste sowie über das Vorbild gebende Tun des erzieherisch Verantwortlichen. Nicht wissenschaftlich ausgeklügelte frühkindliche Erziehungs- und Bildungsprogramme sind die adäquaten Instrumente, sondern die innermenschlichen Qualitäten des Erziehenden. Sein „Verhalten und die sinnvollen Handlungen und Arbeiten, die er in Haus und Garten verrichtet, entwickeln über Wahrnehmung und Erleben durch Spiel und Betätigung die Anlagen und Fähigkeiten des Kindes in gesunder Weise. Im Kontakt mit dem Menschen - nicht mit Medien oder vorprogrammiertem Lernspielzeug - erlebt das Kind seine Umgebung als einen möglichst umfassenden Bereich freudiger und nachahmenswerter Tätigkeiten“ (Kügelgen 1981, S. 293). Eine Fülle an notwendigem erwachsenen Tun, für Nachahmung und als Vorbild, ist in jedem Waldorfkindergarten vorhanden: „nähen von Puppenkleidern, Gardinen, Schürzen – Vorbereitungen für die Feste usw., usw. Der Herd, die Werkbank, Handwerkszeug, Nähzeug usw. gehören darum zur Ausstattung“ (Kügelgen 1991, S. 8).

Da nicht nur die im Waldorfkindergarten erzieherisch Tätigen Vorbild sind, sondern auch die Mutter, der Vater, die Großeltern, allgemein die Menschen zu Hause um das Kind herum, gehören Elternabende, Besuche im häuslichen Milieu des Kindergartenkindes und das nicht abreißende Gespräch mit den erwachsenen Familienangehörigen zu den wichtigen Aufgaben des Waldorferziehers:

„Er braucht nicht nur die Kenntnis von dem, wie es das Kind zu Hause hat, was für eine Biographie es schon durchlebte, er braucht auch den Rat und die Mithilfe der Eltern... Das Gespräch ist notwendig. In Ernährungs- und Bekleidungsfragen, bei Einkäufen von Spielzeug usw. ist bei der Verunsicherung und Instinktlosigkeit so vieler junger Eltern dieses Gespräch dringend geboten. Der Kindergarten ist erst dann lebendig, wenn von seinem Stil, seinen Lebensgewohnheiten etwas gleichsam ausstrahlt in die Elternhäuser. Aus der Begegnung der Eltern mit den Waldorfkindergärten entsteht im Austausch, im gemeinsamen Lesen, Basteln, Vorträge-Hören, Feste-Vorbereiten usw. so etwas wie ein kleines Kulturzentrum“ (ebd., S. 15).

Pflege und Förderung des kindlichen Spiels und der kindlichen Phantasie

Die exzeptionelle Bedeutung der frühen Kindheit zeigt sich in ihrer auffälligsten Erscheinung im kindlichen Spieltrieb, in welchem sich „urbildhaft geistige menschliche Potenz“ (Saßmannshausen 2005, S. 13) offenbart. Im freien Spiel, das sich in drei Stufen der frühen Kindheit vollzieht, verwirklicht sich das Kind in der Welt, es entwickelt „nicht nur seine leiblichen Geschicklichkeiten, seine organischen Fähigkeiten, sondern diese besondere kindliche Phantasie, die willenshafter Natur ist, die Dinge verwandelt und beseelt, die wir später Initiative, schöpferische Kraft nennen. Mit welchem Ernst, welcher ganzheitlichen Hingabe spielt das Kind... Das Spiel des Kindes ist zweckfrei, aber phantasiedurchtränkt, volles Leben... Das Spiel wirkt von innen nach außen... Der eben entleerte Korb erinnert an die Badewanne, ein Tuch wird hineingegossen, das Puppenkind gebadet, ein Stück Holz ist der Schwamm, eine Eichel die Seife. Im selben, nun Badetuch gewordenen Stoff wird abgetrocknet, das Holzstück oder ein anderes ist jetzt Fläschchen und beim Anziehen – es muß ja erst das Kleid gebügelt werden, - wird das Holz zum Bügeleisen. Es wird wirklich Bügeleisen“ (Kügelgen 1991, S. 8 ff.). Voranstehende Zeilen verdeutlichen, dass den Waldorfkindergartenkindern kein ausgestaltetes Spielzeug/-material angeboten wird, da dieses ihre Fantasiekräfte, die eigene innere Bilder hervorbringt und vor dem geistigen Auge umwandelt, einschränkt. Körbe und Holzschalen in unterschiedlichen Größen, mit Nüssen, Kastanien, Steinen, Tannenzapfen etc. gefüllt, abgesägte und vielleicht glatt geschmirgelte Aststücke, aber auch einfache Seiden- und Baumwolltücher, Strickpuppen oder Holztiere, deren Formen so freilassend sind, dass sie die kindliche „innerliche Phantasie“ stimulieren, und somit den verschiedensten Spielsituationen dienen können, gehören zum Inventar eines jeden Waldorfkindergartens:

„Der Gesichtspunkt ist wohl deutlich: es soll dem Kinde die Möglichkeit gegeben werden, innerlich durch seine Phantasie aktiv zu werden. Die Sinneswahrnehmungen bringen uns in Verbindung mit Herkunft und Ursprung der Dinge. Auf die Qualität der Tücher, der Materialien usw. wird deshalb großer Wert gelegt. Die Sinne der Kinder sind offen, tief beeindruckbar. Naturbelassene, wenig ausgeformte, ‚echte‘ Dinge werden bevorzugt. Plastikmaterial, aus dem Gebrauchsgegenstände, Tiere, Pflanzen, Autos, Steine geformt werden, belügen den Tastsinn, ihr Ursprung ist zweckgebunden, nicht das Wachstum der Schöpfung. Zersägte Aststücke sind mannigfaltiger zu gebrauchen als Bauklötze. Am wichtigsten ist der Gesichtspunkt der Andeutung, die durch die Phantasie des Kindes vollendet wird, bei der Puppe. Sie ist das Bild des Menschen, muß Trauer und Freude, Zärtlichkeit und Tränen zeigen können – und nicht einen perfekten festgelegten Gesichtsausdruck“ (ebd., S. 13 ff.).

Kügelgen2Waldorfpuppen: „Gesichtspunkt der Andeutung“ (Quelle: Ida-Seele-Archiv)Der größte Widersacher der kindlichen Phantasie im ersten Jahrsiebent ist für Helmut von Kügelgen das Fernsehen, weil es nur einseitige Sinnesreize vermittelt, dem zur Bewegungslosigkeit verurteilten Kind Vorstellungen statt Lebensrealität reicht. Für die Sinne gibt es keine „Nahrung“ und der Wille zum Spiel wird erstickt (vgl. Kügelgen 1980b, S. 16). Demgegenüber fördern die „echten Volksmärchen“, bspw. die der der Gebrüder Grimm, die „innerliche Phantasie“. Sie berühren die Seele des kleinen Kindes und entsprechen seinem kognitiven sowie seelischen Entwicklungsstand. Die Märchen sollen nicht besprochen, kein Zusammenhang zwischen Märcheninhalten und aktuellen Erlebnissen oder Gefühlen des Kindes hergestellt werden, da sie sonst als Phantasiegebilde entzaubert werden. Dazu schreibt Helmut von Kügelgen, dessen Zeilen zugleich die anthroposophische Philosophie verdeutlichen:

„Das Märchen entstammt der Kindzeit der Menschheit, es wurzelt in einem anderen Bewußtseinszustand... Die alten Mysterien prägten das Wissen der Menschheit von der geistigen Welt, von Schöpfung und Erdensinn, von Schicksal und Lebensauftrag des Menschen in die Imagination der Mythologie, in die Inspiration religiöser Überlieferungen. So konnte zur Phantasie und Andacht der Menschen noch davon erzählt werden, was in Wahrheit hinter Sonne, Mond und Sternen, in Tieren, Pflanzen und Steinen steckt, was sich offenbart in den verschlungenen Bahnen des Menschenlebens, im Kampf mit dem Niederziehenden, Gewalttätigkeiten oder Versucherisch-Gleißenden, was als Sinn des Menschseins aus der Ungeborenheit in das Dasein tritt und im Tode seine Unsterblichkeit wieder schaut. Das Märchen ist der Rest dieser Mysteriensprache – und die Kinder durchlaufen die Stufen des Bewußtseins der Menschheit. Deshalb leben sie mit den Märchenbildern, sind von ihnen durchwärmt und erfüllt, immer wieder... Das echte Volksmärchen verdanken wir alter Offenbarungsweisheit. Es spricht in Bildern von Wandlung, von Verzauberung und Erlösung – und damit immer wieder vom Geheimnis des Menschseins. Diese übersinnliche Herkunft des Menschen, seine Prüfungen, seine Wandlungen, seine Überwindungen und Erlösungen werden geschildert. Das Kind kann gleichsam prophetisch daran Anteil nehmen – und alle ‚Grausamkeit‘, die der Wolf glaubt erkennen zu müssen, ist dem Kinde nichts anderes als der beseligende Sieg des Guten über das Böse“ (Kügelgen 1980c, S. 63 ff.).

Literatur

  • Barz, H.: Der Waldorfkindergarten, Weinheim/Basel 1984
  • Berger, M.: Der Waldorf-Kindergarten, in: Schüttler-Janikulla K. (Hrsg.): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort , München 1988 (16. Lieferung), S. 1-14
  • Butmaloiu, U.: Das Ende der „St. Petersburger Zeitung“. Das Verschwinden der deutschsprachigen Öffentlichkeit in Russland unter der staatlich praktizierten Ausweitung des Nationalismus als gesellschaftliche Kraft zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Dortmund 2011 (Diss.)
  • Göbel, N./Reintahl, Ch. (Hrsg.): 100 Jahre Erziehung zur Freiheit. Waldorfpädagogik in den Ländern der Welt, Stuttgart 2019
  • Gottzmann, C. L./Hörner, P.: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Band 1: A-G, Berlin/New York 2007, S. 786-787
  • Kniebe, G.: Helmut von Kügelgen zum 80. Geburtstag, in: Erziehungskunst 1996, S. 1407-1408
  • Kügelgen, H. v.: Gesetze der Kindheit, in: Weleda Almanach 1978, S. 75-78
  • Ders.: Elementare Eurythmie im ersten J ahrsiebent, in: Erziehungskunst 1979, S. 408-410
  • Ders.: Rudolf Steiner fordert Kindergärten, in: Erziehungskunst 1979, S. 413-414
  • Ders.: Von den Waldorfkindergärten. Eine kurze Einführung in ihre Arbeit, in: Erziehungskunst 1979, S. 415-432
  • Ders. (Hrsg.): Plan und Praxis des Waldorfkindergartens. Beiträge zur Erziehung des Kindes im ersten Jahrsiebt, Stuttgart 1980a
  • Ders.: Aus der Menschenkunde des Erziehungsalltags, in: Plan und Praxis des Waldorfkindergartens. Beiträge zur Erziehung des Kindes im ersten Jahrsiebt, Stuttgart 1980b, S. 11-16
  • Ders.: Märchensprache und Menschenbild, in: Kügelgen, Helmut v. (Hrsg.): Plan und Praxis des Waldorfkindergartens. Beiträge zur Erziehung des Kindes im ersten Jahrsiebt, Stuttgart 1980c, S. 63-66
  • Ders.: Erziehung im ersten Jahrsiebent. Der Waldorfkindergarten, in: Rieche, H./Schuchhardt, W. (Hrsg.): Zivilisation der Zukunft. Arbeitsfelder der Anthroposophie, Stuttgart 1981, S. 275-295
  • Ders.: Vom Waldorfkindergarten, in: Kindergarten heute 1982, S. 74-82 u. S. 122-126
  • Ders.: Vom Waldorfkindergarten, Stuttgart 1991
  • Ders.: Das Recht auf Kindheit. Idee und Ausbreitung der Waldorfkindergärten, in: Leber, S. (Hrsg.): Waldorfschulen heute. Einführung in die Lebensformen einer Pädagogik, Stuttgart 2001, S. 95-106
  • Lang, P.: Arbeit an menschheitlichen Aufgaben. Zum 100. Geburtstag von Helmut von Kügelgen, in: Erziehungskunst 2016/H. 12, S. 39
  • Ley, M. (Hrsg.): Ein Werdender sein. Helmut von Kügelgen. Ein Kämpfer für die Kindheit, Stuttgart o. J.
  • Saßmannshausen, W.: Waldorfkindergarten, in: Krenz, A. (Hrsg.): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort , München 2005 (57. Lieferung), S. 1-27
  • Suggate, S.: Waldorf, Berlin 2015

Weblinks
https://www.waldorfkindergarten-oberursel.de/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2019)
https://campuswaldorf-fellbach.de/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2019)
https://www.waldorfkindergarten.de/stiftung/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2019)
http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=266 (zuletzt abgerufen am 16.11.2019)
http://www.von-kuegelgen.eu/12369.html (zuletzt abgerufen am 16.11.2019)


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