Der Kita-Alltag als Gesundheitsrisiko

Warum es Sinn macht, die feinfühlig-resonante Beziehungsqualität zwischen Fachkraft und Kind als Stress-Hemmer zu entdecken!


Die Stress-Faktoren im Kita-Alltag sind vielfältig: Fachkräftemangel, Mitarbeiterfluktuation und zu knapp bemessene Personalschlüssel sind hier bereits seit langem eine bedrückende Normalität, die es nun auch noch angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen zu bewältigen gilt. Von Kita-Fachkräften wird zudem stillschweigend erwartet, dass sie trotz schwieriger Rahmenbedingungen und trotz eines fortbestehenden Mangels an gesellschaftlicher Wertschätzung (sowie angemessener finanzieller Vergütung) die Betreuung möglichst entspannt ableisten, so dass die positive Entwicklung der Kinder gesichert ist.

Auch die robusteste Fachkraft kommt da schon mal an ihre Grenzen – dann herrscht Stress-Alarm in der Kita!

Was im Körper bei Stress passiert, wird gern anhand des berühmten Säbelzahntigers aufgezeigt: Wenn dieses bedrohliche Symbol-Tier auftaucht, ist Gefahr im Verzug und deshalb schaltet das Nervensystem automatisch und ohne zu zögern auf Notfallreaktion. Der Überlebensmodus ist angesagt: Der Herzschlag steigt, die Muskeln spannen sich an, die Atmung wird flach. Diese unwillkürlichen Anpassungen des Körpers laufen ohne Beteiligung des Bewusstseins ab und sind von der Natur nur für den Akutfall gedacht. Ist die Gefahr vorbei und ein sicherer Ort gefunden, regeneriert sich der Körper wieder. Eigentlich eine schöne und wertvolle Sache, um in gefährlichen Situationen mit Energie versorgt zu sein. Schwierig wird es erst, wenn der Notfall-Alarm immer häufiger auch ohne eine akute Lebensbedrohung ausgelöst wird und wenn zudem die Erholungsphasen immer kürzer werden oder ganz ausfallen. Dann können auch Gedanken wie „ich schaff das nicht mehr“ oder Geräusche wie das nervige Quengeln eines Kindes oder der Anblick eines vorwurfsvollen Elternteils säbelzahntigerähnliche Wirkung entfalten: Eine permanente Mobilisierung des autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Nervensystems ist die Folge. Bei einer subjektiv wahrgenommenen Existenzbedrohung ist die Reaktion noch heftiger: Der Körper wird im wahrsten Sinne des Wortes starr vor Schreck. Eine notorische Über-Mobilisierung wirkt sich ebenso wie eine anhaltende Erstarrung gesundheitsschädigend aus: Eine große Anzahl von Krankheiten lässt sich auf die stressbedingte Dauerbelastung des Körpers zurückführen.

Die vagale Bremse

Zurück zum Kita-Alltag: Der besteht im Wesentlichen aus vielen Momenten zwischenmenschlicher Interaktion. Für die Stressbewältigung in diesem speziellen Arbeitszusammenhang ist es besonders interessant, was der US-amerikanische Professor für Neurobiologie, Stephen Porges, bei der Erforschung des Autonomen Nervensystems entdeckt hat: Es gibt dort neben dem Mobilisierungs- und dem Erstarrungs-Modus noch einen dritten, evolutionär neueren Teil – Porges nennt ihn das „Social Engagement System“ (Soziales Engagement System). Wenn das aktiviert ist, ist der Mensch positiv gestimmt, offen und präsent, mit einem optimalen Zugriff auf seine kognitiven und kreativen Potenziale. Das „Soziale Engagement System“ (SES) wird vom ventralen Vagus gesteuert, und dieser wunderbare Nerv bringt es tatsächlich fertig, die tieferliegenden Stress-Systeme (Mobilisierung & Erstarrung) einfach auszuschalten oder – wie es in der Neuro-Sprache heißt: zu hemmen. Porges spricht hier von der „vagalen Bremse“: Wenn der ventrale Vagus durch positive soziale Interaktion aktiviert ist, ist es unmöglich, gleichzeitig im Angriff/Flucht- oder Erstarrungsmodus zu sein.

Ein Beispiel: Jemand rennt im maximalen Zeitstress zur U-Bahn-Haltestelle. Da fährt ein Auto an den Bordstein. Heraus schaut eine freundlich lächelnde, wohlbekannte Person und sagt: „Komm, steig ein, ich bring Dich hin.“ Wie fühlt sich das an? Entlastend? Beruhigend? Genau das ist die Wirkung der „vagalen Bremse“.

Die allermeisten Menschen betätigen diese vagale Bremse regelmäßig und vor allem Kita-Fachkräfte machen das häufig, ohne groß dar-über nachzudenken. Für sie ist es Alltagsroutine, was Porges erforscht hat: Positive Soziale Interaktion begünstigt Entwicklung! Doch eine allzu große Anzahl von äußeren und inneren Säbelzahntigern (Stressoren) belastet das Nervensystem und führt zu einem schleichenden, weil automatischen Umschalten auf chronische Bedrohung.

Mit dem Wissen um die Macht der vagalen Bremse können wir erkennen, dass der Kita-Alltag ein wichtiges Mittel zur Stress-Reduktion bereits in sich trägt: Soziales Engagement beziehungsweise Positive Interaktion ist hier das Alltagsgeschäft. Der Dreh liegt nun in der Bewusstheit: Während die Mobilisierungs- und Erstarrungsreaktionen im Nervensystem automatisch ablaufen, müssen wir den ventralen Vagus immer wieder bewusst aktivieren. Das liegt, laut Porges, daran, dass das SES ein evolutionär jüngerer Teil unseres Gehirns ist. Die vagalen Funktionen sind noch nicht vollständig automatisiert und können leicht durch ältere autonome Funktionen lahmgelegt werden.

Damit also die wichtige, entwicklungsfördernde Qualität des SES optimal genutzt werden kann, braucht es Selbstwahrnehmung: Wenn wir lernen, unsere inneren Zustände wertfrei zu beobachten, können wir die selbstschädigenden Stress-Automatismen überlisten. Denn mit etwas Übung betätigen wir in solchen Momenten allmählich immer selbstverständlicher mit voller Absicht die vagale Bremse.

Stress-Automatismen überlisten, wie kann das gehen?

Der erste Schritt ist es, sich bewusst zu machen, dass keine akute Lebensbedrohung besteht. Denken wir an die freundliche Stimme aus dem Auto: In dieser Tonart können wir auch mit uns selbst oder mit einer Kollegin sprechen und sagen: „Ruhig Blut!“ Damit beginnt der vagale Prozess bereits seine Arbeit: Wir atmen (meist automatisch) erstmal durch! Es ist charakteristisch für die vagale Atmung, dass der Ausatem ein wenig länger dauert als der Einatem – also einfach mal mitzählen: auf Vier ein- und auf Sieben ausatmen. Das signalisiert dem Nervensystem auf einer sehr basalen Ebene: Puh, kein Tiger da – ich bin ja in Sicherheit!

Ein weiterer vagaler Körperreflex, den wir bewusst aktivieren können, ist der Muskelring um die Augen (Orbicularis Oculi). Klingt kompliziert, aber wir wissen es alle: Das Lächeln mit den Augen ist die Eintrittspforte zur Positiven Sozialen Interaktion. Mit diesem Augen-Lächeln signalisieren wir dem Gegenüber, aber auch uns selbst: Ich bin Dir/mir wohlgesonnen. Da begibt sich der Kampf-Flucht-Reflex in Ruhestellung. Und im nächsten Schritt können wir noch unsere Stimme so einstellen, dass sie freundlich klingt - prosodisch, wie Porges sagt. Der Volksmund wusste es schon längst: Der Ton macht die Musik. Mit diesen einfachen körpersprachlichen Mitteln kann im Kita-Alltag ein entspanntes Grund-Klima erzeugt werden, das von den Kindern unmittelbar beantwortet wird. Tatsächlich können sie gar nicht anders, als auf positive Interaktionsangebote auch positiv zu reagieren. Manchmal braucht es ein wenig Beharrlichkeit seitens der Erwachsenen, aber im Grunde reagiert jedes Kind auf die emotionale Resonanz mit dem Erwachsenen, einfach weil es neurobiologisch darauf angewiesen ist. Mit diesem Wissen kann sich so manche pädagogische Hilflosigkeit in Luft auflösen. Die wohltuende Wirkung von emotional eingestimmter Kommunikation wird auf beiden Seiten gleichermaßen erlebt – Positive Interaktion führt immer zum Dialog, ob verbal oder nonverbal. Die bewusste Arbeit mit dem Sozialen Engagement-System ist ein WinWin-Prinzip, das auf beiden Seiten zu psychophysischer Gesundheit führt.

Notwendige Grenzen setzen

Gestresste Kita-Fachkräfte können (und sollten) sich also darauf trainieren, die vagale Bremse bewusst zu betätigen. Das bedeutet nicht, dass sie aufhören, den Kindern notwendige Grenzen zu setzen. Nein. Vielmehr ist es gerade in konflikthaften Situationen wichtig, dass die regulierende Ansage nicht in gestresster, sondern in deutlicher und dennoch freundlicher Art und Weise erfolgt.

Eine Kita, in der das Soziale Engagement-System bewusst gepflegt und genutzt wird, hat noch einen weiteren Vorteil – und der bezieht sich auf die bemerkenswerte Tatsache, dass das Kind den Umgang mit Stress genauso lernen muss wie das Laufen, Sprechen und Fahrradfahren. Und wo lernt das Kind diese für sein gesamtes Leben so wichtige Kompetenz, sich nach dem Aufregen wieder abregen zu können? Genau: Im zwischenmenschlichen Austausch des Kindes mit einer erwachsenen Person, die feinfühlige Resonanz gibt.

Auch das ist ein neuronaler Mechanismus, den wir im Umgang mit Kindern intuitiv anwenden: Wenn ein Kleinkind schreit, weil die Windel voll ist, der Hunger quält oder ein Pups quer sitzt – dann sind das lauter kleine Säbelzahntiger-Momente. Solche Bedrohungsgefühle kann ein Kind anfangs nur – ja, wirklich: NUR! – durch die freundlich-eingestimmte Zuwendung eines erwachsenen Gegenübers überwinden. Ein großer Mensch muss dem kleinen Menschen signalisieren: „Ich fühle, was Du fühlst – das ist grade unangenehm, aber das wird wieder gut.“ Und dann wird es das auch wirklich. Die eingestimmte, feinfühlige Kommunikation ist der Stoff, aus dem das Urvertrauen gemacht ist. Der moderne Fachbegriff dafür heißt: Fähigkeit zur Selbstregulation.

Durch viele gelungene Momente der Co-Regulation, in denen das Kind vom Erwachsenen eine Resonanz auf seine emotionale Unruhe erfahren hat, lernt es nach und nach, sich selbst zu regulieren. Dass die Fähigkeit zur Selbstregulation die Basis ist für nachhaltige psychische Gesundheit und Belastbarkeit (ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. ), gilt heute als gesichertes Fachwissen.

Kita-Fachkräfte brauchen eine gute Selbst-Fürsorge

Dieser Dreh- und Angelpunkt für eine gesunde psychische Entwicklung des Kindes ist also gleichzeitig ein unverzichtbares professionelles Werkzeug für Kita-Fachkräfte, um in herausfordernden Zeiten gesund zu bleiben. Wer als Kita-Fachkraft eine gute Selbst-Fürsorge praktiziert, wer also in vielen gelungenen Momenten der Selbstregulation inneren Stress wahrnimmt und auf gesunde Weise reduziert, ist zugleich auch ein gutes Vorbild.

Unsere natürliche, neurostimmige Gesundheit basiert auf dem Wissen, dass wir als Menschen soziale Wesen sind und insbesondere am Anfang des Lebens ohne positive, eingestimmte Interaktion nicht auskommen. Unter Stress verlieren wir mitunter den Kontakt zu diesem Wissen, geraten in den Überlebenskampfmodus und bekommen den „Tunnelblick“.

Diesen Blick immer wieder zu öffnen, das Bewusstsein für gelingende soziale Interaktion zu pflegen und die vagale Bremse so oft wie möglich zu aktivieren, ist daher eine Übung von höchster Wichtigkeit. In der Kita wird durch sie ein starkes Signal an die Kinder gesendet, das viel Beruhigung bringen kann. Kinder, die darauf vertrauen können, dass ihr Bedürfnis nach Co-Regulation situativ immer wieder gestillt wird, sind umgänglicher. Ihr Zwang, durch Verhaltensanomalien auf den Mangel an Co-Regulation hinzuweisen, wird schwächer. Mehr feinfühlig-resonante Interaktion bringt mehr Entwicklungsmut – und das macht: Freude!


*ICDP (International Child Development Programme) ist ein von der WHO akkreditiertes Programm zur Förderung der psychischen Gesundheit. ICDP wird seit 3 Jahrzehnten weltweit in über 50 Ländern erfolgreich angewandt.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus dem "Rundbrief Netzwerk Kita und Gesundheit Niedersachsen Nr. 18"





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