Lerngeschichten und Resilienzförderung bei Kindern unter drei (Review)

Die Bildungs- und Interaktionsprozesse in den ersten drei Jahren stehen im Fokus der Ausgabe 1-2018 von „Frühe Bildung“. Wie die Herausgeberinnen Iris Nentwig-Geesemann und Susanne Viernickel einführen, wird der „Aufbau von stabilen, gefühlsmäßig besetzten besonderen Beziehungen zu anderen Menschen und die emotionale Sicherheit, die aus solchen Beziehungen erwächst“ als Grundvoraussetzung dafür betrachtet, „dass sich Kinder aktiv, explorierend und angstfrei in ihrer räumlich-materialen und sozialen Umwelt auseinandersetzen und Bildungserfahrungen machen können“.

Insbesondere die Interaktionsqualität zwischen Bezugspersonen und Kindern habe nach Forschungsergebnissen demnach einen hohen Einfluss auf die kindliche Bildung und Entwicklung. Allerdings sei das komplexe Wechselverhältnis von Bildungs- und Interaktionsprozessen in Teilbereichen bisher unzureichend erforscht. Neue Erkenntnisse werden in diesem Heft nun unter anderem in Bezug auf die Eignung von Lerngeschichten als Bildungsdokumentation für Kinder in den ersten drei Lebensjahren sowie im Hinblick auf die Frage, wie die alltagsintegrierte ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. förderung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren gelingen kann, vorgestellt.

Lerngeschichten

Helen Knauf von der Hochschule Fulda untersuchte in ihrer Studie theoretisch und empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden., ob sich das in Neuseeland von Margaret Carr entwickelte Konzept der Lerngeschichten als Instrument der Bildungsdokumentation für Kinder in den ersten drei Lebensjahren eignet. Grundsätzlich sei die Bildungsdokumentation heute „ein fester Bestandteil der Tätigkeit pädagogischer Fachkräfte“ (S. 4) und hierbei spielten die Lerngeschichten von Carr eine zentrale Rolle. Durch das Erkennen von Lerndispositionen im Handeln der Kinder „soll es möglich werden, individuelle Bildungsprozesse präzise wahrzunehmen und gezielt zu fördern“ (ebd.). Nach Carr werden anhand von exemplarisch ausgewählten Alltagssituationen mit den Lerngeschichten folgende fünf Lerndispositionen in den Blick genommen:

  • Interessiert sein
  • Engagiert sein
  • Standhalten bei Widerständen
  • Kommunikation mit anderen
  • Verantwortung übernehmen

Wie Helen Knauf weiter ausführt, zeige die Auswertung der Literatur über Lerngeschichten, dass neben der Betrachtung von Lerndispositionen noch folgende weitere Faktoren die Lerngeschichten für die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren als geeignet erscheinen lassen:

  • Stärkenorientierung
  • Wahrnehmung von Bildung
  • Herstellen von Beziehungen
  • Subjektivität der Beobachtung und der Interpretation
  • Zugänglichkeit für Kinder

Für ihre empirische Studie griff Helen Knauf auf Teile eines Datenkorpus‘ des Projektes „Lerngeschichten: Exploration der Praxis pädagogischer Dokumentation in deutschen Kindertageseinrichtungen“ zurück. Die Teilstichprobe umfasste dabei 111 Lerngeschichten aus 23 verschiedenen KiTas in Deutschland. Ziel der Auswahl sei die „größtmögliche Varianz von Lerngeschichten“ (S. 6) gewesen.

In der Auswertung kommt Helen Knauf zu dem Schluss, dass sich in fast allen untersuchten Lerngeschichten „ein Bezug zu einer oder mehreren Lerndispositionen erkennen“ (S.7) lässt. Verbindendes Glied sei dabei die positive Darstellung der Aktivitäten des Kindes. In 71 der untersuchten Lerngeschichten würden alltägliche Situationen geschildert, in 40 hingegen bewusst hergestellte pädagogische Settings. 83 der Lerngeschichten seien als Brief an das Kind geschrieben und reich bebildert und daher für diese potenziell zugänglich. Allerdings enthalte etwas ein Drittel der Lerngeschichten „sprachliche Hindernisse: lange und komplizierte Sätze, Fremdworte und Nominalisierungen“ (S. 8). Die Autorin identifiziert hier einen Zielkonflikt zwischen möglichst einfach geschriebenen und für Kinder leicht zugänglichen Lerngeschichten und dem Anspruch andererseits „methodisch korrekt und differenziert [zu] sein“ (S. 9). Grundsätzlich kommt sie zu dem Schluss, dass Lerngeschichten eine „geeignete Form der Bildungsdokumentation für Kinder in den ersten drei Lebensjahren“ sein können.

Resilienzförderung

Aus einer explorativen Studien berichten Silke Kaiser und Klaus Fröhlich-Gildhoff, wie eine alltagsintegrierte Resilienzförderung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren gelingen kann. Dafür wurde eine curriculumsbasierte Weiterbildung für pädagogische Fachkräfte konzipiert. Umgesetzt wurde diese „in einem ersten Schritt mit den Teams von drei Kinderkrippengruppen [...] und in einem Kontrollgruppendesign mit zwei Kontrollgruppen mit quantitativen und qualitativen Methoden evaluiert“ (S. 13).

Grundsätzlich unterstreichen Kaiser und Fröhlich-Gildhoff, dass die Prozessqualität in KiTas ganz entscheidend durch die professionelle Fachkraft-Kind- und zugleich gruppenbezogene Interaktion geprägt werde und dass positive Zusammenhänge zwischen hoher Interaktionsqualität (gekennzeichnet u.a. durch Feinfühligkeit, sensitive Responsivität, Wertschätzung) und der kindlichen Entwicklung (vgl. ebd.) existieren. Resilienz beziehe sich dabei eng gefasst „auf die ‚erfolgreiche‘ Bewältigung von Krisen und Entwicklungsrisiken, weiter gefasst auf die positive Bewältigung von Krisen, Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen des Alltags (ebd.).

Neben der „sicheren Beziehungsgestaltung als außerpersonalem Schutzfaktor“ seien bei Förderkonzepten folgende sechs Resilienzfaktoren besonders zu beachten:

  • Adäquate Selbst- und Fremdwahrnehmung
  • Gute Selbststeuerungsfähigkeiten
  • Positive Selbstwirksamkeitserwartungen
  • Soziale Kompetenzen
  • „reife“ Problemlösefähigkeiten
  • Adaptive Bewältigungskompetenzen

Im Rahmen der Weiterbildung im Umfang von 20-26 Unterrichtsstunden sollten die Fachkräfte nun „dazu befähigt werden, entwicklungs- und resilienzförderliche Beziehungen zu gestalten“ (S. 14) und die oben angeführten Faktoren für Resilienz in Schlüsselsituationen des Krippenalltags (wie Essen, Pflegesituationen, Freispiel etc.) zu stärken. Dafür galt es insbesondere die Haltung (handlungsleitende Orientierungen) hinsichtlich einer ressourcen- und stärkenorientierten Interaktionsgestaltung mit den Kindern sowie das eigene Interaktionsverhalten z.B. mit Hilfe von Videoanalysen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. (vgl. ebd.)

In den drei Durchführungsgruppen wurden insgesamt rund 75 Kinder zwischen 0 und 6 Jahren (darunter 30 unter Dreijährige) von 18 Fachkräften betreut. An der Weiterbildung nahmen über die Dauer der Erhebung 20 Fachkräfte aus dem U3-Bereich teil, wobei über die Dauer von 15 Monaten letztlich nur vier Fachkräfte konstant dabei waren.

Untersucht wurde die „komplexe Intervention“ (S. 15) in einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Verfahren, so zum Beispiel durch standardisierte, selbstentwickelte Protokollbögen, die teilnehmende Beobachtung oder Videofeedback. Zum Vergleich der Einrichtungen wurde die revidierte Krippenskala KRIPS-R von Tietze et al. eingesetzt. Hierbei bewegten sich die Gruppen „während des gesamten Zeitraums in der Zone mittlerer Qualität“ (S. 17). Direkt nach der Intervention stiegen die Werte sowohl in der Durchführungsgruppe (DG) als auch (erstaunlicherweise) in den Kontrollgruppen (KG) an, um dann bei den KG unter den Ausgangswert zu sinken und bei der DG über dem Ausgangswert zu bleiben (vgl. ebd.). Als besonders „ergiebig und positiv“ (ebd.) wurden seitens der teilnehmenden Fachkräfte die stärken- und ressourcenorientierten Videoreflexionen erlebt und auf der „Ebene der Selbsteinschätzung [wurde] eine signifikante verbesserte Einschätzung der Interaktion zwischen Fachkraft und Kind besonders deutlich“ (S. 19). Im Hinblick auf die konzipierte Weiterbildung zeigte sich, „dass der Grundansatz des Curriclulums – die Reflexion der handlungsleitenden Orientierungen, die Orientierung resilienzförderlichen Handelns an den Schlüsselsituationen und die intensive Arbeit bzw. Reflexion mit den eigenen Video-Sequenzen – gut umzusetzen war. Die Analyse der Studie wird im Hinblick auf weitere Forschungsfragen in den nächsten Monaten noch weiter vertieft.


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