Gretel Gustorff (1928-2016)

gretel1Gretel Gustorff; Quelle: Nils GustorffGretel Gustorff gehört zu den in Vergessenheit geratenen Frauen der Pädagogik der frühen Kindheit. Dabei hatte sie u. a. maßgebend zur Dispersion des Freispiels als wichtiger Bestandteil der Kindergartenpädagogik beigetragen. Ihre Publikationen über die Bedeutung des Freispiels für die kindliche Entwicklung, insbesondere „Die Methode Freispiel im Kindergarten“ (1984) und „Die Didaktik des Freispiels im Kindergarten“ (1987), erreichten seinerzeit hohe Anerkennung.


Leben und Wirken

Margarete Therese, genannt Gretel, wurde am 6. Mai 1928 als ältestes von vier Kindern des Buchhändlers Wilhelm Gustorff (1898-1945) und seiner Ehefrau Maria, geb Steinkopf (1897-1938), in Stuttgart geboren. Bald nach ihrer Geburt übersiedelte die Familie nach Bochum, wo der Vater eine Buchhandlung eröffnete. Ein schwerer Schicksalsschlag ereilte die Familie: Als das zehnjährige Mädchen am 9. März 1938 von der Schule heimkehrte, lebte die seit längerer Zeit kranke und bettlägerige Mutter nicht mehr. Bis zur Wiederverheiratung des Vaters hielten unverheiratete Tanten den Familienalltag aufrecht. Als sich im Zweiten Weltkrieg die Luftangriffe der britischen Royal Air Force und der US Army Air Forces auf das Ruhrgebiet häuften, kamen Gretel und ihre Geschwister nach Ulm, wo die älteste Schwester der verstorbenen Mutter mit ihrer Familie wohnte. Leider hatten Tante und Onkel, die selbst drei Kinder hatten, kein großes Herz für die „vier Gustörffle“. Noch bevor die amerikanischen Truppen in die Stadt an der Donau einzogen beendete Gretel Gustorff ihre schulische Bildung mit der Mittleren Reife.

Anschließend absolvierte sie die Kindergärtnerinnenausbildung am „Evangelischen Kindergärtnerinnenseminar“ in Stuttgart, Schönbühlstraße 83. Die Bildungsinstitution wurde von Marianne Günther (1916-1995) geleitet. Folgend arbeitete sie als Privaterzieherin in der Schweiz und in Chile, leitete einen Kindergarten in Stuttgart-Degerloch und von 1958 bis 1960 die Kindergartenabteilung mit vier Klassen der deutschen Schule in La Paz (Bolivien). Nach einer als „unheilbar“ überstandenen Krankheit absolvierte sie die Jugendleiterinnenausbildung an der Diakonissenanstalt zu Kaiserswerth, die sie im Sommer 1964 erfolgreich beendete. Unmittelbar danach übernahm sie eine Dozentinnenstelle (aus gesundheitlichen Gründen mit halbem Lehrauftrag), an dem am 26. Oktober 1964 in Reutlingen eröffneten „Evangelischen Kindergärtnerinnenseminar“ (einschl. Internat). Der Ausbildungsstätte wurde noch ein „Jugendleiterinnenseminar“ (ab Herbst 1969 „Höhere Fachschule für Sozialpädagogik“) angegliedert. Als unterrichtende Jugendleiterin zeichnete Gretel Gustorff an beiden Schultypen für die abzuleistende Praxis der Studierenden in Kindergarten, Hort, Heim u. a. sowie für die praktischen Unterrichtsfächer (z. B. „Praxis – und Methodenlehre, Berufskunde) und Jugendliteratur verantwortlich.

Daneben engagierte sich die Pädagogin viele Jahre in der Mitorganisation der „Ruiter Puppenspielertreffen“ (Gustorff 2006, S. 281 ff.), im „Verein Evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik Stuttgart“, im „Pestalozzi-Fröbel-Verband“ sowie in der „Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Kinderpflege“. Von 1989 bis 1994 trat sie mit der Puppenspielerin Beate Paulus (1915-2000) „regelmäßig jede Woche mit Kopfstockpuppen in der Pflegegruppe des Altenheims Samariterstift Ruit auf“ (Gustorff 2006, S. 303). Zudem war Gretel Gustorff rege publizistisch tätig, nicht vergessend ihre hohe Anzahl von Buchbesprechungen für die Zeitschrift „Evangelische Kinderpflege“ bzw. „Theorie und Praxis der Sozialpädagogik“ (z. B. 1974, S. 391 ff; 1975, S. 191 f). Im Alter von 60 Jahren ging sie in den Ruhestand. Weiterhin galt ihr Interesse der Kindergartenpädagogik. Gretel Gustorff starb am 12. September 2016 in Ostfildern.

Gretel Gustorffs pädagogisches Vermächtnis

a) Der Kindergarten als eine notwendige gesellschaftliche Sozialisationsinstanz
Der familienergänzende Lebensraum Kindergarten ist für die meisten noch nicht schulpflichtigen Kinder die erste Institution in ihrem Leben, die ihrer Bildung, Pflege und Erziehung dient (Gustorff 1981a, S. 5 ff). Die vorschulische Einrichtung unterstützt und ergänzt die in der Familie begonnene Erziehung. Ihr Erziehungsauftrag ist eigenständig und leitet sich nicht vom Erziehungsverständnis der Familie ab. Sie besitzt als „Erziehungsträger mit Öffentlichkeitscharakter […] außerfamiliale, nämlich gesellschaftsbezogene erzieherische Orientierung“ (ebd., S. 7) und ihr pädagogischer Auftrag liegt darin, die anvertrauten Mädchen und Jungen „möglichst umfassend zu fördern“, sie „zur Auseinandersetzung mit der natürlichen, sozialen, kulturellen Umwelt“ zu ermutigen (ebd., S. 6). Oder anders gewendet: „Im Angebot der Öffentlichkeit ist der Kindergarten jene Institution, welche für die frühe Phase der Kindheit zuständig ist, neben der Familie einen Bildungsauftrag besitzt und sozialpflegerische und kompensatorische Aufgaben erfüllt“ (Gustorff 1987, S. 10), die zu wesentlichen Teilen spiel-pädagogisch bewältigt werden.

Im Rahmen offener Planung soll die frühkindliche Institution
„- Sozialerfahrungen ermöglichen, d.h. unterschiedliche soziale Verhaltensweisen erleben lassen und einüben,
- in soziale Situationen verschiedener Qualität einbeziehen, soziale Probleme zulassen, Kinder diesen jedoch nicht ausliefern, sondern mit ihnen an Konfliktlösungen arbeiten,
- geistige Fähigkeiten ausbilden, d. h. breite Erfahrungsmöglichkeiten bieten und damit elementare Kenntnisse von der Umwelt vermitteln, Lernfreudigkeit anregen und stärken;
- emotionale Kräfte aufbauen;
- schöpferische Kräfte wecken, Begabungen entdecken und fördern, Kreativität anregen und individuelle Neigungen berücksichtigen,
- Selbständigkeit ermöglichen und zu Eigenaktivität verhelfen,
- positives Verhältnis zum eigenen Körper vermitteln, Gesundheit und die Entfaltung körperlicher Kräfte fördern und Grundwissen über den Körper vermitteln“ (ebd., S. 6 f).

Anderen Orts schrieb Gretel Gustorff, dass das Kind heute mehr denn je nötiger braucht, „was der Kindergarten in seiner guten Form immer schon geboten hat:
Gemeinschaftserziehung mit Hilfe der Spielgruppe, das Überleiten erworbenen Wissens in geistige Vorgänge durch Phantasieanregung im Erzählen und mit darstellerischen Spieltechniken, Verarbeitung der Eindrücke und Denkvorgänge in gestalterischem Tun und die sprachliche Förderung, bei welcher Begriffe, Klang und emotionales Erleben eine Einheit bilden“ (Gustorff 1968, S. 221).


b) Das Spiel/Freispiel, eine anthropologische Grundbedingung des Menschen

gretel2Standardwerke der Spielpädagogik; Quelle: Ida-Seele ArchivUnter allen kindlichen Aktivitäten nimmt das Spiel „den breitesten Raum ein. Spiele entfalten sich bekanntermaßen am leichtesten in einer druckfreien, lockeren Atmosphäre“ (Gustorff 1981b, S. 3). Das Spiel bildet sowohl „im Lebensraum Familie wie im Lebensraum Kindergarten… die bestimmende Tätigkeit“ (Gustorff 1987, S. 11). Die Pädagogin verweist auf mehrere Faktoren des Lernens, die dem kindlichen Spiel innewohnen und die nicht pädagogisch gelehrt werden müssen. Demzufolge spielt das Kind nicht, um einen zukünftigen Zweck zu dienen. Das Spiel „findet also nicht vor dem Leben statt, sondern im Jetzt und Hier. Man muß nicht lernen, um spielen zu können. Spiel erfolgt also nicht nach dem Lernen. Im Spiel erfolgen bildsame Prozesse von der Schulung der Sinne bis zur Entwicklung des Denkvermögens, von der Entwicklung allgemeiner Begriffe bis zur Abstraktion und zum sozialen, sittlichen Verhalten. Kinder spielen nicht, damit sie Kräfte ausbilden, mit denen dann irgendwann später einmal das Leben bewältigt werden muß. Das Beispielhafte selbst wohnt bereits den Spielen inne, die Kinder sich wählen. Spielend wissen sie Konkretes zu ergreifen, wobei sie bereits auch gültig Allgemeines erfassen. Wenn Kinder sich im Spiel der Faszination von Neuartigem hingeben, erkennen sie unter der Oberfläche des Fremden und Ungewohnten rasch das bekannte Allgemeine“ (ebd., S. 23).

Der Bildungsauftrag des Kindergartens verwirklicht sich, wie schon Friedrich Fröbel (1782-1852) postulierte, überwiegend im „Spiel als Erziehungskonzeption“ (Gustorff 1982, S. 158). Den strukturierten Tagesablauf dominieren zwei Abschnitte: das gelenkte Spiel und das Freispiel. Beide Spielformen werden im Alltag vielfach als Methode eingesetzt. Im Regelspiel trifft die Kindergärtnerin die Wahl des Spieles, welche die gesamte Kindergruppe anspricht und in den Mittelpunkt rückt. Demgegenüber wird als Freispiel, dem „Herzstück der Kindergartenpädagogik“ (Gustorff 1984, S. 7), eine regulär im Tagesablauf vorgesehene Phase bezeichnet, „in welcher selbstgewählte Beschäftigungen, insbesondere Spiele, das Tun aller anwesenden Kinder bestimmen“ (Gustorff 1983, S. 2). Die Bezeichnung Freispiel signalisiert das Prinzip der Freiheit, welches sich zeigt als
„- die freie Wahl von Spielort und Spielplatz,
- die freie Wahl von Spielzeug, Spielthema und Spielinhalt,
- die freie Wahl von Spielpartner und Spielgruppe,
- die freie Wahl von Spieldauer“ (Gustorff 1984, S. 18 f).

Gretel Gustorff konstatiert treffend, dass die gewährte Freiheit, nicht besagt, dass Freispiel jedes Kind in vollkommen freie Situationen führt:
„- Das Kind, das keine Grenzen sieht, wird unsicher. Wenn es keine Stütze findet, kein leitendes Geländer entdeckt, nimmt die Unsicherheit zu. Angst entsteht […]
- Das Kind, das einer Überfülle an Möglichkeiten gegenübersteht, kann nur wahllos zugreifen. Bereits im Zupacken zweifelt es an seiner Wahl, wendet sich der nächsten Sache oder Gelegenheit zu, bevor es die Möglichkeit der ersten kennengelernt hat. Oder es scheut die Entscheidung und läßt gute Möglichkeiten ungenutzt.
- Das Kind , das keine Ordnung erkennt, kann nur Chaos bemerken und dieses weiter ausbreiten oder sich pedantisch an ein eigenes Muster halten, ohne jedoch dabei Sinn für Strukturen zu entwickeln.
- Das Kind, das sich nur einer Masse anderer Kinder gegenübersieht, kann sich entweder der Vielfalt an Erwartungen hingeben oder trostlos einsam bleiben.
- das Kind, das sich jedes Verhalten uneingeschränkt erlauben darf, treibt in Maßlosigkeit umher und gerät in nicht zu bewältigende Situationen oder schreckt nach ersten negativen Erfahrungen zurück, verweigert sich tatenlos und verantwortungslos möglicher Teilhabe“ (ebd., S. 48 f).

Die Gewährung von Freiheiten kann sich durchaus als fehl am Platze erweisen und Kinder zu inadäquaten „Verhaltensweisen veranlassen. Kinder müssen erfahren, wozu sie Freiheiten benötigen, um sie dann auch nützen zu können. Kinder sollen unversäumt ins Spiel finden. Dabei muß man ihnen helfen“ (ebd., S. 49). Demzufolge ist der Kindergarten, wie schon Friedrich Fröbel forderte, der spezifische Ort der „Spielpflege“.

Dazu Gretel Gustorff:
„Tausendfältige Spielepisoden verlangen nach spielpflegender Begleitung“, [erfordern die; M. B.] Anwesenheit eines kundigen Erwachsenen,
- weil sie kognitiv aufgehellt werden müssen,
- weil sie altersgemäß mit Grundlagenwissen verknüpft gehören,
- weil im größeren Zusammenhang eine Ortsbestimmung erforderlich ist,
- weil Verbindung zu anderen Bereichen hergestellt werden muß“ (Gustorff 1987, S. 99).

Die Aufgabe des Erwachsenen im Freispiel besteht darin, das Spielgeschehen der Kinder aktiv zu beobachten. Sein „einfühlsames Einschreiten“ ist beispielsweise angebracht, wenn das Spiel der Kinder nicht in Gang kommt, es sich aufzulösen droht, weil die Kinder in Streitigkeiten verwickelt sind oder wenn „kommunikationsungeübte Kinder“ mit „sprachbegabten oder herrschsüchtigen oder egozentrischen Kindern zurechtkommen müssen“ (ebd., S. 122).

Literatur

  • Gustorff, G.: Maria Montessoris Beitrag zur Kindergartenpädagogik, in: Evangelische Kinderpflege 1968, S. 211-221
  • Dies.: Der Kindergarten als Institution, in: Schüttler-Janikulla K. (Hg.): Handbuch für Erzieher in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort, Landsberg 1981a, S. 1-8
  • Dies.: Freie Aktivität, in: Schüttler-Janikulla K. (Hg.): Handbuch für Erzieher in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort, Landsberg 1981b, S. 1-7
  • Dies.: Fröbel – lebendig geblieben, in: Unsere Jugend 1982, S. 155-159
  • Dies.: Freispiel, in: Schüttler-Janikulla K. (Hg.): Handbuch für Erzieher in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort. 3. Nachlieferung, Landsberg 1983, S. 1-8
  • Dies.: Die Methode Freispiel im Kindergarten, Fellbach Oeffingen 1984
  • Dies.: Die Didaktik des Freispiels im Kindergarten, Fellbach Oeffingen 1987
  • Dies.: Beate Paulus und die Ruiter Puppenspielertreffen, in: Stadt Ostfildern (Hg.): Aus der Geschichte Ostfilderns. Mit 105 Abbildungen, Neustadt an der Aisch 2006, S. 281-303
  • Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 1974, S. 391-294
  • Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 1975, S. 191-192
PS.: Dank ergeht an Nils Gustorff für wertvolle Hinweise zum Leben und Wirken seiner Tante.


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