Grounded Theory

Die Grounded Theory (GT) ist ein Forschungsstil, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er Freiheiten lässt und sich somit für viele Gegenstände eignet. Diese Offenheit ist konzeptuell, wobei die Prämisse dieses Stils in einer engen, konsequenten Gegenstandsbezogenheit liegt. Um das Besondere der Grounded Theory nachvollziehen zu können, ist es notwendig, einen Blick in die Wissenschaftsgeschichte zu werfen.


Entstehung als Methodologie

Als Gegenentwurf zur ‚soziologischen Normalwissenschaft' der 1960er Jahre, wird in der Grounded Theory nach dem Prinzip geforscht, Theorien aus den Daten zu entwickeln und nicht Theorien anhand von Daten zu überprüfen. Als ,Väter' der GT sind Glaser und Strauss zu bezeichnen. Sie entwickelten die Methoden und den Forschungsstil einer Grounded Theory im Prozess ihrer Studie ‚Awareness of Dying' (1965; dt.: Interaktion mit Sterbenden, 1974). Die Konzeptionierung beziehungsweise Manifestierung der Grounded Theory wurde von der allgemeinen Aufbruchsituation im Rahmen der Studentenbewegung begünstigt. Grundgelegt wurde die GT in dem Werk ‚The Discovery of Grounded Theory' (1967; dt.: 1998). In einem Interview mit H. Legewie und B. Schervier Legewie erläutert Anselm Strauss rückblickend dazu:


„Der Titel ‚The Discovery of Grounded Theory' (1967; dt.: 1998), zeigt schon, worauf es uns ankam: nicht wie die üblichen Methodenbücher die Überprüfung von Theorie, sondern deren Entdeckung „aus den Daten heraus". Grounded Theory ist keine Theorie, sondern eine Methodologie, um in Daten schlummernde Theorien zu entdecken.


Wir verbanden drei Zielsetzungen mit dem Buch: Erstens versuchten wir, qualitative Forschung, die damals nicht anerkannt wurde, zu legitimieren. [...] Zweitens wollten wir Funktionalisten wie PARSONS und MERTON attackieren. [...] wir wandten uns gegen diese „überlieferten Theorien" [...]. Deswegen hat das Buch diese aktive und scharfe Diktion. [...]


Der dritte Grund war die Darstellung der Möglichkeit von Theoriebildung aus den Daten heraus. Das wird ja bis heute von vielen qualitativen Forschern bezweifelt. Die meisten begnügen sich mit ethnografischen Beschreibungen wie die frühen Chicagoer." (Veröffentlicht in: FQS Volume 5, No 3, Art. 22, 2004).


In Arbeiten nach oder mit der Grounded Theory geht es demzufolge um das Herausbilden einer modellhaft-theoretischen Gegenstandssystematik. Empirische Phänomene werden als Universalie verstanden. Grundsätzlich lässt sich die GT in fast allen denkbaren Forschungsbereichen anwenden, die den Menschen in seiner Alltagswelt zum ‚Forschungsgegenstand' machen. Der Mensch wird dabei als Handelnder verstanden, dessen Alltagswelt sozial, kulturell, historisch und biografisch konstituiert ist. Ziel und Aufgabe der Forschenden ist es im Forschungsprozess bzw. in den Forschungsarbeiten das Datenmaterial aufzubrechen und die jeweils relevanten Dimensionen in Sinn- und Bedeutungszusammenhängen darzustellen. So wird eine andere Sichtweise als eine abstrakt-theoretische auf den Gegenstand möglich.


Die schrittweise vollzogene Präzisierung der Grounded Theory, die durch Strauss im Sinne einer Methode mit konkreten Handlungsschritten ausgeweitet wurde, führte zum Bruch zwischen Glaser und Strauss. Nach diesem entwickelten sich zwei ‚Schulen' jeweils mit starken SchülerInnen, die wiederum zu unterschiedlichen Akzentuierungen in der Theoriegeschichte führten.


Grounded Theory als Methode

In der Grounded Theory geht es – anders als in anderen qualitativen Forschungsmethoden, wie zum Beispiel der Dokumentarischen Methode – nicht um die Rekonstruktion eines Einzelfalls mit anschließender Typenbildung. Ziel in der GT ist es hingegen, aus dem Datenmaterial schnell zur Ebene der Konzeptbildung voran zu schreiten. Es ist methodisch nicht notwendig sich zunächst auf die Rekonstruktion eines Einzelfalls zu beschränken. Im Gegenteil ist es hier unerlässlich, schon früh aus der „einzelnen Geschichte auszubrechen", um die Theoriegenerierung voran zu treiben (vgl. Glaser; Strauss 1998, 114). Der Forschungsprozess ist in einem nach den Prinzipien der GT angelegten Forschungsvorhaben als hermeneutischer Verstehensprozess angelegt. Das bedeutet, dass permanent das Voranschreiten im Prozess (der aber zirkulär und nicht linear zu denken ist) deutlich gemacht werden muss, damit die Transparenz und die Nachvollziehbarkeit erhalten bleiben.


Forschungsprinzipien in der Grounded Theory

In Arbeiten der Grounded Theory wird das Sample nicht zu Beginn der Studie festgelegt, sondern es wird sukzessive gebildet. Die Datenerhebung ist kein abgeschlossener Prozess, der der Auswertung der Daten voran geht, in der GT begleitet diese den Forschungsprozess. Dieses sogenannte Theoretical Sampling beschreibt das Prinzip der Datenauswahl beziehungsweise die Entstehung des Samples. Darunter lässt sich verstehen, dass erste aus den Daten gewonnene Erkenntnisse die Auswahl weiterer Daten leiten. Bestimmt wird diese Erweiterung durch den minimalen beziehungsweise maximalen Vergleich thematisch ähnlicher Sequenzen. Somit ist bereits die Datenerhebung theoriegeleitet. Das Datenmaterial wird zeitgleich kodiert und analysiert. Der parallele Prozess von Datenerhebung und Datenauswertung wird solange vorangetrieben, bis sich aus weiteren Daten keine neuen Erkenntnisse mehr schließen lassen und eine sogenannte theoretische Sättigung erreicht ist. Das Memo schreiben ist ein weiteres zentrales methodisches Prinzip im Forschungsprozess. Hier geht es darum, Ideen zu notieren, die während des Kodierens entstehen (vgl. Glaser und Strauss 1998). Grundsätzlich können in jeder Phase des Kodierprozesses Memos einem Projekt, einer Textgruppe, einem Gesamttext, einzelnen Textstellen oder einem Code zugeordnet werden.


Kodieren als zentrale Tätigkeit im Forschungsprozess

Im Zentrum der Grounded Theory steht das sorgfältige Kodieren der Daten. Die Ausgangsidee für das Kodieren besteht in der Annahme, dass Wesentliches in den Daten unsichtbar ist, weil es hinter den offensichtlichen Phänomenen liegt. So ist das Kodieren ein kreativer Akt, in dem Konzepte aus dem Material erschlossen oder gebildet werden. Es geht darum, verschiedene ‚Lesarten' zu entdecken und treffend zu benennen, die später als erste Bausteine für das Entwickeln der Konzepte und Modelle verwendet werden (auch Modellierung genannt) (vgl. Nittel 2012).


Der Prozess des Kodierens findet über zwei analytische Verfahrensweisen statt: dem Anstellen von Vergleichen und dem Stellen von Fragen. Bei den Fragen handelt es sich um analytische Fragen, die der Generierung von Erkenntnissen dienen. Strauss und Corbin (1996) fassen dazu zusammen:


„Die analytischen Verfahren der Grounded Theory sind konzipiert worden, um
1. eher eine Theorie zu entwickeln, als sie nur zu überprüfen.
2. dem Forschungsprozess die notwendige methodische Strenge zu verleihen, die Theorie zur „guten" Wissenschaft macht.
3. dem Analysierenden zu helfen, seine mitgebrachten und während des Forschungsprozesses entwickelten Verzerrungen und Vorannahmen zu durchbrechen.
4. Für Gegenstandsverankerung (grounding) zu sorgen; Dichte, Sensibilität und Integration zu entwickeln, die benötigt werden, um eine dichte, eng geflochtene, erklärungsreiche Theorie zu generieren, die sich der Realität, die sie repräsentiert, so weit wie möglich annähert." (ebd. 39)

 

Schritte im Verfahren des Kodierens

Offenes Kodieren
Der erste Schritt der Analyse ist das Bennen und Kategorisieren der Phänomene. Die Daten werden aufgebrochen, indem diejenigen Vorfälle, Sätze oder Ähnliches (je nach Datenmaterial), die für ein Phänomen stehen, benannt werden. Wichtig ist hier, nicht lediglich zu beschreiben oder zu paraphrasieren, sondern zu konzeptualisieren und damit eine übergeordnete Begrifflichkeit zu finden bzw. zu verwenden. Hierfür sind eigene entwickelte Begrifflichkeiten ebenso denkbar, wie solche, die Bereits in Theorie und Wissenschaft verwendet werden, die ‚conceptual codes'. Gut geeignet sind auch sogenannte ‚In-vivo-Codes', hiermit sind Worte oder Bezeichnungen gemeint, die beispielsweise von den Interviewpartnern selbst benutzt werden und die Sichtweisen der Akteure treffend beschreiben. Den Daten werden möglichst viele Kodes zugewiesen und erste vorläufige Konzepte entwickelt. So werden Bezeichnungen oder Etiketten denen einzelne Ereignisse, Vorkommnisse oder andere Beispiele für Phänomene zugeordnet werden können als Konzepte verstanden (vgl. Strauss; Corbin 1996, 43). Indem verglichen und Ähnliches einander zugeordnet wird, lassen sich zunächst Phänomene identifizieren, denen entsprechende Konzepte zugeordnet und wiederum benannt werden. Auf diese Weise wird die Datenmenge strukturiert und erscheint reduziert. Das entstandene Bündel (Phänomen mit zugehörigem Konzept) wird als Kategorie bezeichnet. (vgl. Strauss/ Corbin 1996, 44).


Axiales Kodieren
Ziel des Axialen Kodierens ist es, über das Klassifizieren des Offenen Kodierens hinaus zu kommen und dementsprechend die Interpretation und Erklärung zu forcieren. Wurden die Daten mit dem Offenen Kodieren aufgebrochen, werden sie hier auf eine neue Art wieder zusammengesetzt. Damit werden Verbindungen und Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien sichtbar gemacht. Strauss und Corbin entwickelten ein Modell (auch Kodierparadigma), das das systematische Nachdenken über die Daten unterstützen soll (ebd. 1996, 78):
Im Prozess des Axialen Kodierens entsteht ein Entwurf von Zusammenhängen und Beziehungen zwischen den Kategorien, welche die Grundlage für die Hypothesenbildung sind. Wichtiges Moment ist das Dimensionieren von Eigenschaften – dem Vergleichen von Ausprägungen. Demnach gilt es, in den Daten Unterschiede und Ähnlichkeiten zu entdecken. Auch beim Axialen Kodieren werden ständige Vergleiche geführt. Diese orientieren sich an folgenden Schritten (ebd. 86ff):

  • In - Beziehung - Setzen von Subkategorien zu einer Kategorie
  • Weitere Entwicklung von Kategorien und Subkategorien in Bezug auf ihre Eigenschaften und dimensionalen Ausprägungen
  • Verknüpfen von Kategorien auf der dimensionalen Ebene
  • Komplexität
  • Hin- und Herpendeln zwischen induktivem und deduktivem Denken
  • Aufspüren von Beziehungen
  • Einsatz von Mini - Schemata und anderen Aufzeichnungsmethoden

 

Selektives Kodieren
Zusammenfassend lässt sich das Selektive Kodieren als Axiales Kodieren auf höherem Niveau bezeichnen. In diesem Phase des Prozesses ist es zentrale Aufgabe, die verschiedenen erarbeiteten Konzepte in eine (grounded) Theorie zu integrieren. Das zentrale Phänomen (die Kernkategorie) wird als Story line oder roter Faden der Geschichte (die Untersuchung mit ihren verschiedenen Geschichten oder Daten) dargestellt. Hierbei handelt es sich um einen analytischen Schritt, der nach einem abstrakten Niveau verlangt. Beziehungen, Ausprägungen und Verhältnisse werden zueinander ausgerichtet dargestellt, damit ein Gesamtbild entsteht. Wichtig bleibt aber auch hier die wiederholte Rückbindung an die Daten und die Absicherung durch diese.

 

Literaur:

 

  • Legewie,H.; Schervier-Legewie, B. (2004): „Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen". Anselm Strauss im Interview mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie. In: FQS Volume 5, No 3, Art. 22, 2004.
  • Nittel, D. (2012). Grounded Theory. In: Schäffer, B. (Hrsg.); Dörner, O. (Hrsg.): Handbuch qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung. Opladen. S. 183-195.
  • Strauss, A.; Corbin, J. (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim.


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