Begabungen und Selbstkompetenzen

Wer sich angenommen fühlt, lernt besser

Inhaltsverzeichnis

  1. Qualität der Beziehung
  2. Erwerb von Selbstkompetenzen
  3. Selbstkompetenzen und schulisches Lernen
  4. Diagnostik von Selbstkompetenzen
  5. Literatur

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Qualität der Beziehung


Die zentrale These dieses Beitrags lautet, dass die Entwicklung von Selbstkompetenzen maßgeblich von der Qualität der Beziehung zwischen Lernendem und Lehrendem abhängt. Das hat einen ganz einfachen Grund: Das Selbst kann sich am besten, in mancher Hinsicht sogar nur durch den Kontakt mit einem anderen Selbst entwickeln. Das liegt daran, dass die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstäußerung im Verlauf der Evolution des Menschen in erster Linie der sozialen Interaktion gedient hat. Soziale Bindungen werden erst dadurch gefestigt und vertieft, dass sich die Interaktionspartner gegenseitig ihre Befindlichkeiten mitteilen. So lässt anhand eines der frühesten Merkmale der Interaktion zwischen Mutter und Kind, der Erwiderung des Blickkontakts, bereits das Risiko einer Fehlentwicklung von Selbstkompetenzen abschätzen:

Kinder, deren Mütter nicht in der Lage sind, den Blickkontakt des Säuglings im Alter von sechs bis zwölf Wochen prompt (d.h. in weniger als einer Zehntelsekunde) zu erwidern, haben in der späteren Kindheit ein erhöhtes Risiko, psychosomatische Symptome zu entwickeln (z.B. Einnässen, Infektanfälligkeit, Stottern), die mit Defiziten bei der Emotionsregulation (z.B. Angstbewältigung) und der sozialen Anpassung (z.B. im Kindergarten) einhergehen (Keller/Gauda 1987). Heute werden bei der Untersuchung der Interaktion zwischen Säuglingen und ihren Bezugspersonen auch andere Merkmale untersucht, welche die zeitliche (und inhaltliche) Abstimmung (Synchronisierung) des wechselseitigen Verhaltens betreffen (Feldman 2003, 2006; Keller et al. 2004).

Wie stark die Beziehungserwartungen bereits bei Säuglingen die emotionale Befindlichkeit beeinflussen, zeigen z.B. die klassischen Untersuchungen zum »still face« und ähnlichen Phänomenen: Wenn Kindern das unbewegliche Gesicht der Mutter oder einer anderen Bezugsperson gezeigt wird oder wenn die mimische Reaktion der Mutter auf die Signale des Kindes auch nur um Bruchteile einer Sekunde verzögert über einen Monitor gezeigt werden, reagieren Kinder verstört (Murray/ Trevarthen 1985). Dass das Gesicht der Mutter über einen Videomonitor gezeigt wird, stört die Kinder nicht, solange ihre mimischen Reaktionen zeitgenau übertragen werden. Das bedeutet, dass Säuglinge bereits ein geistiges Erwartungsmodell haben, das millisekundengenau die Zeitverzögerungen festlegt, an denen zu erkennen ist, ob eine soziale Interaktion »gut« verläuft. Tut sie das, so hat dies eine beruhigende Wirkung auf das Kind. Ist der soziale Kontakt jedoch auch nur geringfügig gestört (z.B. erkennbar daran, dass die emotionale Reaktion der Mutter um Sekundenbruchteile verzögert gezeigt wird), ist das Kind beunruhigt.

Man geht heute davon aus, dass diese subtile Abstimmungsdynamik in der zwischenmenschlichen Interaktion lebenslang relevant ist, also auch in den Interaktionen zwischen LehrerInnen und SchülerInnenn, so kurz und selten sie auch sein mögen (vgl. auch Becker-Soll/Textor 2007). Ist die Synchronisierung des Emotionsausdrucks und anderer Interaktionsmerkmale auch nur leicht gestört, so wird dies bereits als eine Störung der Interaktion wahrgenommen. Die vielleicht folgenschwerste Auswirkung gestörter Interaktion ist die »Abschaltung« des Selbst: Wenn die Interaktion nicht mehr so erlebt wird, dass einer der Interaktionspartner (oder beide) sich als Person wahrgenommen fühlt, dann wird das Selbst abgeschaltet; wir sprechen auch von einer Hemmung des Selbst.

Die Hemmung des Selbst hat für die Entwicklung von Selbstkompetenzen schwerwiegende Folgen. In diesem Fall können selbst noch so gute Erfahrungen nicht in das Netzwerk persönlich relevanter Erfahrungen (d.h. ins Selbst) integriert werden. Das gilt insbesondere auch für Ermutigungen oder beruhigende Signale von Eltern, Freunden oder Leh rerInnen. Entwicklungspsychologen vermuten  schon seit Langem, dass die Fähigkeit des Erwachsenen, sich selbst zu beruhigen (bzw. zu motivieren), durch Verinnerlichung (Internalisierung) solcher beruhigenden (bzw. ermutigenden) Erfahrungen entstehen, die in der Kindheit (und auch in der Schule) durch die prompte und auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmte Reaktion von Bezugspersonen ausgelöst werden (Vygotski 1978). Hat die Bezugsperson nicht in dieser Weise auf die Signale des Kindes reagiert, steigt die Gefahr, dass sich das Kind ungeschützt fühlt und dass das Selbst abgeschaltet wird, weil es für die Steuerung der Interaktion nicht mehr gebraucht wird. Das Kind merkt schon an leicht verzögerten Reaktionen der Bezugsperson, dass diese nicht voll präsent und damit nicht zuverlässig zu seinem Schutz und seiner Versorgung verfügbar ist.



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