Partizipatorische Didaktik in der Krippe

Im Fokus: Die Selbstbildungspotenziale

Angeregt durch die didaktischen Überlegungen in der Reggio Pädagogik wurde im Rahmen verschiedener Projekte und in einem intensiven Theorie-Praxis-Dialog auch für den deutschsprachigen Raum eine kindzentrierte, Partizipatorische Didaktik, basierend auf dem Bildungsverständnis von Gerd E. Schäfer, entwickelt. Diese Didaktik wird im Folgenden ausschnitthaft für den Bereich der Krippe dargestellt. Sie ist Teil einer Kultur des Lernens, die mindestens fünf Perspektiven zusammenträgt (Schäfer 2019, S. 86):
  • Selbstbildungspotenziale
  • Beziehungspotenziale
  • Sachpotenziale
  • Strukturpotenziale
  • Kulturpotenziale
Diese Potenziale greifen ineinander über und sind nicht losgelöst voneinander zu begreifen, sondern beeinflussen sich vielmehr gegenseitig. Das Zusammenwirken dieser Potenziale kann im großen Maße darüber entscheiden, inwiefern kindliche Selbstbildungsprozesse vollzogen werden können. Im Zentrum der Kultur des Lernens steht eine Didaktik der frühen Kindheit, die an den kindlichen Bedürfnissen und Interessen ausgerichtet ist und Kindern Partizipation ermöglicht. In diesem Fachbeitrag richten wir den Fokus auf die Selbstbildungspotenziale des Kindes.

Selbstbildungspotenziale


Das Bildungsverständnis
In unserem Bildungsbegriff wird der „Verwirklichung von Selbsttätigkeit“ (Schäfer 2011b, S. 14) und der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt eine zentrale Rolle zugeschrieben. In Bildungsprozessen setzen sich Kinder mit ihrer Um- und Mitwelt auseinander. Bei dieser Auseinandersetzung entwickeln sie zugleich ein Bild bzw. Bilder von sich selbst und von der Welt. Bildung wird demnach als Wechselwirkung zwischen dem Ich und der Welt verstanden.

„Das Subjekt braucht ein Gegenüber, durch das es sich bilden kann“ (Schäfer 2011b, S. 13 f.).

Selbstbildung vollzieht sich somit immer nur in der Auseinandersetzung mit einer kulturellen und sozialen Welt, entlang Ereignissen und Erfahrungen, die Kinder (und auch Erwachsene) in ihren sozialen und kulturellen Lebenszusammenhängen erleben und machen (vgl. Schäfer 2005, 2011b). Dabei entwickelt jedes Kind eigene Handlungs- und Denkmöglichkeiten, die für die individuelle Lebensgeschichte dieses Kindes wichtig sind und dazu beitragen, aktuelle Aufgabenstellungen zum jeweiligen Zeitpunkt seiner Biografie zu bewältigen (vgl. Schäfer 2019, S. 87).

Im Zentrum einer Partizipatorischen Didaktik steht daher immer die Frage, von welchen Ressourcen Kinder jeweils ausgehen, wenn sie die Welt erfassen und kennenlernen wollen. Diese Frage hängt sehr stark mit den individuellen, biografischen Erfahrungen eines Kindes zusammen. Denn jedes Kind, jeder Mensch hat eine ganz eigene Art und Weise und andere Bedingungen, sich die Welt handelnd und denkend zu erschließen und in ihr zu (inter-)agieren. Diese individuellen Ressourcen sind die Grundlage der Selbstbildungspotenziale.


Als Selbstbildungspotenziale werden Handlungs- und Denkmöglichkeiten bezeichnet, „die ein Individuum im Verlaufe seiner Biografie entwickelt hat, um sich in der Welt zu orientieren, darin leben, handeln und denken zu können. Sie gehen von den Möglichkeiten aus, die mit der Geburt gegeben sind, und erweitern sich in dem Maße, in dem sie in konkreten Lebenssituationen tatsächlich angewendet werden“ (Schäfer 2012, S. 23).


Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder ihre Selbstbildungsprozesse entfalten können, ist das Erfahren tragfähiger Beziehungen. Das lebenslange Streben eines Menschen nach emotionalen Beziehungen fängt pränatal an und setzt sich bis ins hohe Alter fort. Aus der Bindungstheorie wissen wir, dass Bindung die Voraussetzung für Exploration ist (vgl. Ainsworth 1964, 2003; Bowlby 2016, 2018; Brisch 2014). Bereits ein Säugling setzt vielfältige Kommunikationsweisen über seine Körpersprache, durch Blickkontakt und erste Laute ein, um zu signalisieren, was er gerade benötigt. Die Bezugspersonen stehen in den ersten Monaten und Jahren an erster Stelle für das Kind.

Erst wenn Kinder sich sicher und geborgen fühlen, also ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigt sind, weil ihre Signale beachtet und beantwortet werden, wenden sie sich darüber hinaus ihrer Umwelt zu. Die Art und Weise, wie die allerersten Beziehungen gestaltet werden, tragen wesentlich dazu bei, wie Kinder in die Welt hinausgehen. Neben Beziehungen, in denen Kindern mit ihren Bedürfnissen und Interessen feinfühlig begegnet wird, brauchen sie eine Sicherheit gebende Umgebung, die durch ihre Vielfalt, Offenheit und Flexibilität die mannigfaltigen kindlichen Zugangs- und Ausdrucksweisen ermöglicht und zulässt, damit jedes Kind seine individuellen Potenziale entfalten kann.

Kinder unter drei Jahren äussern sich nur zu einem kleinen Teil über die verbale Sprache und teilen uns viel öfter in anderen Ausdrucksweisen mit, was sie gerade beschäftigt oder was sie brauchen – zum Beispiel über ihre Körpersprache, durch ihre Art des Weinens, über ihr Spiel oder gestalterische Tätigkeiten. Eine Partizipatorische Didaktik versucht anhand Wahrnehmenden Beobachtens, die vielen Stimmen der Kinder zu hören, mit denen sie sich ausdrücken, um ihnen antworten zu können. So können Kinder ihre individuellen und auch gemeinschaftlich geteilten Wege und Möglichkeiten entwickeln, sich die Welt anzueignen, und dabei Aufgaben und Probleme lösen, die sich ihnen aufgrund ihrer Erfahrungen in ihrer Umwelt stellen. Nimmt man „das Kind als Akteur seiner Entwicklung“ ernst, so kann man beobachten, wie es die Welt entdeckt, sich Fragen stellt und auf die Suche nach Antworten geht.


Die wahrnehmende Beobachtung nimmt eine zentrale Stellung ein, wenn man sich als Bildungsbegleiter*in des Kindes versteht – als eine Person, deren Aufgabe es ist, eine anregende Umgebung zu schaffen, als Dialogpartner*in zu fungieren, kindliche Bildungsprozesse zu begleiten, anzustoßen und herauszufordern. Die wahrnehmende Beobachtung dient dann zur differenzierten Grundlage für die pädagogische Arbeit mit den Kindern (vgl. Alemzadeh 2016).


Anfänge kindlichen Denkens sind sinnliche Erfahrungen, von denen ausgehend das Selbst- und Weltbild entsteht. Dieses ist umso reichhaltiger und differenzierter, je vielseitiger die Erfahrungsmöglichkeiten sind, die die Umwelt bietet (vgl. Schäfer 2003). Die kindliche Neugier, die als Grundlage des Explorationsverhaltens bezeichnet werden kann, bestimmt, wie sich das Kind mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Es kommt nun darauf an, wie die pädagogischen Fachkräfte auf das explorative Verhalten der Kinder eingehen.

Besonders im Kleinkindalter sind es die alltäglichen Dinge, die die Kinder selbstständig entdecken möchten, um ihre Selbstwirksamkeit und Autonomie zu erleben: Was passiert, wenn ich alle Gegenstände vom Tisch herunterwerfe? Was passiert, wenn ich das Glas so lange befülle, bis kein Wasser mehr hineinpasst? Was passiert, wenn ich die Rutsche hochklettere, statt sie herunterzurutschen? Diese Neugierde, die in den ersten Lebensjahren besonders stark ausgeprägt und uns Menschen angeboren ist, um unsere Umwelt zu erforschen und zu verstehen (vgl. Deci & Ryan 1993), bezeichnet Gerd E. Schäfer als den kindlichen Anfängergeist (Schäfer 2008, 2019). Damit bringt er zum Ausdruck, dass frühkindliche Bildungssituationen vor allem dadurch geprägt sind, dass kleine Kinder auf ein Lernen aus eigenen Erfahrungen angewiesen sind, da sie „in allen Bereichen der Welt- und Lebenserfahrung Neulinge sind“ (Schäfer 2019, S. 68).

Das Erfahrungslernen der kleinen Kinder findet aufgrund ihrer Basisausstattung statt, dazu gehören: „die Möglichkeiten der körperlichen Bewegung und der sinnlichen Erfahrung; die Möglichkeit, emotionale Bedeutungen der täglichen Lebensereignisse zu erfassen und zu differenzieren; eine elementare Kommunikationsfähigkeit von Anfang an, basierend auf einer elementaren Fähigkeit der mimischen Nachahmung; die Speicherung ihrer Lebenserfahrungen in Mustern, die wiedererkannt und typisiert werden können; ein ständiges Bedürfnis, Neues und Unbekanntes zu entdecken; Kreativität im Sinne eines explorierenden Lernens – Spiel.

Auf dieser Basis dienen die ersten Lebensjahre dazu, das unmittelbar bedeutsame, soziale und sachliche Lebensumfeld, in dem sich das Kind bewegt, in all seinen Eigenschaften und Möglichkeiten kennenzulernen“ (Schäfer 2019, S. 69). Dies geschieht vorwiegend über das Explorieren, weshalb es wichtig ist, die Lernumgebung auf eine Weise zu gestalten, dass Kinder in ihrer Umgebungswelt soweit wie möglich mit eigenen Mitteln explorieren können. Explorieren bedeutet durch Selbsttätigsein auszuprobieren, was man mit einer Sache machen kann.

Deci und Ryan (1993) betonen drei Grundbedürfnisse, die zum optimalen Explorieren gegeben sein müssen: Autonomie, Kompetenzerleben und soziale Eingebundenheit (vgl. ebd., S. 229). Werden diese Grundbedürfnisse befriedigt, fällt es dem Kind leicht, seine Umwelt zu erkunden und somit seine Neugier auszuleben. Werden diese jedoch nicht beachtet, wird das Kind nicht selbstständig motiviert sein, zu explorieren. Es muss sich in Erkundungssituationen als kompetent und autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit. erleben und bei dem Bedürfnis nach Unterstützung auf soziale Partner zurückgreifen können (vgl. Mackowiak, Lengning & Trudewind 2014).


Zum Weiterschauen: Vortrag von Marjan Alemzadeh zur Partizipatorischen Didaktik am Beispiel der Lernwerkstatt Natur



Zum Weiterschauen: Vortrag von Ged E. Schäfer über "Bildung, Beteiligung und Resonanz" auf NETQUALII-BB


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Partizipatorische Eingewöhnung - Traumafrei eingewöhnen

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Marjan Alemzadeh: Partizipatorische Didaktik in der Krippe. In: Wahrnehmendes Beobachten in Krippe und KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung. . Partizipatorische Didaktik. Hg. Von Marjan Alemzadeh. Herder.


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