Lob frisst Hilfsbereitschaft

Ich helf dir – einfach so. Schon achtzehn Monate alte Kinder tun genau das, ganz ohne Impuls von außen. Unser Autor erklärt, warum das so ist, und verblüfft mit folgender Aussage: Belohnungen führen zum Ende der guten Taten.

Nicht nur Erwachsene haben den Wunsch, am sozialen Geschehen und an persönlichen Entscheidungen und solchen, die die ganze Sozialgruppe betreffen, beteiligt zu sein. Bereits Anderthalbjährige spüren eine starke von innen kommende Motivation, anderen Menschen – selbst Unbekannten – zu helfen, zeigen besonders eindrücklich die Experimente der beiden Wissenschaftler Felix Warneken und Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Ohne verbale oder nonverbale Aufforderung ihrer Mutter helfen die in einer Laborsituation beobachteten circa 18 Monate alten Kinder spontan dem erwachsenen Versuchsleiter, der es (scheinbar) nicht alleine bewältigt, eine Schranktür zu öffnen oder eine fallen gelassene Wäscheklammer aufzuheben. Und dies, ohne dass der Versuchsleiter sie aktiv um Hilfe bittet, sondern lediglich körpersprachlich und mit kurzen Lauten wie „Oh“ und „Mmhh“ eine Blockade in seinem gewünschten Handlungsablauf signalisiert.

Voraussetzung für die gezeigte Hilfsbereitschaft ist der Start frühkindlicher EmpathiefähigkeitEmpathiefähigkeit|||||Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit empathisch auf andere Menschen oder Tiere einzugehen. Dazu gehört es Gedanken, Emotionen, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale zu erkennen oder zu verstehen. Auch eigene Reaktionen auf Gefühle, wie Mitleid, Trauer und Schmerz gehören dazu.

, also das beginnende Verständnis dafür, wie es einem anderen Menschen geht, wie er sich fühlt. Offensichtlich erkennen Kinder, dass es dem anderen gerade schlechter geht als einem selbst und dass er Hilfe braucht. Für diese Form der Perspektivenübernahme muss ein Kleinstkind zuvor mit circa 18 bis 24 Monaten ein Ich-Bewusstsein entwickelt haben, also eine Vorstellung davon, dass es selbst als ein von anderen Personen abgrenzbares Subjekt existiert. Dieses von anderen Menschen abgrenzbare Selbstkonzept lässt sich anhand von Spiegelexperimenten gut überprüfen.

Dafür versieht man die Kinder unbemerkt mit einer Farbmarkierung auf Wange oder Nase (Rouge-Test). Wenn man dem Kind dann einen Spiegel vorhält, beginnt es zielgerichtet, an dem Fleck in seinem Gesicht zu manipulieren. Es fasst nicht den Spiegel an oder hält sein Spiegelbild für ein anderes Kind. Zeitgleich kann man beobachten, dass Kleinstkinder in sozial herausfordernden Situationen erstmals verlegen reagieren, was nur passieren kann, wenn sie sich der Urheberschaft ihres Tuns, ihrer Wirkung und somit ihrer selbst bewusst geworden sind. Das sich stabilisierende Ich-Bewusstsein bringt das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Autonomie mit sich – für die Zukunft wichtige Prozesse zur Entwicklung des eigenen Wollens.

Wie die Kinder in den Warneken-Experimenten offenbaren, sind sie bereits empathisch genug, um zu verstehen, dass der Erwachsene gerade ein Problem mit seinem Vorhaben hat. Aber warum strengen sie sich überhaupt an, dem Erwachsenen aus seiner Misere zu befreien? Warum öffnen sie zum Beispiel einen Aktenschrank, damit der Erwachsene einen Aktenberg darin verstauen kann, oder heben ihm eine Wäscheklammer auf, damit dieser ein Handtuch an eine Wäscheleine hängen kann? Sie kennen die Person ja noch nicht einmal.

Hilfsbereit von klein auf

In verschiedenen Folgeexperimenten erhielten die Leipziger Forscher spannende Antworten auf die Frage, warum Kinder sich anstrengen, um dem Erwachsenen zu helfen. Die Kleinstkinder begriffen nicht nur den Hilfsbedarf des Erwachsenen in den aufgeführten Szenen, sondern auch seine Absicht. Die Kinder reichten einem ihnen unbekannten Versuchsleiter eine Wäscheklammer, die diesem anscheinend versehentlich heruntergefallen war und die er nicht mehr erreichen konnte. Wenn er sie offensichtlich freiwillig fallen ließ, halfen sie dagegen nicht. Sie legten ein Buch richtig auf einen Stapel, das der Versuchsleiter (scheinbar) versehentlich danebengelegt hatte, jedoch griffen sie nicht ein, wenn er dies absichtsvoll und zielgerichtet zu tun schien. Sie öffneten eine Schranktür, wenn er die Hände nicht frei hatte, aber nicht, wenn er offensichtlich etwas auf den Schrank legen wollte. Dies taten sie fast immer sofort und nicht erst, wenn der Versuchsleiter abwechselnd sie und dann das Objekt anschaute oder das Problem verbalisierte. Kinder sind also offenbar schon sehr früh an geteilten Absichten (shared intentions) von anderen interessiert und dazu in der Lage, diese Absichten gut zu erkennen!

Eine (vermeintlich) echte Hilfsbedürftigkeit des Erwachsenen ist also eine wichtige Voraussetzung für frühkindliche Hilfsbereitschaft. Aber was ist die eigentliche Motivation? Da das Kind für sein Verhalten nicht belohnt wurde und auch nicht von seiner Mutter angespornt wurde zu helfen, muss für derartige Hilfsaktionen auf jeden Fall eine Form der intrinsischen Motivation vorliegen. Handlungsweisen, die aus Neugier oder Interesse, die aus der Person selbst kommen, entstehen, sind intrinsisch motiviert. Extrinsisch motiviertes Verhalten ist im Gegensatz dazu fremdbestimmt und wird durch Belohnung, Strafandrohung oder Ähnliches ausgelöst.

Weitere Versuche der Leipziger Forscher hatten das Ziel zu prüfen, ob die intrinsische Motivation durch externes Anspornen oder Belohnung noch steigerbar ist. Dabei zeigte sich, dass gegen jede Erwartung der klassischen Lerntheorie die Motivation der Kinder weder durch verbale Ermutigung der Mutter noch durch Belohnung in Form eines interessanten Spielzeugs zu steigern war. Im Gegenteil: Warneken und Tomasello wiesen nach, dass 19 bis 21 Monate alte Kinder sogar weniger in einer zweiten Testrunde halfen, nachdem sie für ihr prosoziales Verhalten im ersten Durchlauf eine materielle Belohnung erhalten hatten. Belohnt worden zu sein, scheint ihre intrinsische Motivation eher abzuschwächen.

Die Lernpsychologie spricht vom sogenannten Korrumpierungseffekt, auch Überrechtfertigungseffekt genannt: Wenn jemand für eine Tätigkeit, die er ohnehin schon gerne ausübt, zusätzlich belohnt wird, dann ist er anschließend weniger motiviert, diese Tätigkeit noch einmal auszuführen. In unserem Beispiel könnten dem Kind folgende Gedanken kommen: „Ich habe dem Erwachsenen gerne geholfen. Nur weil ich ihm die Tür geöffnet habe, den Stift aufgehoben habe, konnte er mit seiner Tätigkeit weitermachen. Ich war selbstwirksam!“ Wenn das Kind von außen für sein Verhalten belohnt wurde, könnte es dagegen folgendes inneres Bild aufbauen: „Ich habe ihm nur geholfen, weil die Erwachsenen es so wollten und mir dafür etwas gegeben haben. Das Geschenk und das Lob sind mir nicht Anreiz genug, um mich noch ein zweites Mal so zu engagieren.“

Extrinsisch motiviertes Verhalten, bei dem ich mich einem äußeren Druck füge, mich verpflichtet fühle oder dafür belohnt werde, führt zu einer starken Fremdbestimmung. Fremdbestimmte Motivation ist somit anders als die selbstbestimmte Motivation auch kein Selbstläufer: Wenn Bezahlung oder Lob wegfallen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich auch meine guten Taten beende. Wenn ein Kind dagegen darin unterstützt wird, so oft wie möglich selbstbestimmt zu handeln, und es innerlich dabei verbucht, dass ihm das durchaus anstrengende Verhalten etwas bringt und Freude bereitet, verhilft der Erwachsene ihm zu Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserfahrungen, die es von selbst erneut erleben möchte, also wiederholt anstrebt (Stichwort: Funktionslust).

Für das innerliche Verbuchen ist es sicher hilfreich, dem Kind manchmal eine Rückmeldung zu geben – ohne zu loben. Die Kinder in den Versuchen von Warneken haben aber sicher auch so gemerkt, dass (erst) durch ihre Hilfe der Erwachsene seine Tätigkeit fortsetzen konnte!

Die Freude am eigenen Tun

Funktionslust ist eine von Karl Bühler eingeführte Bezeichnung für das subjektive Korrelat des meist unermüdlichen Wiederholens erlernter und besonders schwieriger Bewegungsweisen. Einmal bewältigte motorische Bewegungsabläufe führen zu einer Belohnung durch Ausschüttung körpereigener Opiate im Gehirn und steigern dadurch die Lust, noch schwierigere Bewegungsabläufe zu erlernen. Allein das angemessene, glatte, reibungslose Funktionieren der Körperorgane, unabhängig von jedem Erfolg, den die Tätigkeit bringen könnte, wird zur Lustquelle. Diese Freude am eigenen Tun und Erfolg ist eine starke Triebfeder kindlichen absichtslosen Spiels und Lernens. Sie ist eine starke intrinsische Motivation für selbstauferlegte Bildungsbemühungen.

Entdeckt ein Kind die Freude an einer bestimmten Bewegungsform, kann es durch unermüdliches Wiederholen bereits mit zwei Jahren eine Boulderwand besteigen oder auf dem Skateboard fahren. Die Funktionslust kann auch die Antriebsfeder für das Erlernen komplizierter feinmotorischer Bewegungsabläufe sein, wenn es einem Kind etwa nach vielen Wiederholungen gelingt, einen dünnen Faden durch ein enges Loch zu fädeln. Das Besondere an der Funktionslust ist, dass sie an keine weiterführenden Zwecke gebunden ist und als selbstbelohnende Freude allein durch das Ausüben der Tätigkeit entsteht. Sie ist eine biologisch angelegte Verstärkung kindlichen Spiels und Lernens. Auch das Knacken einer geistigen Nuss, bei der immer wieder neue Lösungsvarianten im Geist durchgespielt werden, bis es zum sogenannten Heureka-Erlebnis kommt, wird mit dem Ausstoß körpereigener Opiate belohnt.

Solche Kinder, die dabei unterstützt werden, selbstauferlegte (motorische) Herausforderungen anzugehen, und denen hierzu anregende Umgebungen und Materialien zur Verfügung gestellt werden, die sie auch noch in den letzten Kindergartenjahren herausfordern, können diese wertvolle Motivationsquelle später mit in die Schulzeit nehmen.

Die Krux mit dem Loben

Die pädagogische Unterstützung sollte also nicht darin bestehen, Kinder aufzufordern, Gutes zu tun oder sie für in Erwachsenenaugen richtiges Verhalten zu loben. In einer kanadischen Studie der Entwicklungspsychologin Joan Grusec zeigten Vierjährige, die häufig dafür gelobt wurden, prosozial zu sein, die Tendenz, im Alltag eher weniger hilfsbereit zu sein als seltener gelobte Kinder.
Jedes Mal, wenn sie ein „Gut geteilt!“ oder ein „Ich bin so stolz auf dich, dass du hilfst!“ hörten, wurden sie weniger daran interessiert, zu teilen oder jemandem zu helfen. Diese Tätigkeiten wurden nicht mehr in sich selbst als etwas Wertvolles angesehen, sondern als etwas, das erneut gemacht werden musste, um die Aufmerksamkeit des Erwachsenen zu erhalten, die momentan aber gar nicht nötig war. Hilfsbereitschaft wurde damit zum Mittel zum Zweck degradiert.

Richtig zu loben, ist eine pädagogisch durchaus herausfordernde Fähigkeit. „Alles, was zu allgemein, übertrieben oder offensichtlich manipulativ ist, schadet“, sagt die Wissenschaftsjournalistin Nicola Schmidt. Ein pauschales Lob „Wie gut du bist!“ kann Kinder massiv unter Druck setzen, weil jederzeit die Möglichkeit besteht, die gute Leistung beim nächsten Mal nicht mehr zeigen zu können, Versagensangst droht. Auch maßt sich der Erwachsene damit an, über die Wertigkeit eines Kindes oder seiner Leistungen zu bestimmen. Lob sollte auch nie vergleichend formuliert werden, da es sonst die Kinder in einen Wettbewerb untereinander treibt, statt ihre Freude an der eigenen Leistung zu unterstützen. Entscheidend ist, ob die Kinder ihre Erfahrungen selbst für gut befinden.

Um prosoziales Verhalten zu fördern, scheint eher das Modelllernen durch das entsprechende Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen wichtig zu sein. Ebenso förderlich ist eine anteilnehmende Wahrnehmung des prosozialen Verhaltens des Kindes durch den Erwachsenen. Dabei sollte allerdings nicht das Loben des kindlichen Verhaltens im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die wertungsfreie Rückmeldung zu dem, was das Kind durch sein Verhalten bei dem anderen Kind erreicht hat, so der amerikanische Autor Alfie Kohn. „Schau dir Sandras Gesicht an! Sie scheint glücklich zu sein, jetzt, da du ihr etwas von deinem Vesper abgegeben hast.“ Oder: „Wie hast du herausgefunden, wie du die Füße in der richtigen Größe malst?“ Anteilnehmende Wahrnehmung durch wertungsfreie Aussagen sollte sich immer auf die Handlungen des Kindes beziehen und nie auf seine Person, so Kohn. Kinder werden so auf ihrem Weg ermutigt, ohne sie persönlich zu bewerten. Die Aufmerksamkeit der Kinder wird auf eigene Lernprozesse und -strategien gerichtet und hilft ihnen so, den eigenen Lernerfolg nachzuspüren.

Auch die „Sprache der Ermutigung“, wie der Psychologe Don C. Dinkmeyer Sr. es nennt, würdigt Versuche und Fortschritte bei Kindern und wirkt zudem auf diese bejahend, unterstützend und ermutigend, ohne sie zu beurteilen oder pauschal zu loben. Es geht darum, das Kind anzunehmen und es zu bestärken, ihm Zuversicht zu vermitteln und seine Schritte als Fortschritte anzuerkennen. Auch Wertschätzung spielt hier eine sehr große Rolle.

Jürg Frick, Psychologe und Pädagoge, betont, dass es dabei nicht um das Lernen und Anwenden von Floskeln geht, sondern dass die Wirkung sich nur in einer stimmigen Beziehung entfalten kann. Wortwahl, Inhalte und Ton der Formulierung müssen sowohl zu der jeweiligen Erwachsenen-Kind-Dyade passen als auch authentisch, also echt gemeint sein. Dann kann auch ein Lob, wenn es sparsam eingesetzt und beschreibend formuliert wird, keinen Schaden anrichten.



LITERATUR:
HAUG-SCHNABEL, GABRIELE; BENSEL, JOACHIM (2017): Grundlagen der Entwicklungspsychologie. Die ersten 10 Lebensjahre. Freiburg: Herder.
HAUG-SCHNABEL, GABRIELE; BENSEL, JOACHIM; FISCHER, SIBYLLE (2020): Stark fürs Leben. Was Kinder über 4 in der Kita wissen wollen. Freiburg: Herder.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 5-2021, S. 4-7