Wie(so) über Armut sprechen?

Zur Notwendigkeit einer armutsbewussten Praxis in Kindertagesstätten


Ausgehend von Armut als ein gesamtgesellschaftliches Problem wird in diesem Beitrag ausgelotet, wie ein auf die Lebenslage Armut bezogenes pädagogisches Handeln gestaltet werden kann. Plädiert wird für eine armutsbewusste Pädagogik. Befunde aus dem Forschungsprojekt „Umgang mit und Deutungen von Armut in Kindertagesstätten“ dienen als empirische Basis, anhand derer praxisorientierte Reflexionen erörtert und Perspektiven aufgezeigt werden.

Problemaufriss aus Perspektive der Praxis

Eltern kaufen sich ein I-Pad, teure Markenschuhe oder eine „Rasse-Katze“, obwohl die Pädagoginnen und Pädagogen in der Kindertagesstätte den Eindruck haben, sie verfügten über sehr geringe finanzielle Mittel. Diese Eltern bringen ihr Kind ohne wettergerechte Kleidung in die Einrichtung, und das schon seit Wochen. Wie erklären sich dies die Fachkräfte? Aus Perspektive der pädagogischen Fachkräfte setzen diese Eltern die „Prioritäten falsch“: Würden sie das Geld besser einteilen und preisbewusster kaufen, könnten sie sich wettergerechte Kleidung für ihr Kind leisten.

In dem Forschungsprojekt „Umgang mit und Deutungen von Armut in Kindertagesstätten“, ein Verbundprojekt der Universität Kassel und dem Evangelischen Fröbelseminar unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Werner Thole und Dr. Barbara Lochner, stellt diese Interpretation in Gruppendiskussionen mit sieben Teams pädagogischer Fachkräfte, die in unterschiedlichen Einrichtungen bezüglich Sozialraum und Trägerschaft beschäftigt sind, eine wirkmächtige Deutung dar, um die aus frühpädagogischer Sicht ambivalente Situation aufzulösen. Wie ist auf solche Beobachtungen einzugehen – sowohl aus fachlicher als auch aus wissenschaftlicher Sicht? Ist Armut ein Thema für die Kita? Im Folgenden möchten wir aufzeigen, warum es sich lohnen kann, über Armut zu sprechen und auf Grundlage der empirischen Befunde Vorschläge für eine armutsbewusste Pädagogik ableiten.

Armut von Kindern in Deutschland

Armut ist Ausdruck sozialer Ungleichheit in einer extremen Ausprägung bis hin zur Ausgrenzung von ganzen Bevölkerungsgruppen (vgl. Groh-Samberg & Voges 2013, S. 58). Problematisch ist eine weitere Bestimmung, da der Begriff diffus und moralisch aufgeladen ist, ebenso wie er häufig mit Stigmata in Verbindung gebracht wird.

Herangehensweisen bieten der Ressourcen- und der Lebenslagenansatz, die in der quantitativen Forschung dominant sind. Als eine Form sozialer Ungleichheit wird in beiden Konzepten Armut in Bezug zu einer konkreten Gesellschaft und ihren Standards, wie dem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf, betrachtet. Es geht um relative Armut, bei der ein Mangel an Ressourcen die Ursache für Ausschlüsse aus „akzeptablen Lebensweisen“ darstellt (ebd.). Im Ressourcenansatz steht die ökonomische Ausstattung im Fokus. So gilt eine dreiköpfige Familie mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 1.400 € in Deutschland heute als relativ arm. Seit den 1990er Jahren steigen die Armutsquoten ebenso wie die Zahl der in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen. Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt an, dass je nach statistischer Grundlage etwa 21 Prozent der unter 18-Jährigen von einem Armutsrisiko betroffen sind (BMAS 2017, S. 250).

Dabei wird neben einer eingeschränkten Erwerbstätigkeit der Eltern und Migrationserfahrungen vor allem die Familienform – kinderreiche und Ein-Eltern-Familien – als Grund für Kinderarmut angeführt (ebd., S. XXI f.). Das Einkommen ist in marktförmigen Wirtschaftssystemen zwar ein Kernfaktor für die Entstehung von Armutsrisiken, wird aber der Komplexität von Armut nicht gerecht. Diese Kritik nimmt der Lebenslagenansatz auf und erweitert die Perspektive um Umstände, welche Armut bedingen (Reichwein 2010, S. 32). Abgeschätzt werden Handlungsspielräume, die sich aufgrund von verfügbaren materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen ergeben, also z.B. das Bildungsniveau, der Berufsstatus, der Gesundheitszustand und die Wohnsituation.

Während der Ressourcenansatz – weil er die finanzielle Einkommenssituation fokussiert – Kinderarmut nicht direkt in den Blick nehmen kann, ermöglicht der Lebenslagenansatz, das Aufwachsen unter Armutsbedingungen zu untersuchen (vgl. Hock et al. 2014). Zahlreiche elaborierte Studien belegen „Risiken“ in verschiedensten Dimensionen, die ein Aufwachsen in einer sozio-ökonomisch prekären Lage mit sich bringen (für eine Übersicht vgl. Laubstein et al. 2016): Gesundheitsgefährdungen und -unterversorgung (z.B. KiGGS-Studien), eine frühe Verantwortungsübernahmeinnerhalb der Familie sowie ein geringeres subjektives Wohlbefinden (z.B. World-Vision-Kinderstudien) sind einige Beispiele. Aus frühpädagogischer Sicht ist der sehr gut belegte, starke Zusammenhang vom Aufwachsen in einer Armutslage und Benachteiligungen im Bildungssystem bedeutsam (z.B. aktuell Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 86). Das Problem verschärft sich vor dem Hintergrund, dass Bildung in modernen Gesellschaften einerseits ein zentraler Faktor für soziale Teilhabe ist und gleichzeitig sozialer Ausschluss den Erwerb formaler Bildung erheblich erschwert – über dieses Zusammenspiel droht eine Art Spiralen-Effekt. In Familien, die nur eingeschränkt an gesellschaftlichen Bildungsressourcen partizipieren können, weil Zugänge verschlossen werden (vgl. Gomolla & Radtke 2009), kann es zu einer generationenübergreifenden Weitergabe oder einer Verfestigung von Armutslagen kommen.

Soziale Ungleichheiten können nicht alleine durch pädagogische Programme eliminiert werden, stellen aber dennoch eine Herausforderung für die Frühpädagogik dar. Kindertageseinrichtungen als bedeutsame öffentliche Institutionen für das kindliche Aufwachsen sind aufgefordert, mit dem Phänomen umzugehen. Die Frage ist, auf welche Weise Kinderarmut pädagogische Handlungsanlässe bieten sollte und wie mit Diffusität und Moralität, die das Handeln darauf bezogen mit sich bringt, umzugehen ist.

Armutsbewusstes pädagogisches Handeln

„Klasse“ oder „Schicht“ als Differenzkategorien legitimierten lange Zeit die schlechteren Lebensbedingungen und -chancen der Menschen, die sich in prekären Lebenslagen befanden. Heute bestehen neben diesen Kategorien weitere Konzepte wie „Milieu“ oder „Lebenswelt“, die stärker die Durchlässigkeit und fragilen Grenzen von Lebensbedingungen in den Blick nehmen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird häufig individualistisch argumentiert: Jeder Mensch habe die Möglichkeit, über den Erwerb von Bildung und durch Fleiß seine soziale Lage zu verbessern. Schnell werden dabei sozio-ökonomische Ungleichheiten gesellschaftspolitisch als Folgen fehlender Leistungsbereitschaft inszeniert (vgl. Scherr 2011). Damit wird Armut zu einem selbstverschuldeten Zustand. Aus dem Blick gerät, was die oben skizzierten Studien aufzeigen, nämlich dass bereits das Aufwachsen in einer Armutslage bestimmte Chancen verschließt bzw. unterschiedliche Startchancen hervorbringt. Armut ist auch als Folge sozialer Benachteiligung zu sehen, z.B. durch Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Behinderung oder Herkunft, und gleichzeitig als eine Ursache für soziale Benachteiligung, betrachtet man die Zusammenhänge zwischen Bildung und Armut (vgl. Klundt 2017).

Die Existenz unterschiedlicher sozialer Lagen (also im Sinne eines Nebeneinanderbestehens von Lebenswelten, die sich über unterschiedliche Zugänge zu Teilhabemöglichkeiten auszeichnen) ist gesellschaftlich so individualistisch über den Leistungsgedanken legitimiert, dass darüber eine Wahrnehmung oder gar Infragestellung der dargelegten strukturellen Bedingungen kaum möglich scheint. Armutsbewusste Pädagogik im Sinne eines inklusiven oder differenzkritischen Verständnisses, die nicht nur auf eine Besonderung in der Behandlung von Kindern aus Armutslagen achtet, bietet über die Thematisierung von Armut und deren Verwurzelung in gesellschaftlichen Strukturen, die Ungleichheiten hervorbringen, emanzipatorisches Potential.

Die im Projekt „Umgang mit und Deutungen von Armut in Kindertagesstätten“ gewonnenen Befunde zeigen, dass die pädagogischen Fachkräfte sowohl präventiv als auch handlungspraktisch orientiert sind im Umgang mit möglicherweise armutsbedingten Mangellagen. Das Fehlen des Frühstücks oder der Regenbekleidung wird z.B. als Routinesituation gekennzeichnet, die nicht auf Armut zurückgeführt wird. Kompetenzen, solche Situationen differenzierter – armutsbewusster – zu deuten, könnten jedoch herkunftsbedingten (Bildungs-)Benachteiligungen entgegenwirken.

Nicht unproblematisch ist, dass den Forderungen einer armutsbewussten Pädagogik damit ein Defizitvorwurf an die Praktiker/innen inhärent ist: Ihnen fehle es an Kompetenzen im Umgang mit „armen“ Kindern. Genau darum geht es uns aber nicht: Es muss mitreflektiert werden, dass die Ursachen sozialer Ungleichheit nicht pädagogisiert werden können. Zugleich können pädagogische Fachkräfte damit aber nur umgehen, wenn die Verwobenheit des Einzelnen, auch ihrer Selbst, in die Gesellschaft bekannt und Wissen über Strukturen vorhanden ist. Und dies kann, das verrät ein Blick in aktuelle Handbücher (vgl. Thole, Milbradt, Simon 2017) und länderspezifische Lehrpläne (vgl. Lochner et al. 2019, i.E.) der Erzieher/innen-Ausbildung, als Defizit des professionellen Systems markiert werden, welches sich als zu füllende Leerstelle des Ausbildungssystems erweist.

Mit der Forderung einer armutsbewussten Pädagogik werden bestehende Unterscheidungen zwischen von Armut betroffenen und nicht betroffenen Kindern vorausgesetzt. Dies ist eine enorme Herausforderung, denn entgegen der Zielsetzung vieler Teams, alle Kinder gleich zu behandeln, wird eine Ungleichbehandlung gefordert. Darin, dass unterschiedliche Kindheiten unterschiedliche Anforderungen stellen, liegt die Gefahr, Differenzen festzuschreiben. Die Gratwanderung zwischen Ungleichheitsreproduktion und Ungleichheitsbewusstsein findet auf sehr schmalem Pfad statt. Um professionell damit umzugehen, ist in einem ersten Schritt die Schwierigkeit zu bewältigen, die „soziale Lage“ als Differenzkategorie zu erkennen.

In einem zweiten Schritt geht es um den Umgang mit Nicht-Wissen. Das Nicht-Wissen über Andere wird als konstitutiv für pädagogische Interaktionen vorausgesetzt und ist niemals in Gänze aufhebbar (vgl. Wimmer 2006). So ist, um beim Beispiel fehlender Regenbekleidung zu bleiben, nie sicher, ob die Eltern nun vergesslich sind, dem Kind Eigenständigkeit bei der Kleiderwahl zugestehen oder tatsächlich keine wetterfeste Kinderkleidung besitzen. Versuche, diese Unsicherheiten durch vereinfachte Handlungs- oder Interpretationsfolien (etwa individualisierende Schuldzuschreibungen) aufzuheben, ermöglichen vielleicht eine routinierte Lösung in einem von Handlungsdruck geprägten Alltag, lassen sich aber zugespitzt als Deprofessionalisierung beschreiben (Kuhn 2014).

Es geht nicht darum, Wissen über „das arme Kind“ zu generieren, sondern darum, es und die Widersprüche im Umgang mit derartigen gesellschaftlich bedingten Folgen zu verstehen. Vielmehr wird darauf abgezielt, Kenntnisse über gesellschaftliche Strukturen im pädagogischen Feld zu generieren und zu nutzen, anstatt Verhaltensweisen bestimmter sozio-kultureller Gruppen zu interpretieren. Würde Letzteres angestrebt, reproduzieren sich Marginalisierungstendenzen, indem die „Armen“ als „Abweichende“ gelabelt würden, was wiederum verringerte Bildungs- und Teilhabechancen legitimiert.

Wieso über Armut in Kindertageseinrichtungen sprechen?

Dilemmata-Beispiele aus der Praxis
Armutsbewusste Pädagogik ist also mehr als das Bereitstellen materieller Ressourcen oder zusätzlicher Bildungserfahrungen für einen guten Schulstart. Es geht darum, Strukturbedingungen des Aufwachsens und des eigenen pädagogischen Handelns zu berücksichtigen. Wird die Tatsache struktureller Ungleichheitsverhältnisse bei Seite geschoben, indem beispielsweise elterliche Verhaltensweisen als individuelle Entscheidungen markiert werden, kann Armut kaum als relevante gesellschaftliche Rahmenbedingung des Aufwachsens gesehen werden. „Gute Kindheit“ wird dann zu einem Produkt „guter Elternschaft“ (vgl. Simon 2018, Lochner et al., i.V.).

Kindertageseinrichtungen sind zentrale Orte des Aufwachsens von Kindern. Wenn auch die Familie die entscheidendere Rolle für den Verlauf der kindlichen (Bildungs-) Biografie spielt, sind Anregungen und Erfahrungen, die Kinder im institutionellen Kontext sammeln, keineswegs bedeutungslos. Kinder profitieren sowohl kognitiv-sprachlich als auch in Bezug auf ihre Lebensbewältigungskompetenzen vom Besuch einer Kita, die ein stabiles Betreuungssetting und eine hohe Prozessqualität gewährleistet (Anders 2013). Das erfordert von pädagogischen Fachkräften, einfühlsam auf Kinder und ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen und passende Lernimpulse zu geben (Viernickel 2016, S. 7). Wenn Pädagoginnen und Pädagogen aufgrund der sozialen Herkunft von Kindern davon ausgehen, dass sie „keine Akademiker sein [werden]“, wie dies in einer Gruppendiskussion geäußert wird, dann deutet sich eine bedenkliche Verknüpfung an. Es scheint, als würden die pädagogischen Fachkräfte Bildungserwartungen für diese Kinder in ähnlicher Weise absenken wie es diverse Studien für die Bildungsaspirationen armer Familien selbst konstatieren (vgl. Rabe-Kleberg 2011, S. 51) und damit die Ungleichheit eher bestätigen als sensibel darauf eingehen. Was ist mit dem Anspruch der Einrichtungen der frühen Kindheit, ein eigenständiger Bildungsort am Anfang der Bildungsbiografie von Kindern zu sein, wenn das Ergebnis des gesamten formalen Bildungsprozesses aufgrund der Herkunft bei Eintritt festzustehen scheint?

Armutsbewusst zu handeln bedeutet, Kinder einerseits als Teil ihrer Familien zu verstehen und deren unterschiedliche Voraussetzungen wahrzunehmen. Andererseits gilt es, die Kinder individuell entsprechend ihrer Bedürfnisse zu fördern und zu begleiten, ohne dass die soziale Lage der Kinder das pädagogische Handeln bestimmt. In der Anerkennung familialer Differenz ist es eine Illusion zu glauben, dass sich sozial ungleiche Lebensbedingungen durch ein einheitliches Angebot für alle Kinder lösen lassen. Außerdem zeigt sich, dass sie das pädagogische Angebot ohnehin beeinflussen.

So ist es den Pädagoginnen und Pädagogen in den Gruppendiskussionen zum Beispiel wichtig, prekäre soziale Lagen der Familien bei der Auswahl von Bildungs- und Freizeitangeboten zu berücksichtigen, indem diese das familiäre Budget nicht übermäßig belasten und zudem nachahmbar sind (etwa indem Ausflugsziele in der Nähe gesucht werden). Das erscheint plausibel. Zugleich wird damit als gegeben akzeptiert, dass es nicht im gleichen Maß wie in Einrichtungen mit vermögenderen Eltern möglich ist, das Angebot vorrangig an pädagogischen Überlegungen auszurichten.

Pädagoginnen und Pädagogen mögen das Gefühl haben, dass sie daran wenig ändern können, auch das Bildungs- und Teilhabepaket wird von den pädagogischen Fachkräften als nicht zielführend betrachtet (vgl. Lochner, Prigge, Simon 2018). Es erscheint in der Reflexion der eigenen Möglichkeiten jedoch wenig hilfreich, diese strukturellen Beschränkungen und die gesamtgesellschaftliche und politische Dimension von Armut zu negieren.

Vereinzelt wird in den Diskussionen der Teams deutlich, dass sich Pädagoginnen und Pädagogen veranlasst sehen, den Kindern alternative Lebensentwürfe zu jenen der Eltern nahezubringen. Wie eingangs skizziert, werden ressourcenarme Eltern u.a. als zu konsumorientiert und wenig eigeninitiativ von den Fachkräften wahrgenommen. Im Umgang mit den Kindern geht es ihnen dann darum, andere Werte zu vermitteln und die Eigeninitiative der Kinder, zum Teil in expliziter Abgrenzung zum elterlichen Lebensmodell, anzuregen. Im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit von Eltern erzählt eine Erzieherin von dem Gespräch mit einem Mädchen: „habe ich gesagt, was macht denn deine Mama, dann hat sie gesagt, ja die muss zu Hause kochen, staubsaugen, putzen, und dann hab ich gesagt, okayokayokay, das mach ich auch alles, ich arbeite auch noch.“ Vor dem Hintergrund des problematischen Charakters von Loyalitätskonflikten, die für Kinder entstehen können, wenn pädagogische Fachkräfte das Lebensmodell der Eltern kritisieren, erscheint ein solches Vorgehen wenig hilfreich. Armutsbewusstes Handeln bedeutet, familiär vermittelte Handlungsoptionen zu erweitern, ohne daraus eine Entscheidung gegen die Eltern zu machen.

Fazit

Die Beispiele zeigen, dass die Wahrnehmung von fehlenden Ressourcen bei Eltern und Kindern und vermeintliches Wissen über bestimmte sozio-kulturelle Gruppen das Handeln von Pädagoginnen und Pädagogen beeinflusst. Diesen Einfluss gilt es offenzulegen und kritisch zu reflektieren: Pädagogisches Handeln kann strukturelle Mängel und die ungleichen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern nicht vollständig ausgleichen. An dem Anspruch, ein gesamtgesellschaftliches Problem im frühpädagogischen Feld zu lösen, können pädagogische Fachkräfte nur scheitern.

Dennoch wäre es im Sinne einer armutsbewussten Pädagogik falsch, die ungleichen Ressourcen und Chancen von Kindern zu ignorieren und den Einfluss auf das eigene Handeln zu leugnen. Deutlich wird, dass in Kindertagesstätten, in denen mit Folgen von familiären Armutslagen gehandelt werden muss, Ambivalenzen für die Fachkräfte entstehen, die in den hier gewählten Beispielen handlungspraktisch eher einseitig aufgelöst wurden.

Unter Hinzuziehung von Strukturbedingungen ließen sich beispielhaft vier Reflexionsfragen für die präsentierten Situationsbeschreibungen ableiten:

(1) Wie kann eine Einrichtung gestaltet werden, wenn Ungleichbehandlung aufgrund von real unterschiedlichen Lebenslagen der Kinder anerkannt wird?
(2) Welche Bildungs- und Freizeitangebote wären für Familien in finanziellen Mangellagen angemessen, wenn sie unabhängig von ihrem monetären Beitrag durchgeführt werden könnten?
(3) Wie können Bildungserwartungen mit Kindern in prekären Lebenslagen entwickelt und entworfen werden, auch wenn sie und ihre Familien als „bildungsfern“ markiert werden?
(4) Wie können Lebensentwürfe mit Kindern entwickelt und entworfen werden, auch wenn das elterliche Lebensmodell hinsichtlich einer beruflichen Orientierung keine Anhaltspunkte bietet?

Es ist notwendig, die strukturellen Voraussetzungen der eigenen Einrichtung daraufhin zu prüfen, ob und inwieweit sie kompensatorisches aber auch stärkenorientiertes Handeln ermöglichen. Kritisch zu reflektieren ist, inwieweit milieubezogene (Vor-)Urteile die eigene Wahrnehmung von und die Interaktionen mit Kindern und Eltern prägen. Einen Raum zu schaffen, der geprägt ist von Solidarität, Vertrauen und Verstehen, kann dazu beitragen, eine offene Haltung im Miteinander zu etablieren.

LITERATUR

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  • Wimmer, M. (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Paderborn.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 3-2019, S. 36-41

Unser Tagungstipp zum Thema:

„Es ist nicht nur das Geld, das fehlt…..“


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