Sprechen Jungen anders als Mädchen?

Sprachbildung und Geschlecht in der Kita

Wenn es um Sprache und Geschlecht geht, denken viele nur ans Gendersternchen*. Während dies für manche selbstverständlich geworden ist, reagieren andere darauf sehr genervt. Wichtiger als korrekte »Gendersprache« sind allerdings geschlechtstypische Unterschiede in den sprachlichen Fähigkeiten, die sich auf den späteren Bildungsweg und das Miteinander der Geschlechter auswirken.

Schon in den ersten Lebensjahren fallen in der Sprachentwicklung und im Kommunikationsverhalten von Kindern geschlechtstypische Unterschiede auf. Mädchen und Jungen reagieren schon in den ersten Lebenstagen unterschiedlich auf sprachliche Laute und Sprache. Mädchen sprechen im Schnitt 1 bis 2 Monate früher als Jungen, ihre Wortverbindungen und Sätze sind länger, die Grammatik ist bei Mädchen vielfältiger und weniger fehlerbehaftet. Derartige Unterschiede sind früh zu beobachten, aber im Umfang gering, und bis zum Alter von 4 Jahren haben die Jungen in vielen Bereichen aufgeholt.

Eine Analyse von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) ergab bei 3-Jährigen keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Im weiteren Verlauf entwickeln sich Jungen und Mädchen aber deutlich auseinander. So ist der Wortschatz von 7-jährigen Mädchen signifikant höher als der von gleichaltrigen Jungen – unabhängig vom Bildungsniveau der Eltern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, S. 110). Im Laufe der Grundschulzeit verfestigen sich dann die Geschlechterunterschiede. So lernen Mädchen schneller und besser lesen als Jungen, was nicht zuletzt an ihrer höheren Lesemotivation liegt.

Bereits vor der Schule beginnen Mädchen und Jungen zudem, unterschiedliche Kommunikationsstile zu entwickeln. Mädchen sprechen tendenziell mehr und offener über sich selbst als Jungen. Jungen agieren körperlicher und gehen bei Spielkämpfen oft rauer miteinander um. Außerdem gehen geschlechtstypische Spielformen mit unterschiedlichen Sprachwelten und Kommunikationsformen einher – so wird beim Familienrollenspiel anders miteinander gesprochen als auf der »Baustelle« oder beim Spaßkämpfen. Daher ist es nicht überraschend, dass es bereits zu Schulbeginn Unterschiede im typischen Wortschatz von Mädchen und Jungen gibt. In Gebieten, in denen sie sich auskennen, sind Jungen wie Mädchen deutlich wortgewandter und drücken sich differenzierter aus.

Allerdings sollten solche Differenzen nicht überbewertet werden, und bei pauschalen Aussagen ist Vorsicht angebracht. Gespräche in Mädchen- und in Jungengruppen ähneln sich in vieler Hinsicht und unterscheiden sich nur bei bestimmten Themen deutlich. Und nicht alle Kinder lassen sich so klar in die Kategorien »Junge« und »Mädchen« einteilen, wie der bisherige Text nahelegen könnte.

Spielpartnerschaften, unterschiedliche Interessen und auch der Bildungshintergrund von Familien können sich weit mehr auf die Sprache von Kindern auswirken als geschlechtsbezogene Aspekte. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass bereits in der Kita Sprachentwicklungsstörungen und -verzögerungen sowie Stottern deutlich häufiger bei Jungen zu beobachten sind. Dabei ist die Varianz bei der Sprachaneignung in der Gruppe der Jungen weit größer: Es gibt mehr Jungen mit sehr hohen Leistungen, aber eben noch mehr Jungen mit Problemen in der Sprachentwicklung. So haben Sprachheilkindergärten oft einen deutlichen Jungenüberschuss, wobei Defizite in der Sprachentwicklung oft mit anderen psychosozialen Problemen einhergehen. Auch Störungen des Schriftsprachenerwerbs sind bei Jungen in allen Altersgruppen deutlich häufiger. So sind Jungen zwei- bis dreimal so häufig von Lese-Rechtschreib-Schwäche betroffen wie Mädchen.

Mögliche Ursachen für Unterschiede in der Sprachentwicklung

Die Ursachen der Geschlechterunterschiede im Bereich Sprache und Kommunikation sind – wie die von Geschlechterunterschieden überhaupt – nach wie vor umstritten. Zwar ist die Sprachfähigkeit biologisch begründet, aber die Entwicklung sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen ist kein rein biologischer, sondern ein Bildungsprozess, im Sinne einer Wechselwirkung von Anlage- und Umweltfaktoren (Hoff 2000). Entscheidend ist dabei, welche Erfahrungen Kinder mit Sprache in ihrer Umwelt machen, insbesondere in der Familie und in der Kita (Rohrmann & Wanzeck-Sielert 2018).

Detaillierte Studien zu Eltern-Kind-Interaktionen belegen die zentrale Bedeutung der Eltern für Geschlechtsunterschiede in der sprachlichen Entwicklung. Unterschiede im Kommunikationsverhalten von Frauen und Männern spiegeln sich auch in ihrer Kommunikation mit ihren Kindern wider. So verwenden Mütter mehr »Babysprache« mit ihren ganz kleinen Kindern, vielleicht weil Väter sich dabei eher albern vorkommen – zu Unrecht, denn im ersten Lebensjahr hilft diese besondere Form der Ansprache Kindern bei der Sprachentwicklung. Die Sprache von Müttern ist unterstützender, aber auch negativer als die von Vätern; diese wiederum sind direktiver. Außerdem sprechen Mütter mehr über Gefühle, Väter mehr über Leistung. Unterschiede gibt es auch darin, wie Eltern mit Jungen und Mädchen sprechen: Mütter sprechen mehr und differenzierter mit ihren Töchtern, insbesondere über Gefühle. Väter wiederum verwenden kognitiv herausforderndere Sprache, wenn sie mit ihren Söhnen sprechen; mit ihren Töchtern sprechen sie einigen Untersuchungen zufolge insgesamt weniger.

Zudem spielt hier eine Rolle, dass Mädchen in der Regel mehr Zeit mit ihren Müttern verbringen als Jungen mit ihren Vätern. Einschränkend ist zu bemerken, dass dies überwiegend Aussagen älterer Studien sind, die die Vielfalt heutiger Familien nicht wiedergeben. Es ist zu vermuten, dass manche Ergebnisse mit einer traditionellen Rollenverteilung in Familien zusammenhängen. Wenn sich Eltern oder andere Bezugspersonen die Verantwortung für den Familienalltag teilen, gleichen sich vielleicht auch ihre Kommunikationsmuster aneinander an.

Von großer Bedeutung sind daneben die Gleichaltrigen und damit die Gruppen gleichgeschlechtlicher Spielpartner*innen, die von vielen Mädchen und Jungen ab dem Ende des Kindergartenalters bevorzugt werden. So unterscheiden sich die Interaktionsstile, die Mädchen und Jungen in ihren Gruppen entwickeln, zum Teil erheblich voneinander.
Ältere Untersuchungen haben vielfach deutliche Unterschiede im Sprach- und Kommunikationsverhalten von Mädchen- und Jungengruppen belegt. Dies hat dazu geführt, dass sogar von separaten Jungen- und Mädchen»welten« gesprochen wurde. Typische Charakteristika von Jungen- und Mädchengruppen sind z.B.:
  • Jungen – insbesondere Jungengruppen – spielen aktiver, raumgreifender, wilder und riskanter als Mädchen. Toben, Raufen und Kämpfen ist eine Domäne der Jungen. Sie sprechen weniger, äußern mehr Befehle und Drohungen, und es macht ihnen Spaß, mit sexuellen Ausdrücken und Schimpfworten zu provozieren. Sie zeigen mehr offene Aggression untereinander und testen von Erwachsenen gesetzte Grenzen mehr aus.
  • Mädchen arrangieren sich eher mit räumlichen Gegebenheiten und ziehen sich zurück, wenn es ihnen zu wild wird. Sie sprechen mehr und offener über sich selbst als Jungen, und ihre Kommunikation ist mehr von Wechselseitigkeit geprägt. Mädchen bringen Aggression eher indirekt zum Ausdruck, und ihre Konflikte sind oft langwieriger. Sie schließen eher andere Mädchen aus ihren Gruppen aus (»du bist nicht mehr meine Freundin«).
Auch diese Aussagen beruhen allerdings auf älteren Studien. Wenn Kinder bereits in der Kita in größerem Ausmaß in geschlechtshomogenen Spielgruppen spielen, können sich in stärkerem Maße Unterschiede in kommunikativen Kompetenzen und, damit verbunden, im Konfliktverhalten herausbilden. Spielen sie dagegen viel miteinander, dann gleichen sich auch die Kommunikationsstile
aneinander an. Wenn sich geschlechtstypische Muster im Spiel verändern oder sogar auflösen, wirkt sich dies auch auf Sprache und Kommunikation aus.

Aktuelle Studien weisen auf die Bedeutung der Fachkräfte hin
Neuere Studien weisen auf die Bedeutung pädagogischer Fachkräfte für geschlechtsbezogene Unterschiede in der Sprachentwicklung hin. So ergab die NUBBEK-Studie, dass die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern mit guten Beziehungen zur pädagogischen Fachkraft besser sind – und Mädchen häufiger gute Beziehungen zu ihren Erzieherinnen haben als Jungen (Mayer et al., 2013a, S. 812 f.). So verwenden viele Jungen gern sexuelle Ausdrücke und Schimpfworte, von denen sich die weiblichen Fachkräfte oft provoziert fühlen. Männliche Erzieher wurden bislang diesbezüglich nicht untersucht. Eine norwegische Studie ergab jedoch, dass Kinder, die in Kindertageseinrichtungen mit höherem Männeranteil gewesen waren, in der Grundschule bessere Ergebnisse in Sprach- und Mathematiktests zeigten (Drange & Rønning 2017). Dies zeigte sich allerdings bei Jungen und Mädchen gleichermaßen.

Studien zu Sustained Shared Thinking – also gelungenen, intensiven Interaktionen zwischen Kindern und Fachkräften – ergaben unterschiedliche Ergebnisse. Eine Studie zu frühem naturwissenschaftlichem Lernen ergab, dass Jungen sich dabei mehr engagierten. Eine andere Studie untersuchte dagegen Alltagssituationen und Rollenspiel und stellte fest, dass sich Mädchen mit zunehmendem Alter mehr daran beteiligten, Jungen dagegen nicht (Cusati Müller et al. 2019). Ob dies auch mit den Interessen der jeweiligen Fachkräfte zu tun hatte, wurde leider nicht untersucht!

Bemerkenswert ist schließlich eine Studie, die feststellte, dass sich geschlechtsbezogene Orientierungen von Kita-Erzieher*innen auf die spätere Lesemotivation und die Sprachkompetenzen insbesondere von Jungen auswirkten: Jungen waren weniger motiviert, Lesen zu lernen, wenn sie von Erzieher*innen mit traditionellen Geschlechtsrolleneinstellungen betreut worden waren. Waren sie dagegen von Erzieher*innen mit egalitären Geschlechtsrolleneinstellungen betreut worden, dann waren sie genauso motiviert zu lesen wie Mädchen. Mädchen waren insgesamt mehr zum Lesen motiviert – unabhängig von den Einstellungen ihrer Erzieher*innen. Die Autorinnen folgern daraus: »Jungen können unterstützt werden, Lesen zu lernen. Erzieher*innen sollten [...] dafür sensibilisiert werden, dass sie zu einer geschlechtergerechten Lernumgebung beitragen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sie – insbesondere für die Jungen in ihren Gruppen – einen motivationalen Grundstein für das Lesen legen können« (Wolter 2016, o.S.).

Eine große Forschungslücke sind mögliche Zusammenhänge zwischen Geschlecht und mehrsprachiger Sprachentwicklung. Obwohl Statistiken und Schulleistungen auf den geringeren Bildungserfolg von Jungen mit Migrationshintergrund hinweisen, gibt es keine Studien dazu, inwieweit solche Unterschiede bereits in den ersten Lebensjahren beginnen. Es wäre daher dringend erforderlich, Auswirkungen von Migration, Mehrsprachigkeit und Geschlecht auf die individuelle Sprachentwicklung von Kindern gezielt in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, wie Sprachbildung in diesem Kontext besser gelingen kann.
Die in der Kindheit erworbenen sprachlichen Kompetenzen und Kommunikationsstile legen die Grundlage für das Kommunikationsverhalten und damit auch für geschlechtstypische Kommunikation und die damit verbundenen Konflikte zwischen Frauen und Männern.

Konsequenzen für Sprachbildung und Sprachförderung

Studien zu Sprachentwicklung, Schulleistungsstudien sowie Studien zur Lesemotivation verweisen durchgängig auf einen Vorsprung der Mädchen sowie auf einen größeren Anteil von Jungen an Problemgruppen hin. Dies legt nahe, dass Sprachbildung und Sprachförderung bereits in den ersten Lebensjahren geschlechterbewusst gestaltet werden sollten. Bisherige Ansätze der Sprachbildung und Sprachförderung berücksichtigen Geschlechteraspekte allerdings durchweg nicht. Was also ist zu tun?

Zunächst sollten mögliche geschlechtstypische Unterschiede in Sprachentwicklung, Interaktion und Kommunikation genauer beobachtet werden. Es kann auch systematisch erhoben werden, wie hoch der Anteil von Mädchen und Jungen mit Förderbedarf ist. Dabei muss durchaus kritisch nachgefragt werden: es kann nämlich sein, dass manche Kinder mit Defiziten in der Sprachentwicklung übersehen werden, weil sie weniger auf sich aufmerksam machen als andere.

Weiter sollten bestehende Angebote und Sprachfördermaßnahmen aus Geschlechterperspektive reflektiert werden. Für das Gelingen alltagsintegrierter Sprachförderung ist entscheidend, dass die alltäglichen Interessen von Mädchen und Jungen gleichermaßen Platz im Alltag finden und sprachlich begleitet werden – auch und gerade dann, wenn die Fachkräfte mit manchen dieser Interessen zunächst wenig anfangen können.

Ein guter Ausgangspunkt für eine geschlechterbewusste Sprachbildung ist die Beteiligung von Kindern. Hier kann darauf geachtet werden, Mädchen wie Jungen gleichermaßen zu ermöglichen und zu ermutigen, ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen und dafür auch differenzierte Worte zu finden.

Worum es dagegen nicht geht, sind spezifische Angebote der Sprach- und Leseförderung nur für Jungen bzw. nur für Mädchen. Dies würde gerade die Klischees erzeugen, denen entgegengewirkt werden soll, und Kinder auf diese festlegen. Vielmehr braucht es pädagogische Angebote, die Kindern ein vielfältiges Spiel mit Geschlechterbildern und geschlechtsbezogenen Zuordnungen ermöglichen.

Eine geschlechterbewusste Pädagogik, die Stereotype in Frage stellt und allen Kindern vielfältige Handlungsoptionen ermöglicht, wirkt sich auch positiv auf die Entwicklung von Sprache und LiteracyLiteracy|||||Literacy in der frühen Kindheit und im Übergang zur Schule ist ein
Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen und Kompetenzen rund um Buch-,
Erzähl-, Reim-und Schriftkultur
aus. Dazu gehört auch, bereits in der Arbeit mit kleinen Kindern über geschlechtergerechte Sprache nachzudenken. Dabei werden Kinder nicht korrigiert – es kann aber passieren, dass Kinder ihre Eltern korrigieren!

Fazit

Geschlechtstypische Unterschiede in Sprache und Kommunikation sind im Alltag von Kitas regelmäßig zu beobachten. Pauschale Aussagen helfen dabei nicht weiter: Jungen sind nicht grundsätzlich »anders« als Mädchen. dennoch ist nicht zu übersehen, dass mehr Jungen Defizite und Probleme in der Sprachentwicklung haben. Sprachbildung und Sprachförderung müssen daher geschlechterbewusst reflektiert und weiterentwickelt werden.

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2022). Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld: wbv.

Drange, Nina, Rønning, Marte (2017). Child care center staff composition and early child develop-ment. Statistisk Sentralbyrå Discussion Papers (no. 870). http://www.ssb.no/en/forskning/discussion-papers/_attachment/332823?_ts=1604982ebc8 [08.01.2017].

Cusati Müller, Medea, Wustmann Seiler, Corina, Simoni, Heid & Hedderich, Ingeborg (2019). Die Teilhabe von Kindern an Sustained Shared Thinking im Freispiel: Einflüsse von Geschlecht und Alter der Kinder. Frühe Bildung, 8 (3), 153–160.

Hoff -Ginsberg, Erika (2000). Soziale Umwelt und Sprachlernen. In Hannelore Grimm (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie III, Band 3: Sprachentwicklung (S. 463–494). Göttingen: Hogrefe.
Mayer, Daniela; Beckh, Kathrin, Berkic, Julia & Becker-Stoll, Fabienne (2013). Erzieherin-Kind-Beziehungen und kindliche Entwicklung. Der Einfluss von Geschlecht und Migrationshintergrund. Zeitschrift für Pädagogik, 59, 803–815.

Rohrmann, Tim & Wanzeck-Sielert, Christa (2018). Mädchen und Jungen in der KiTa. Körper – Gender – Sexualität. 2., vollst. überarb. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. 3. Auflage erscheint 2023.

Wolter, Ilka (2016). Lesenlernen: wie Jungen schon im Vorschulalter motiviert werden können. https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item& id=579:lesen%0Blernen-wie-jungen-schon-im-vorschulalter-motiviert-werden-koennen&catid=137 [02.02.2017].


Übernahme des Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 04-2023, S. 4-7


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