Armut geht uns alle an!

Armutssensibles Handeln im Kita-Kontext

Armut in der Kita ist ein relevantes Thema für pädagogische Fachkräfte. In diesem Artikel soll der – zugegeben – etwas sperrige Begriff „armutssensibel handeln« näher beleuchtet werden: sensibel zu sein für das Thema Armut, die Lebenswirklichkeit und Herausforderungen der betroffenen Kinder zu kennen, achtsam zu sein für die praktischen Auswirkungen, Ideen zu erhalten, wie Armut in der Kita begegnet werden kann.

In den vergangenen Monaten war Kinderarmut vielfach Thema in den Medien – wieder einmal. Es wird gestritten um Armutsquoten, ob nun jedes vierte oder fünfte Kind in Deutschland in Armut aufwächst, wie die Zahlen zu berechnen und zu bewerten sind. Einkommensarmut solide darstellen zu wollen birgt manche Risiken und führt tatsächlich nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen. Welche Maßstäbe sollen gelten? Gilt ein Einkommen unter 60% des durchschnittlichen Erwerbslohns als armutsgefährdend, oder bedeutet dies bereits, von Einkommensarmut betroffen zu sein?

Fakt ist: Eine nicht unerhebliche Zahl von Kindern wächst mit finanziellen Einschränkungen auf. Dies hat Auswirkungen auf ihre Lebens- und Bildungschancen, denn nachweislich bedingen sich Bildungserfolg und soziale Herkunft in Deutschland.

Fakt ist auch: Die mediale Darstellung von Kinderarmut ist wenig hilfreich. Die Bilder, die in unseren Köpfen entstehen, haben nur teilweise mit der Lebenswirklichkeit von Kindern in Armut zu tun. Eltern werden häufig unter Generalverdacht gestellt, ihre Kinder zu vernachlässigen. Studien belegen das genaue Gegenteil. Die meisten Eltern in Einkommensarmut versuchen vieles, um ihren Kindern Dinge zu ermöglichen – trotz knapper Ressourcen.

Oftmals erleben Fachkräfte verdeckte Armut, da diese stets mit Scham einhergeht. Es ist schwierig zuzugeben, dass das Geld (mal wieder) nicht reicht. Häufig ist die Kita die erste Institution, in der Familienarmut offenbar wird. Familien entwickeln unterschiedliche Strategien, um mit finanzieller Knappheit klarzukommen, manchmal auch Strategien, die unvernünftig erscheinen.

Die Diskussion darum, wie viele Kinder nun real betroffen sind und wo die Grenzen zu ziehen sind, führt aus meiner Sicht nicht weiter. Das Wesen von Armut ist in den Blick zu nehmen und folgende Fragen sind zu betrachten: Was bedeutet es konkret für Kinder, in ihrem Alltag in einer Familie aufzuwachsen, die von Einkommensarmut betroffen ist? Wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus? Wie und in welchem Maß kann sich finanzielle Armut für sie auswirken – materiell, sozial, kulturell und gesundheitlich? Und inwieweit können Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung einen Beitrag leisten, um diese Kinder angemessen zu unterstützen, zu fördern und zu begleiten?

Die überwiegende Mehrheit der Kinder in diesem Land wächst mit sehr guten Rahmenbedingungen, in Wohlergehen auf. Sie werden gefördert und ihnen stehen viele, wenn nicht alle Türen offen, um am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und teilzunehmen. So möchte ich diesem Text einen Satz voranstellen, der für mich das Leben unter knappen finanziellen Bedingungen in einer Wohlstandsgesellschaft auf den Punkt bringt:

»Arm zu sein heißt, auf vieles verzichten zu müssen, was für Gleichaltrige zum normalen Aufwachsen dazu gehört.«

Das ist eine gelungene Definition für relative Armut. Maßstab ist und muss immer das »Normale«, das Übliche in einer Gesellschaft sein. Maßstab ist, inwieweit ein Kind an sozialen und kulturellen Aktivitäten teilnehmen kann oder davon ausgeschlossen ist, weil die Eltern nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um ihrem Kind diesen Zugang zu ermöglichen.

Armutssensibles Handeln in der Kita

Armutssensibles Handeln in der Kita lässt sich für fünf Ebenen beschreiben:
  • Arbeit mit dem Kind,
  • Arbeit mit der Gruppe,
  • Zusammenarbeit mit den Familien,
  • Team und Einrichtung und
  • Kita im Sozialraum.

In Kindertageseinrichtungen bedeutet armutssensibel zu handeln, dass Zugangsbarrieren wahrgenommen und sichtbar gemacht werden, um sie dann soweit wie möglich abzubauen. Dafür benötigen Leitungen und Teams Wissen um die strukturellen Ursachen von Armut und zu den Dimensionen, Merkmalen und möglichen Auswirkungen von Armut. Die Leitbilder und Konzeptionen sowie die pädagogische Arbeit sollten unter einer armutssensiblen Perspektive reflektiert werden. Die vorhandenen Chancen für Partizipation, soziale Teilhabe und Bildungsteilhabe sollten unter die Lupe genommen werden. Außerdem sollten die vorhandenen Ressourcen überprüft werden, ob beispielsweise alle Kinder und Familien gleichermaßen Zugang zu allen Informationen und Angeboten haben. Und schließlich geht es darum, passgenaue Angebote zu gestalten, indem die vorhandenen Maßnahmen reflektiert und ggf. angepasst und neue Ideen entwickelt werden.

Bevor wir nun zu den konkreten Möglichkeiten kommen, die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für armutsbetroffene Kinder nutzen können, möchte ich noch auf drei wichtige Punkte hinweisen.

Armut ist ein gesellschaftliches, strukturelles Problem und Phänomen, das sich durch die ungleiche Verteilung von Vermögen und Lebensgrundlagen auszeichnet. Sie als Fachkräfte können und müssen dieses Problem nicht lösen und auch nicht alle Auswirkungen kompensieren. Es ist die Frage, wie wir in einem der reichsten Länder miteinander leben wollen, wie wir Gesellschaft gestalten wollen. Und hier sind in erster Linie die Sozialpolitik und alle Mitglieder dieser Gesellschaft gefragt.

Einkommensarmut wirkt sich regional sehr unterschiedlich aus. Weil das Leben in Städten meist teurer ist, sind dort die Armutsquoten häufig höher. Berücksichtigt werden müsste ebenfalls die Kaufkraft der jeweiligen Region, d.h., wie viele und welche Güter können mit dem vorhandenen Einkommen erworben werden? Die Lebenshaltungskosten variieren stark, beispielsweise sind Mieten, Lebensmittel oder kulturelle Angebote in Metropolregionen wie München, Dresden oder Düsseldorf wesentlich kostspieliger als in ländlich geprägten Gegenden.

Wesentliche Herausforderungen für armutsbetroffene Familien liegen in den unerwarteten Ausgaben, die das knappe Familienbudget zusätzlich überschreiten. Bezogen auf die Kita zählen dazu Spiel-, Essens- und Getränkegeld; außerdem die doppelt benötigten Kleidungsstücke wie Hausschuhe, Wechselkleidung, Turnkleidung, Matschhose, etc. Hinzu kommen die Kosten für Ausflüge und Aktionen, Bildungsangebote und mehr. Häufig sind diese Zusatzausgaben zu festen Zeiten zu erbringen.

Armutssensibles Handeln ist ein breites und vielschichtiges Thema, das in einem Artikel nur unzureichend bearbeitet werden kann. Darum greife ich zwei Gesichtspunkte heraus, die einladen sollen, diese Aspekte auf die eigene Arbeit zu übertragen: die möglichen Folgen von Einkommensarmut und Teilhabe.

Welche Folgen kann Einkommensarmut für Kinder haben?

Häufig bitten Fachkräfte um Kriterien, anhand derer sie Armut bei Kindern in ihrer Einrichtung festmachen können. Um die möglichen Folgen von Einkommensarmut zu beschreiben ist das Lebenslagenkonzept hilfreich. Nicht die Kinder sind arm, sondern sie befinden sich in einer Lebenslage, die von knappen finanziellen Ressourcen gekennzeichnet ist. Knappheitsbedingungen prägen Lebenswirklichkeit und Alltag. Dies kann sich – muss aber nicht – in vier Dimensionen zeigen bzw. auswirken.

Einkommensarmut kann sich materiell auswirken in Bezug auf Kleidung, Wohnen, Nahrung und Teilhabemöglichkeiten, die an finanzielle Ressourcen gekoppelt sind: Wie leben die Kinder und ihre Familien? Steht ausreichend und guter Wohnraum zur Verfügung? Haben die Kinder Platz daheim? In welcher Gegend, in welchem Wohnumfeld leben sie? Wie sind sie gekleidet? Sind alle notwendigen Kleidungsteile auch in der Einrichtung zur rechten Zeit verfügbar? Wie steht es mit witterungsgerechter Kleidung? Kommen die Kinder hungrig in die Einrichtung? Was nehmen Sie wahr bzgl. der Ernährungsgewohnheiten? Welche Verpflegung bringen die Kinder mit? Haben die Kinder die Möglichkeit, an Ausflügen teilzunehmen, ein Musikinstrument zu erlernen oder in einen Sportverein zu gehen? Gibt es Spielzeug und Bücher daheim? Welche Spielmöglichkeiten finden die Kinder daheim vor? Wird Essensgeld/Spielgeld, etc. rechtzeitig bezahlt?

Einkommensarmut kann sich sozial auswirken im Hinblick auf die sozialen Kompetenzen, die Teilnahme am sozialen Geschehen und soziale Netzwerke: Wie steht es mit den Fähigkeiten, sich sozial angemessen in der Gruppe zu verhalten, untereinander und Ihnen gegenüber? Finden die Kinder leicht Kontakt? Werden sie zu anderen nach Hause zum Spielen oder zu Geburtstagen eingeladen? Werden die Kinder eingeladen, in der Kita mitzumachen? Sind sie mittendrin oder stehen sie außen vor? Wie steht es mit Frustrationstoleranz, Problemlösefähigkeiten, Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit? Sind die Kinder am Nachmittag allein daheim, sitzen viel vor TV und PC? Wo spielen sie in ihrer Freizeit? Haben sie Geschwister? Gibt es Familientraditionen?

Einkommensarmut kann sich gesundheitlich, d.h. physisch und psychisch auswirken: Leiden die Kinder unter zahlreichen Allergien, Übergewicht, an chronischen Erkrankungen oder sind häufig krank? Sind sie fein- und grobmotorisch angemessen entwickelt? Weisen sie Auffälligkeiten auf? Sind sie fröhlich in ihrer Grundstimmung oder wirken sie bedrückt? Sind sie offen und vertrauensvoll oder zurückhaltend und ängstlich?

Einkommensarmut kann sich kulturell auswirken: Wie steht es mit der altersangemessenen kognitiven Entwicklung? Drücken sich die Kinder altersentsprechend sprachlich aus? Kennen sie Theater und Museen? Welche Musik kennen und hören die Kinder? Wird daheim vorgelesen? Sind die Kinder mit ihrer Lebenswelt vertraut, kennen ihre Kultur und die Kultur, in der sie leben? Wie sieht es mit Religion, Festen und Traditionen aus? Wie viel wissen die Kinder? Sind sie neugierig auf ihre Welt und die der Anderen?

Die benannten Kriterien können Hinweise liefern auf Unterstützungsbedarfe. Wichtig ist hierfür, das Lebensumfeld der Kinder gut zu kennen, sich der eigenen Bilder und Vorstellungen zu Kindern in Armutslagen bewusst zu sein, Vorurteile zu reflektieren und im Team geeignete Maßnahmen zu planen, wie ein armutsbetroffenes Kind und ggf. die Familie angemessen unterstützt werden könnte.

Partizipation, Soziale Teilhabe und Bildungsteilhabe

Was braucht es, um sich zugehörig zu fühlen – als Kind in der Gruppe und als Familie in der Einrichtung? – Vor allem das Gefühl, willkommen zu sein und als Person wahrgenommen zu werden – Anwesenheit allein genügt nicht. Drückt sich das Zusammengehörigkeitsgefühl durch die räumliche Gestaltung, durch die Materialien, in denen die Kinder sich und ihre Lebenswelt wiederfinden können oder durch die gemeinsamen Aktionen und alltäglich wiederkehrenden Rituale aus?

Wie gesagt: Dabei sein ist noch nicht alles: Welchen Anteil am Alltagsgeschehen haben die Kinder? Sind alle Angebote für alle gleich zugänglich? Wird wertschätzend darauf geachtet, dass alle Kinder ihren Fähigkeiten gemäß gehört und gesehen werden, sich beteiligen können? Welche Teilhabe-Barrieren gibt es (räumlich, sprachlich, etc.)? Wo wird wer wie und wann ausgegrenzt? Wie kann das geändert werden? Sind Angebote so gestaltet, dass alle mitmachen können?

Erlebt ein Kind, dass es wirklich Teil der Gemeinschaft ist und teilhaben darf am Geschehen, ist die Basis dafür gelegt, dass es auch seinen Teil beitragen kann. Das »Willkommen sein« wird sichtbar, indem Möglichkeitsräume geschaffen werden, damit sich die Kinder und deren Familien einbringen, mitgestalten und mitbestimmen können. Als ein Nebenprodukt wird Vielfalt in Einrichtungen gestärkt.

Es wird anerkannt, dass die Kinder individuelle Bedürfnisse, Möglichkeiten und Fähigkeiten haben. Sie benötigen auf unterschiedliche Weise Unterstützung, um sich zu beteiligen, also das geben dürfen und können, was ihnen entspricht und so viel sie mögen. Damit erleben sich Kinder als selbstwirksam, sie bewirken etwas. Kinder erfahren und erleben, dass ihr Beitrag wichtig ist für die Gesamtgruppe, für die Gemeinschaft. Und dies führt zu einem positiven Selbstkonzept. Nicht die Defizite stehen im Mittelpunkt, sondern das Kind wird in seinen Ressourcen und Stärken wahrgenommen und gefördert.

Da dies für alle Kinder gleichermaßen gilt, wird gleichzeitig ermöglicht, gut mit Frustrationen umzugehen, wenn die eigenen Ideen einmal nicht berücksichtigt werden. Sie lernen, Probleme zu lösen und die eigenen Bedürfnisse gegen die Bedürfnisse anderer abzuwägen.

Es wurde deutlich: Menschen als soziale Wesen sehnen sich danach, zugehörig zu sein. Teil einer Gemeinschaft zu sein, ermöglicht es erst, auch teilzuhaben. Und wer am Geschehen teilhat, der oder dem eröffnen sich dann hoffentlich auch die Chancen, sich zu beteiligen, also seinen/ihren Teil beizutragen.
 

 

Fazit

Diese kurzen Ausführungen zu zwei der wesentlichen Aspekte der Lebenswirklichkeit in Einkommensarmut – Lebenslage und Teilhabe – liefern eine Vielzahl von ersten Ideen, wie in einem Team in Kindertageseinrichtungen das Thema Einkommensarmut und die möglichen Auswirkungen in der konkreten Arbeit weiterbearbeitet werden könnten:
  • Was müssen wir wissen?
  • Wie tauschen wir uns im Team aus?
  • Welche Bilder, Ideen, Vorstellungen und Konzepte habe ich als Leitung bzw. als pädagogische Fachkraft zum Thema Armut?
  • Welche konkreten Ideen könnten wir für unsere Einrichtung entwickeln?
  • Welche gezielten und praktischen Maßnahmen könnten wir in unserer Einrichtung umsetzen, um armutsbetroffene Kinder und deren Familien in unserer Einrichtung zu unterstützen?

Ich lade Sie ein, darüber im Team nachzudenken und miteinander bei den Ideen zu starten, die für Sie leicht umsetzbar sind.


Unser Tagungstipp zum Thema:

„Es ist nicht nur das Geld, das fehlt…..“

 

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 6-2019, S. 152-154




 


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