NEIN! - Schutz vor sexuellem Missbrauch

Jedes siebte Kind in Deutschland wird sexuell missbraucht. Um sie davor zu schützen, müssen Fachkräfte wissen wie.

„Es fühlt sich gar nicht gut an“, das wusste Thomas*. Und er wusste auch, dass das, was sein Onkel mit ihm machte, jahrelang, nicht richtig war. Thomas war vier Jahre alt, als er Opfer von sexuellem Missbrauch wurde. 13 500 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern wurden 2017 angezeigt.

Die Dunkelziffer liegt viel höher: Rund jedes siebte Kind in Deutschland erfährt sexuelle Gewalt. Das ergab eine Studie der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Ju¬gendpsychiatrie. Statistisch gesehen sitzt somit in jeder Kitagruppe mindestens ein Kind, das schon einmal Op¬fer sexueller Gewalt wurde. Sexuelle Gewalt ist, wenn ein älterer Mensch – entweder eine erwachsene Person oder ein wesentlich älterer jugendlicher Mensch – ein Kind dazu benutzt, sich sexuell zu erregen.

Präventionsarbeit leisten

Was muss passieren, damit nichts passiert? Grundlage jeder Prävention ist eine pädagogische Grundhaltung, die Kinder in ihrer jeweiligen Eigenheit, ihren Stärken und Schwächen, ihren Bedürfnissen und Willensbekundungen ernst nimmt. Ziel einer sinnvollen Präventionsarbeit ist es außerdem, Vertrauen in die eigenen Gefühle zu stärken. Kinder sollen sicher zwischen „schönen“, „blöden“ und „unangenehmen“ Berührungen unterscheiden können. So können sie sich leichter intuitiv oder bewusst von grenzüberschreitendem Verhalten abgrenzen. Um über unangenehme Begegnungen oder Berührungen zu sprechen und Stärkeren widersprechen zu können, brauchen Kinder die ausdrückliche Unterstützung ihrer Bezugspersonen.

Es stärkt Mädchen und Jungen, wenn sich Erwachsene für sie Zeit nehmen, an ihnen interessiert sind und sich für sie einsetzen. Mädchen und Jungen brauchen Erwachsene, die für sie Partei ergreifen. Für Erwachsene bedeutet die Entscheidung, Prävention als Haltung zu begreifen auch, dass sie die eigene Einstellung bewusst hinterfragen. Zu dieser inneren Auseinandersetzung gehören Fragen wie: „Wie gehe ich mit Nähe und Distanz um?“ oder „Was bedeutet respektvolles Miteinander?“ und „Wie bin ich Vorbild?“.

Mein Körper gehört mir

Eine altersangemessene Sexualaufklärung hilft, Mäd¬chen und Jungen vor sexueller Gewalt zu schützen. Sie können sexuelle Übergriffe dann besser als solche einordnen und solchen Erfahrungen eher Ausdruck verleihen. Im Kindergartenalltag kann situationsbezogen, beispielsweise durch die Schwangerschaft einer Mutter oder einer Mitarbeiterin, die Frage auf-kommen „Wie kommen eigentlich die Babys in den Bauch?“. Solche und ähnliche Fragen müssen pä¬dagogische Fachkräfte beantworten können – zum Beispiel mit Hilfe des Klassikers „Peter, Ida, Minimum“ oder der Geburts(tags)geschichte von Sonja Blattmann „Mein erstes Haus war Mamis Bauch“.




FÖRDERUNG DER WIDERSTANDSKRAFT

Wie sage ich es (m)einem Kind?
Eine sinnvolle Prävention, die Mädchen und Jungen stärkt und ihre Widerstandskraft fördert, gibt ihnen altersangemessene Informationen darüber, was sexueller Missbrauch ist.

Zum Beispiel so: „Es gibt Erwachsene oder ältere Jugendliche, die wollen, dass Kinder ihren Penis oder ihre Vagina anschauen oder anfassen. Es ist ihnen egal, dass Mädchen und Jungen das schlimm fühlen. Oft sagen sie, dass es ein Geheimnis ist und vielleicht schlimme Dinge passieren, wenn es erzählt wird. Das stimmt nicht. So etwas darf jedes Mädchen und jeder Junge immer erzählen.“

Einfache und klare Regeln dafür, welche Berührungen in Ordnung sind und welche nicht, zeigt Kindern, dass es falsch ist, wenn Erwachsene oder ältere Jugendliche das Kind sexuell missbrauchen: „Kein Mensch darf dich gegen deinen Willen anfassen oder gar küssen! Niemand darf dir mit Worten oder Schlägen wehtun oder dich an Stellen berühren, an denen du das nicht willst, beispielweise an Penis, Scheide, Brust und Po.“

Kinder sollen klare Regeln für schwierige Situationen kennen: „Wenn du auf der Straße von Erwachsenen angesprochen wirst, musst du nicht antworten. Du kannst in ein Geschäft gehen und dort erzählen, dass dich eine Person komisch angesprochen hat.“

Kinder sollen sich wehren und Hilfe holen dürfen: „Du darfst alles tun, um dich zu schützen! Du darfst Nein sagen, Schreien, Hauen, Weglaufen, Weitersagen, ... also alles, was dir einfällt, ist erlaubt!“

Kindern sollte klar gemacht werden, dass sie keine Verantwortung tragen: „Du hast keine Schuld! Verantwortlich ist immer der Erwachsene.“

Kinder entdecken ihren Körper genauso neugierig, wie sie die ganze Welt entdecken wollen. Auf Fragen, die Kinder haben, beispielsweise zu den Namen der Geschlechtsteile, zu Geschlechtsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen, sollten Kinder Auskunft bekommen. Das Erkunden des eigenen Körpers oder der Körper anderer Kinder gehört zu einer normalen und gesunden Entwicklung. Pädagogische Fachkräfte sollten darauf achten, dass die Kinder in der Situation Grenzen einhalten, dass sie sich und anderen dabei nicht wehtun und dass sie „Nein-Sagen“ dürfen, wenn sie an „Doktorspielen“ nicht teilnehmen wollen.



Den eigenen Gefühlen vertrauen
Gefühle wahrnehmen, ausdrücken und über sie sprechen müssen Mädchen und Jungen immer wieder üben.

Gute und schlechte Berührungen
Kinder sollten zwischen ihnen angenehmen und unangenehmen oder eigenartigen Berührungen unterscheiden können. Sie haben das Recht, eigenartige oder ihnen unangenehme Berührungen abzulehnen.

Selbst bestimmen und Nein-Sagen-Dürfen
Kinder dürfen über ihren Körper selbst bestimmen. Sie bestimmen, wer sie in welcher Situation wo an ihrem Körper berühren darf. Sie dürfen „Nein“ sagen, wenn sie in eigenartige Situationen verwickelt werden oder wenn von ihnen Dinge verlangt werden, die ihnen merkwürdig vorkommen oder ihnen unangenehm sind. Sie brauchen allerdings den Zuspruch ihres erwachsenen Umfelds.

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen
Gute Geheimnisse machen Freude und werden meistens an einem bestimmten Tag gelüftet. Schlechte Geheimnisse machen ein flaues Gefühl im Bauch.

Hilfe holen
Manchmal erleben Kinder Situationen, die sie nicht alleine lösen können. Manchmal erleben sie, dass ihr „Nein“ nicht gehört und einfach übergangen wird. Sie haben das Recht, sich Unterstützung und Hilfe zu holen.




WAS KANN ICH TUN, WENN ICH SEXUELLE GEWALT VERMUTE?

Wenn pädagogische Fachkräfte sexuellen Missbrauch vermuten, gilt es, sich zuerst einmal einen Überblick über den Sachverhalt zu verschaffen.

Ruhe bewahren
Die Vermutung eines sexuellen Missbrauchs löst vielfältige und Gefühle aus. Zunächst gilt es also, Ruhe zu bewahren, sich fachliche Unterstützung zu holen und die nächsten Schritte zu planen.
Wahrnehmung des Kindes

Nicht alle betroffenen Kinder und Jugendlichen zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Nur selten finden sich auch körperliche Spuren. Daher gilt es, auf Verhaltensänderungen zu achten. Dabei ist es wichtig, die Verhaltensweisen als Strategie oder Symbolsprache des Kindes zu verstehen und nicht zu früh zu interpretieren, was der Auslöser ist.

Kontakt zum Kind stärken
Seien Sie offen, interessiert und gesprächsbereit. Je mehr Sie dem Kind eine eigene Meinung und Bewertung zugestehen, desto leichter fällt es die belastenden Geheimnisse zu offenbaren.
Beobachtungen notieren

Oft ist es hilfreich, Beobachtungen zu Verhaltensänderungen festzuhalten. Das dient zum einen der inneren Klärung – also der Frage, wie diese Veränderungen einzuordnen sind – und zum anderen einer später notwendigen Dokumentation. Dazu gehört auch das Festhalten aller körperlichen, psychischen, sozialen und familiären Veränderungen.

Austausch mit anderen
Wenn Sie sich Sorgen machen, sprechen Sie mit anderen Bezugspersonen, ohne die Vermutung des Missbrauchs zu stellen. Tauschen Sie sich über Veränderungen aus. Suchen Sie sich fachliche Unterstützung. Anlaufstellen finden Sie online auf www. hilfeportal-missbrauch.de. Unterstützung bietet das Hilfetelefon Missbrauch unter 0800 22 55 530.

Denken Sie an sich und Ihre Kräfte
Seien Sie sich Ihrer Haltung bewusst. Niemand kann ein solches Problem alleine lösen.



*Name durch die Redaktion geändert

Weitere Informationen auf
www.innocenceindanger.de und www.kein-raum-fuer-missbrauch.de

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
"Meine Kita" 01-19, S. 14-16


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