Spurensuche: Wie Biographiearbeit pädagogisches Handeln ändert

Warum gelingt es einem Vater partout nicht, Grenzen zu setzen? Weshalb besteht eine Kollegin darauf, dass alle Kinder gleichzeitig mit dem Essen beginnen? – Anja Cantzler zeigt auf, dass ein reflektierender Blick auf die eigene Biografie oder die der anderen Beteiligten oft zu besserem Verständnis beiträgt.

Kinder, Eltern, ErzieherInnen: In jeder Kita kommen Menschen mit unterschiedlichen Biografien zusammen und meist kommen alle gut miteinander klar. Kommt es dennoch einmal zu Unstimmigkeiten, kann der Blick in die Lebensgeschichte hilfreich sein. Lebenserfahrungen beeinflussen unser Denken und Handeln und nicht immer sind wir uns dieser Prägungen bewusst; der Prägungen der anderen wie auch unserer eigenen.

Das Beispiel im Kasten zeigt, wie eine Erzieherin die Lebensgeschichte eines Vaters reflektiert und dessen Handlungen besser verstehen lernt. Der Perspektivenwechsel schafft die Voraussetzung, dem Vater offen begegnen und dessen Umgang mit seinem Sohn empathischer begleiten zu können.



Beispiel aus der Praxis

Bei einer Weiterbildung zum Thema »Wut, Trotz und Aggressionen im Kleinkindalter« beschreibt eine Erzieherin ein zweieinhalbjähriges Kind, das sich gegenwärtig seinen Eltern gegenüber in einer sehr ausgeprägten »Trotzphase« zeigt. Sie beklagt, dass sich der Vater trotz mehrmaliger Beratungsgespräche ausdrücklich weigert, dem Kind Grenzen zu setzen. Für diese offensichtliche Verweigerung empfindet sie starkes Unverständnis.

Gezieltes Nachfragen bei der Erzieherin nach den Lebensumständen dieser Familie enthüllt die militärisch geprägte Vergangenheit des Vaters. Als Sohn eines britischen Generals besuchte er eine militärisch ausgerichtete Schule und wurde später selbst Soldat. Bevor er an der strengen Disziplin innerlich ganz zerbricht, quittiert er den Militärdienst entgegen den Wünschen seiner Herkunftsfamilie. Grenzen setzen bedeutet für ihn Bestrafung und Bevormundung, die er seinem eigenen Sohn ersparen möchte.

Im Wissen um dieses prägende Detail aus der Lebensgeschichte des Vaters erlangt die Erzieherin eine neue Sichtweise. Sie beginnt, seine sehr nachgiebige Haltung zu verstehen und beschließt, ihre neue Sichtweise im nächsten Elterngespräch einzubringen. Die Chancen stehen jetzt gut, gemeinsam mit dem Vater zu überlegen, wie er seinem Kind durch klares Handeln Sicherheit und Orientierung geben kann, ohne das Gefühl, er greife auf Verhaltensweisen zurück, die er selbst negativ und einengend erlebte.



Lebensmuster erkennen

Die Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten anderer ist ein wesentlicher Bestandteil von Biografiearbeit. Sie eröffnet der pädagogischen Fachkraft ein Lernfeld, in welchem sie eigene Einstellungen und Haltungen mit denen anderer vergleicht und aufeinander abstimmt. Ursprünge und Wurzeln verschiedener Denk- und Handlungsweisen bezieht sie dabei ebenso mit ein, wie die Unterschiedlichkeit der Lebenswege und individuellen Erfahrungen. Dies öffnet ihr die Chance auf einen Perspektivenwechsel, eine andere Sichtweise auf Situationen und Personen.

Biografiearbeit
  • hilft Unterschiede zu erkennen,
  • deckt eigene Bewertungsmuster auf,
  • ermöglicht es, neue Informationen zu gewinnen,
  • reflektiert die eigenen Denk- und Handlungsweisen und
  • hilft, das eigene pädagogische Handeln sinnvoll und der
  • Ausgangssituation angemessen zu ändern.

Neben der Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten der Kinder, Eltern und auch denen der KollegInnen, beinhaltet Biografiearbeit somit auch die Selbstreflexion anhand der eigenen Biografie. Dafür rückt die pädagogische Fachkraft sich selbst mit all ihren individuellen Empfindungen und Interpretationen in den Blickpunkt. Aus der Beobachtung und Reflexion aktuellen beruflichen Handelns im Zusammenhang mit ihrer eigenen Vergangenheit entwickelt sie neue Lösungswege für zukünftiges Handeln.

Wir wissen inzwischen, dass die Umsetzung theoretischer Erkenntnisse in die pädagogische Praxis nur dann gelingt, wenn das neue Wissen für die einzelne Fachkraft als praxisnah, stimmig und anschlussfähig an das Bestehende und Bekannte erlebt wird. Deshalb gewinnt Biografiearbeit in der pädagogischen Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern oder auch im Rahmen von Teamentwicklung seit Jahren an Bedeutung. Aus der Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte sind biografieorientierte Lernprozesse nicht mehr wegzudenken.

Eine Biografie, viele Aspekte

Jede Biografie besteht aus verschiedenen Teilbiografien (1), die von pädagogischen Fachkräften oder Mitgliedern eines Teams aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet und reflektiert werden können. Im Folgenden stelle ich Ihnen einige solcher Teilbiografien mit beispielhaften Anregungen für die Reflexion vor.

Bei der sozialen Biografie liegt der Fokus auf den Lebensverhältnissen der einzelnen Personen. Daraus ergeben sich Fragen, wie z.B.:

  • Welchen sozialen Hintergrund habe ich selbst? Welchen haben die Kinder, die Eltern, meine KollegInnen?
  • Wie ist meine innere Einstellung zu den Lebensbedingungen der Kinder und ihrer Familien in unserer Kita? Gibt es Parallelen und Unterschiede zu meinen eigenen vergangenen oder aktuellen Lebensbedingungen?
  • Welches Familienmodell habe ich selbst erlebt?
  • Welchen Familienmodellen begegne ich in meinem pädagogischen Umfeld?
  • Welches Ideal von Familie prägt meine Vorstellung?
  • Inwieweit beeinflusst dieses Ideal mein Denken und Handeln im Umgang mit den Kindern und Eltern?

Um Lebensverhältnisse und Familienmodelle näher zu betrachten, lege ich zu Beginn der Biografiearbeit Karten (2) in die Mitte des Raumes, auf denen unterschiedliche Familien und Familienkonstellationen abgebildet sind. Jede pädagogische Fachkraft wählt eine Bildkarte aus, die der eigenen früheren Familienkonstellation am nächsten kommt. Die Karten sind ein guter Aufhänger, um das Team mit den eigenen Hintergründen und Prägungen vertraut zu machen. Dieser Austausch hilft jedem und jeder TeamkollegIn zu verstehen, warum KollegInnen aufgrund ihrer anderen Lebensumstände anders denken und handeln als man selbst. Gleichzeitig unterstützt der Austausch die TeamkollegInnen dabei, eine annehmende Haltung auch bezüglich der verschiedenen Betreuungshintergründe und Lebensumstände von Kindern und deren Familien zu entwickeln.

Die Entwicklungsbiografie beschäftigt sich vorrangig mit Fragen zu den sozialen Beziehungen und deren Bedeutung für die persönliche Entwicklung:

  • Wann und durch wen habe ich Wertschätzung erfahren?
  • Wie bin ich mit Ablehnung und Abwertung umgegangen?
  • Was sind meine persönlichen Kompetenzen und Fähigkeiten?
  • Was fällt mir leicht, was eher schwer?
  • Wie wurde in meinem familiären Umfeld früher miteinander kommuniziert?
  • Wie wurde mit Konflikten umgegangen?

In diesem Fragenkontext kann eine Collage angefertigt werden. Jedes Teammitglied klebt dafür zunächst ein von zu Hause mitgebrachtes Foto von sich selbst in die Mitte eines Papierbogens. Um das eigene Foto herum klebt es dann weitere Fotos von Menschen, die in seiner Kindheit, in der Jugend und im Erwachsenenalter wichtig, prägend und stützend waren oder es immer noch sind. Während dieses gestalterischen Prozesses beantworten sich die Teammitglieder die oben genannten Fragen zuerst innerlich und tauschen ihre Antworten anschließend mit der Gruppe aus.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklungsbiografie kann im Umgang mit Kindern, Eltern und KollegInnen helfen, deren Verhalten man zuvor nicht nachvollziehen konnte. Das eigene, erlernte Denken und Handeln wird beleuchtet und mit dem der anderen in Beziehung gebracht. Dies unterstützt den verstehenden Zugang zu Verhalten von Kindern und ihren Eltern, das vom eigenen Denken und Handeln abweicht.

Bei der Kultur-Biografie steht neben dem Kontakt mit Kultur im engeren Sinne, also Kunst, Oper, Theater, Musik etc., die einflussnehmende Alltagskultur im Mittelpunkt, die sich in Kleidung, Wohnung und Essen ebenso wie in Alltagsritualen und Gewohnheiten spiegelt. Daraus können sich Fragen ergeben, wie z.B.:

  • Welche Rolle spielten in meiner Kindheit Bücher, Medien, Museen, Theater und Musik?
  • Welche Bedeutung hatten gemeinsame Mahlzeiten?
  • Was wurde bei uns gegessen und getrunken?
  • Wo wurde gegessen?
  • Bekamen meine Geschwister und ich neue Kleidung, oder trugen die jüngeren die Kleidung der älteren auf?

Die Kultur-Biografie beziehe ich gern mit ein, wenn es im Team um Themen wie Umgang mit Medien, angemessene Spielkleidung, gesundes Essen, Schlafen etc. geht. Themen, die im pädagogischen Alltag eines Teams relativ häufig zu Reibungen und Konflikten führen. Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen Themen vor dem Hintergrund der eigenen Biografie kann zum gegenseitigen Verständnis beitragen, Konfliktthemen emotional entschärfen und damit eine Basis schaffen, auf der die Konflikte sachlich angegangen und gelöst werden können.

Als Einstieg in die Auseinandersetzung und Bearbeitung, z.B. der Esskultur, gestalten alle zusammen ein gemeinsames, sogenanntes biografisches Buffet. Es besteht aus den – von den TeilnehmerInnen mitgebrachten – Leibspeisen und Lieblingsgetränken aus deren Kindheit. Beim gemeinsamen Essen tauschen sie sich in der Gruppe darüber aus, ob und inwieweit sich diese Essensvorlieben seither verändert haben.

Die Mytho-Biografie umfasst Fragen zu Glaubenseinstellungen und Weltanschauungen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und grundlegend Einfluss auf die Weiterentwicklung nehmen:

  • Wie wurde in meiner Kindheit Glaube und Religion praktiziert?
  • Hatte ich Kontakt zu anderen Religionen?
  • Welche Botschaften, Glaubensgrundsätze, Werte und Normen waren in meiner Herkunftsfamilie wichtig?

Botschaften, Glaubensgrundsätze, Werte und Normen beeinflussen das pädagogische Handeln oft nachhaltig – positiv wie negativ. In Zeiten religiöser DiversitätDiversität|||||siehe Diversity und Vielfalt, auch in der Kita, ist die Auseinandersetzung hinsichtlich dieser eigenen Prägung elementar, denn sie ist die Grundlage dafür, wie offen bzw. vorurteilsbewusst eine Fachkraft Andersgläubigen gegenübertritt.

Zur Auseinandersetzung mit dem eigenen religiösen Hintergrund bringen die pädagogischen Fachkräfte Symbole und Gegenstände mit, die sie mit den verschiedenen Religionen assoziieren. Diese Sammlung nehmen wir als Ausgangspunkt für die biografische Reflexion anhand der oben genannten Fragen und weiterer Fragen, die sich im Verlauf der Reflexion stellen. Durch den Austausch darüber, wann uns diese Symbole im Laufe unseres Lebens begegnet sind und was wir damit verbinden, kommen die Teammitglieder in Kontakt mit den eigenen Vorurteilen und deren Wurzeln. Die Vergegenwärtigung dieser Ursprünge eröffnet einen reflektierten und bewussteren Zugang zu den eigenen Vorbehalten gegenüber den Glaubensgrundsätzen, Werten und Normen anderer Menschen und Kulturen. Dies bildet die Basis für einen vorurteilsbewussteren Umgang mit und einen verstehenden Zugang zu dem mit dem Fremdartigen der Kinder, Eltern und KollegInnen.

In der Lern- und Bildungsbiografie benennen wir die formalen Bildungsabschlüsse und reflektieren insbesondere vermeintlich beiläufige Lernprozesse und -ergebnisse. Fragen dafür können sein:

  • War ich selbst im Kindergarten?
  • Welche Vorstellung von Lernen habe ich?
  • Welchen Bildungsweg bin ich gegangen?
  • Hatte/habe ich Spaß am Lernen?
  • Wann war Lernen für mich mit Leichtigkeit verbunden?
  • Wann habe ich mir selbst etwas beigebracht? Was war das?
  • An welche ErzieherInnen und LehrerInnen erinnere ich mich gerne?
  • In welcher Hinsicht waren diese Personen Vorbilder für mein heutiges pädagogisches Handeln?

Die Fragen unterstützen den Diskussionsprozess eines Teams insbesondere in Bezug auf Selbstbildungsprozesse von Kindern und die Rolle der pädagogischen Fachkraft als ihre Lern- und EntwicklungsbegleiterIn. Als Einstieg dienen Bilder und Fotos aus der Kita- und/oder Schulzeit der Teammitglieder.

Sehr gut lässt sich die Lern- und Bildungsbiografie aber auch in der Arbeit mit den Eltern nutzen. Im Rahmen eines Informationsabends z.B., an dem wir den Eltern vermitteln wollten, wie ihre Kinder beim Spielen lernen, ließ ich die Eltern zu Beginn malen, was sie selbst am liebsten in ihrer Kindheit spielten. Ein anschließender Austausch über die eigenen Lernwege als Kind, öffnete den Blick für eine tiefgründigere Sichtweise auf die Bedeutung des Spiels auch für Lernprozesse.

Die geschlechtsspezifische Biografie umfasst die Betrachtung der eigenen Geschichte unter geschlechtersensiblen Gesichtspunkten:

  • Welches Rollenbild haben mir meine Eltern vorgelebt?
  • Welche Vorstellungen habe ich darüber, wie Jungen und Mädchen sind oder sein sollten?
  • Wie war und ist mein Umgang mit Sexualität, wie war der meiner Eltern?
  • Fühle ich mich wohl in meiner Rolle als Frau oder Mann?

Diese Aspekte zu reflektieren, ist besonders dann wichtig, wenn es um die gemeinsame Entwicklung eines sexualpädagogischen und geschlechterbewussten Konzeptes für die Kita geht.

Lebenslandkarte


Die Biografie nationaler Herkunft schließlich berücksichtigt Bedingungen und Lebensverläufe, die von kulturellen Wurzeln und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität geprägt sind. Daraus ergeben sich folgende Fragen:

  • Welche Staatsangehörigkeit habe ich?
  • Habe ich einen Migrationshintergrund?
  • Welcher Kultur fühle ich mich zugehörig und verbunden?
  • Welche Werte und Normen sind mit diesem kulturellen Hintergrund verknüpft?
  • In welchen Situationen oder Fragestellungen stoße ich im Kontakt mit anderen Menschen an kulturelle Grenzen?
  • In welchen Bereichen stehe ich mit Menschen aus anderen Kulturen in gutem Kontakt?

Um diese Fragen zu reflektieren, können die pädagogischen Fachkräfte – jede und jeder für sich – eine sogenannte Lebenslandkarte erstellen. Diese unterteilen wir in verschiedene Lebensabschnitte: Kindheit, Jugend, junges Erwachsensein und das Erwachsensein der Gegenwart. Diesen Lebensabschnitten ordnen wir Symbole oder Beschreibungen zu, die die Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Kultur und den Zugang zu anderen Kulturen repräsentieren. Unsere eigenen Polaritäten und Widersprüchlichkeiten decken wir auf, indem wir den Lebensabschnitten bewusst positive und negative Erlebnisse zuordnen. Dies trägt zu einem reflektierten Umgang mit der eigenen nationalen Herkunft bei.

In akuten Konfliktsituationen oder bei der Entwicklung einer inklusiven, vorurteilsbewussten und kultursensiblen Kitapraxis ist biografische Selbstreflexion nahezu unumgänglich.

Im Rahmen von Dienstbesprechungen, Teamtagen oder anderen Fort- und Weiterbildungen, in denen Biografiearbeit explizit Thema ist, bieten sich viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Gerade zu Beginn der Beschäftigung mit Biografiearbeit kann es sinnvoll sein, Angebote wie z.B. Kurse, Seminare, Workshops, Einzel- und/oder Teamsupervisionen bei ReferentInnen oder SupervisorInnen zu nutzen, die in diesem Verfahren geschult sind.

Lesetipps


  • Cantzler A. (2014): Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Biografie. www.kita-fachtexte.de
  • Gudjons H., Wagner-Gudjons B., Pieper M. (2008): Auf meinen Spuren. Übungen zur Biografiearbeit. Bad Heilbrunn
  • Miethe I. (2011): Biografiearbeit – Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim
  • Ruhe H. (2003): Methoden der Biografiearbeit – Lebensspuren entdecken und verstehen. Weinheim


(1 )Vgl. Klingenberger, H. (2003): Lebensmutig. München, S. 106ff
(2) Die Karten sind aus: Das Familienspiel, www.betrifftkindershop.de



Übernahme des Beitrag mit freuundlicher Genehmigung vom Verlag Das Netz aus Betrifft Kinder 10-2016, S. 6-11


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