Typisch Junge? Typisch Mädchen? Alles Kinder!

Gender und Geschlecht in der Kita

Ziel von Inklusion ist es, dass alle Kinder gleichberechtigt und gleichwürdig am Leben in der Kita teilhaben. Inklusive Kitas nehmen Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Stereotypisierungen jeder Art sensibel wahr und treten diesen entschieden entgegen. Menschen erleben Ausgrenzungen aufgrund unterschiedlichster Merkmale und Vielfaltsdimensionen, dazu gehören zum Beispiel Alter, Aussehen und Hautfarbe, sozio-ökonomischer Status, kulturelle Zugehörigkeit, ethnische Herkunft, Religionszugehörigkeit, Familiensprache oder Behinderung. Und auch das Geschlecht und damit einhergehende Rollenzuschreibungen gehören dazu.

In diesem Zusammenhang spielt der Begriff „Gender“ eine wichtige Rolle. Während der Begriff „Geschlecht“ das biologische Geschlecht eines Menschen beschreibt, also weiblich oder männlich, fasst „Gender“ das damit zusammenhängende soziale Geschlecht eines Menschen und die damit verbundenen Selbst- und Fremdzuschreibungen und Geschlechtsstereotypien. Das biologische Geschlecht und das Gender müssen dabei nicht zwingend übereinstimmen. Es gibt Menschen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht identifizieren bzw. sich keinem der zwei Geschlechter zugehörig fühlen. Genauso gibt es Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft als männlich oder weiblich gelesen werden, obwohl sie eigentlich dem anderen Geschlecht oder auch gar keinem Geschlecht angehören (wollen).

Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht spielt in unserer Kultur eine wichtige Rolle. Neugierig fragen wir werdende Eltern „was es wird“ und zeigen durch diese Formulierung, welche Bedeutung wir dem Junge- oder Mädchensein zuweisen. Wir sehen die Geschlechtszugehörigkeit als wichtigen Hinweis darauf, was das und was aus dem Kind wird, also auf seine Persönlichkeit, seinen Charakter und seinen Lebensweg.

Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gender geht mit zahlreichen Privilegien oder Benachteiligungen und Diskriminierungen einher. Geschlechtsstereotypien transportieren Vorstellungen, wie Männer und Frauen, Mädchen und Jungen angeblich sind und sein sollen. Sie betreffen alle Lebens- und Persönlichkeitsbereiche: Wie sie aussehen, wie sie sich kleiden, was ihre Interessen sind, was sie mögen und nicht mögen, was sie gut können und was nicht, wie sie sich verhalten und nicht verhalten, was sie fühlen und denken, wie sie sich bewegen, welche Berufe sie ergreifen, was ihre Aufgaben sind und vieles mehr.
Stereotypien bilden eine Realität ab, die es so nicht gibt. Sie schränken uns alle ein, da sie uns in Rollen drängen, die unserem Wesen vielleicht gar nicht entsprechen und so unsere Entwicklung und unsere Möglichkeiten unser Leben zu gestalten einschränken. Stereotype sind weder für Frauen noch für Männer hilfreich, aber für Kinder sind sie besonders problematisch. Würden wir Kindern erzählen, dass blondhaarige Menschen geborene Anführer und Braunhaarige ruhig und höflich sind, würde sich zurecht Widerstand rühren. Solche Zuordnungen sind diskriminierend uns schlichtweg falsch.

Das Geschlecht betreffend begegnen uns solche Rollenvorstellungen und Botschaften tagtäglich, an verschiedensten Stellen und von verschiedensten Seiten. Oft fällt es uns schwer, solche Stereotype zu entlarven, da jeder von uns ihnen als Kind und Jugendliche*r ausgesetzt waren und auch als Erwachsene*r immer noch sind. Spielzeuge, Medien und Kleidung sind häufig für Mädchen oder für Jungen gemacht und nicht einfach nur für Kinder. Jungs sollen mit Feuerwehrautos oder Rittern spielen, sich für Piratengeschichten interessieren oder alles über Dinosaurier wissen wollen. Für Mädchen sind Einhörner und Puppen bestimmt, sie lieben Geschichten über Prinzessinnen und Feen und sind ganz vernarrt in Pferde. Jungen tragen blau, grün und schwarz am liebsten mit Baggern oder Totenköpfen. Mädchen lieben rosa, lila und pink mit Glitzer, Blümchen und Schleifen.

Aber das ist nun einmal so, denken Sie? Jungen und Mädchen interessieren sich einfach für diese Dinge? Es gibt eine große Anzahl an Studien, die belegen, dass wir Jungen und Mädchen unterschiedlich behandeln und zwar von Geburt an. Schon drei Monate alten Babys bieten wir unterschiedliches Spielzeug an, und zwar abhängig davon ob wir denken einen Jungen oder ein Mädchen vor uns zu haben. Für Mädchen wählen wir die Puppe, Jungen reichen wir lieber das Auto.
Auch die Art und Weise wie wir mit Kindern reden unterscheidet sich. Schon als Babys sprechen Mütter mehr und in höherer Stimmlage mit ihren Töchtern, während sie ihren Söhnen vermehrt taktile und visuelle Stimulationen anbieten und sie auch sonst mit festerem Griff anfassen. Weinen Babymädchen, interpretieren wir das häufiger als Angst, während wir bei Jungen eher Wut als Ursache annehmen. Im Kleinkindalter ermutigen Väter ihre Töchter eher nach Hilfe zu fragen, während sie ihre Söhne dazu animieren Probleme selbstständig zu lösen (vgl. Eckes & Trautner 2000; Witt 1997; Schnerring & Verlan 2014).

So beeinflussen wir Kinder schon sehr früh und prägen unbewusst ihr Verhalten, ihre Interessen und Vorlieben. Mädchen und Jungen erreichen ständig sehr eindeutige Botschaften, wie sie sein und für was sie sich interessieren sollen. Durch unser Verhalten bestärken wir bestimmte Charakterzüge und Persönlichkeitseigenschaften, während wir andere nicht beachten oder unterdrücken. Bei Mädchen legen wir großen Wert auf Äußerlichkeiten, sie sollen hübsch und sauber aussehen, lange, gepflegte Haare und „feminine“ Kleidung tragen. Wir loben Mädchen für ihr Aussehen und erwarten, dass sie sich freundlich und angepasst verhalten. Jungen senden wir ganz andere Botschaften, sie sollen stark und mutig sein und werden angehalten, verletzliche Gefühle wie Trauer oder Angst zu unterdrücken. Wir sagen Jungen, dass sie „sich nicht so anstellen sollen“ und ermutigen sie sich durchzusetzen. Begleitet von solchen Zuschreibungen und Erwartungen entwickeln Kinder ihr Selbstbild und ihre Persönlichkeit, sie versuchen zu verstehen, wer sie sind, was sie können und dürfen und wie sie in diese Welt und unsere Gesellschaft passen. Stereotype Vorstellungen, wie Jungen und Mädchen „sind“ bzw. „sein sollen“, beschränken Kinder in diesem Prozess der Selbstfindung und Selbstwerdung.

Auch in der Kita transportieren wir bestimmte Erwartungen an Jungen und Mädchen. Durch unsere Sprache, pädagogische Aktivitäten, Raumgestaltung und Materialauswahl senden wir offene und verdeckte Botschaften an Mädchen und Jungen. Unsere eigenen Erwartungen, Vorurteile und Stereotypien beeinflussen maßgeblich, wie wir Verhalten wahrnehmen, einschätzen und bewerten und letztendlich auch, wie wir uns dem Kind bzw. der Kindergruppe gegenüber verhalten, was wir verlangen, welche Möglichkeiten wir anbieten und welche Grenzen wir setzen. Kinder im Kindergartenalter wissen sehr genau, welchem Geschlecht sie angehören und haben teilweise sehr restriktive Vorstellungen davon, wie Mädchen und Jungen, Männer und Frauen „sind“ bzw. „sein sollen“. Sie formulieren ihre Überzeugungen teilweise sehr deutlich: „Glitzer ist für Mädchen“, „Jungen lieben Fußball“, „Mädchen können nicht klettern“, „Jungen weinen nicht“.
Inklusive Kitas haben die Aufgabe, solchen Stereotypien entgegen zu wirken und sicherzustellen, dass sich alle Kinder so frei und ungezwungen wie möglich und gemäß ihren eigenen Vorlieben und Kompetenzen entwickeln können. Als Kita können wir unseren Teil dazu beitragen, gesellschaftliche Vorstellungen zu verändern und für eine offenere Gesellschaft einstehen. Wie kann das konkret aussehen?

Worte schaffen Realität

Lasst uns unserer Sprache und unserer Worte bewusst werden und diese bewusst einsetzen. Schon kleine Änderungen in unserem Sprachverhalten können in unserer und in der Welt unserer Kinder große Veränderungen bewirken.

Wir beschreiben Mädchen und Jungen mit den gleichen Worten
Im Alltag wird das gleiche Verhalten bei Mädchen anders beschrieben und damit bewertet, als bei Jungen und umgekehrt. Hier ein paar Beispiele: Jungen, die selbstsicher ihre Meinung äußern und nicht klein beigeben wollen, gelten gemeinhin als „durchsetzungsstark“ und „selbstbewusst“. Mädchen, die für sich einstehen, eher als „zickig“ und „aufmüpfig“. Mädchen, die erst einmal abwarten und beobachten, bevor sie etwas Neues ausprobieren oder eine Herausforderung angehen, sind „vernünftig“ und „bedacht“, Jungen dagegen „ängstlich“ und „feige“. Tobende Jungs sind „wild“ und „eben Jungs“, tobende Mädchen wirken schnell „aufgedreht“ und werden ermahnt leise zu sein. So bestärken wir bei dem einen Geschlecht Verhaltensweisen, die wir bei dem anderen sanktionieren. Zu solchen unfairen und schädlichen Bewertungen gehört auch, Kinder bzw. Verhaltensweisen als „typisch Mädchen“ oder „typisch Junge“ zu bezeichnen oder mit „du bist doch kein Mädchen“ oder „du führst dich ja auf wie ein Junge“ zu kommentieren.

Wir lassen Kinder sein, wie sie sind
Wir sollten auch nicht besonders hervorheben, wenn Kinder sich rollenuntypisch verhalten und Jungen z.B. Haarspangen tragen oder Mädchen sich für Automarken interessieren. Denn auch solche gut gemeinten Kommentare, wie „oh, das finde ich ja toll, dass du als Junge Haarspangen trägst“ oder „ein Mädchen, das sich für Autos interessiert, findet man auch selten“, betonen, dass das gezeigte Verhalten eben nicht als normal empfunden wird. Denn das Normale bedarf keiner weiteren Worte, oder stellen wir auch ungläubig fest, dass ein Junge verschiedenste Baumaschinen benennen kann oder ein Mädchen Hosen trägt? Kinder lesen die Botschaften, die wir ihnen senden, passen sich an unsere Vorstellungen an und versuchen den Erwartungen an sie und ihr Geschlecht zu entsprechen. Mit zunehmendem Alter zeigen sie mehr und mehr Verhaltensweisen, die mit solchen gesellschaftlichen Vorstellungen übereinstimmen und unterdrücken Interessen und Gefühle, die diesen nicht entsprechen.

Wir nutzen eine geschlechtergerechte Sprache und machen Männer und Frauen sichtbar
Menschen und Menschengruppen werden durch Sprache sichtbar oder unsichtbar. Und mit Menschen, die unsichtbar sind, einfach weil sie nicht benannt werden, können Kinder sich auch nicht identifizieren. Das zeigt sich zum Beispiel bei Studien zur Einschätzung von Berufen und damit einhergehenden Berufswünschen. Werden bei Berufen die männliche und weibliche Form genutzt, spricht man also zum Beispiel durchgängig von Feuerwehrmännern und Feuerwehrfrauen, von Krankenschwestern und Krankenpflegern oder Astronauten und Astronautinnen, trauten sich Kinder, Mädchen wie auch Jungen, eher zu, solche Berufe zu erlernen (vgl. Scholz 2015). Und auch in der Wahrnehmung von Erwachsenen spielt geschlechtergerechte Sprache eine wichtige Rolle. Erinnern Sie sich noch an das Höhlenunglück in Thailand? Eine Fußballmannschaft wurde in der Tham-Luang-Höhle überraschend vom Wasser eingeschlossen und schließlich von einem internationalen Team aus Höhlenforschern, Extremtauchern, Ärzten und Soldaten gerettet. An der Rettungsaktion waren auf allen Positionen auch Frauen beteiligt. Und haben Sie beim Lesen des vorletzten Satzes auch Extremtaucherinnen, Höhlenforscherinnen, Ärztinnen und Soldatinnen vor Ihrem inneren Auge gesehen?

Wir nutzen eine geschlechtsneutrale Sprache und behandeln Geschlecht nicht länger als Charakterzug oder dominierende Eigenschaft
Sprechen wir über Menschen, ist es unsere Angewohnheit, diese über ihr Geschlecht zu identifizieren. Wir sagen „die Frau hat einen Hund dabei“, „das Mädchen möchte auch mal Schaukeln“ oder „der Junge rennt schnell wie der Blitz“. So messen wir dem Geschlecht in unserem täglichen Sprachgebrauch eine hohe Bedeutung zu. In Schweden gibt es vermehrt Kitas, die eine geschlechtsneutrale Sprache nutzen. Die Erzieher*innen sprechen nicht von Jungen oder Mädchen, Frauen oder Männern, „er“ oder „sie“, sondern allgemein von Menschen, Personen, Kindern oder Freunden oder sie verwenden einfach den Namen der jeweiligen Person. Sie sagen also zum Beispiel „Die Person hat einen Hund dabei“, „Das Kind möchte auch mal Schaukeln“ oder „Malik rennt schnell wie der Blitz“. Und es zeigt sich, dass diese kleinen Veränderungen im Sprachgebrauch großen Einfluss auf die Kinder haben. Kinder aus solchen sprachsensiblen Kitas unterscheiden Menschen immer noch nach Geschlecht, machen aber deutlich weniger geschlechtsstereotype Zuschreibungen (zum Beispiel Jungen sind mutig und stark, Mädchen sind brav und hübsch). Auch ihr Spielverhalten verändert sich, sie wählen Spielsachen und Spielthemen freier und sind weniger gebunden an gesellschaftliche Rollenvorstellungen. Zudem sind sie öfter mit Kindern des anderen Geschlechts befreundet, als Kinder in „normalsprachigen“ Kitas. Jungen spielen ganz selbstverständlich auch in der Puppenecke und wählen Bastelaktivitäten, während Mädchen regelmäßig auch mit Autos spielen oder an wilden Bewegungsspielen teilnehmen (vgl. MacLellan 2017). Zu einem sensiblen Sprachgebrauch gehört auch, Kinder im Kita-Alltag nicht nach Geschlechtern zu trennen, zum Beispiel bei Ansprache („Alle Jungs zu mir!“) oder bei der Zuordnung zu pädagogischen Angeboten. Es geht hier nicht darum, Geschlecht zu leugnen oder nicht mehr darüber zu sprechen. Aber es geht darum, das Geschlecht nicht länger als Charakterzug oder eine die Person dominierende Eigenschaft zu behandeln.

Wir sind es gewohnt, Menschen nach Geschlecht zu kategorisieren, deshalb ist eine Umstellung im Sprachgebrauch zunächst nicht ganz einfach und fühlt sich vielleicht künstlich oder gezwungen an. Aber Übung macht den*die Meister*in. Je öfter wir Menschen als Mensch, Person, Kind oder Erwachsener bezeichnen, desto selbstverständlicher wird es und desto leichter kommen uns diese ungewohnten Worte über die Lippen.

Bilder schaffen Realität

Bilder sind mächtig. Sie beeinflussen, wie wir unsere Welt begreifen, welche Ideen und Träume wir entwickeln und was wir als wahr ansehen. Werbung, Industrie und Gesellschaft ordnen Kindern bestimmte Bilder zu. Indem wir Kindern immer wieder bestimmte Dinge anbieten und andere eben nicht anbieten, prägen wir auf subtile Weise ihren Geschmack und ihre Vorlieben. In gendersensiblen Umgebungen treffen wir keine Vorauswahl, sondern lassen Kinder tatsächlich selbst entscheiden, was sie mögen und nicht mögen und für was sie sich interessieren. Dazu gehört zum Beispiel, Kinder ihr Garderobenzeichen frei aus einer Anzahl von Bildern wählen zu lassen und nicht nach Jungen- und Mädchen-Zeichen vorzusortieren, Spielzeuge nicht nach Jungen- und Mädchen-Sachen zu trennen.

Ritterburg und Prinzessinnenschloss können und sollten ruhig im selben Regal, Dinosaurier und Pferde zusammen in einer Kiste aufbewahrt werden. Außerdem gibt nur noch eine Schatztruhe, aus der alle Kinder ihr Geburtstagsgeschenk wählen, statt eine für Jungs und eine für Mädchen. Bücher und Bilder sind so ausgewählt, dass sie verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Interessen abbilden und auf Stereotype verzichten. Es ist außerdem wichtig, vermehrt Spielzeuge und Bücher anzubieten, die nicht für ein bestimmtes Geschlecht gemacht sind, sondern einfach Interesse, Kreativität und die Freude am Spiel befeuern oder interessante Geschichten über Kinder erzählen.

Verallgemeinerungen vermeiden

Kinder wollen verstehen, wie die Welt ist und wie Menschen in ihr funktionieren. Sie nutzen dazu Kategorisierungen, Verallgemeinerungen und sogenannte Übergeneralisierungen. Von Übergeneralisierung spricht man, wenn ein Kind ein Merkmal einer Sache erkennt und dann alle Dinge, die dieses Merkmal aufweisen, entsprechend zuordnet, also zum Beispiel alle Tiere mit vier Beinen als „Wauwas“ oder alle Fahrzeuge mit Rädern als „Autos“ bezeichnet. Mit steigender Erfahrung lernen Kinder dann zunehmend Objekte und Lebewesen zu differenzieren und die „Wauwas“ werden schließlich zu Katzen, Hunden und Hasen oder die „Autos“ zu Bussen, Dreirädern und LKWs.

Auch später versuchen Kinder durch Verallgemeinerungen Ordnung in ihr Erleben zu bringen. Aussagen wie „Fußball ist nur was für Jungs“ oder „Lange Haare haben nur Mädchen“ sind daher keine Seltenheit. In der Kita ist es unsere Aufgabe, solchen Verallgemeinerungen entgegenzutreten und andere Perspektiven anzubieten. Zunächst können wir die Aussage des Kindes und seine damit verbundene Wahrnehmung bestätigen und konkretisieren, zum Beispiel indem wir sagen: „Du und der Issa, ihr spielt richtig gerne Fußball“ oder „Die Anni hat ganz lange Haare“. Dann helfen wir dem Kind seine Wahrnehmungen zu erweitern, zum Beispiel indem wir sagen: „Aber es gibt auch Mädchen, die super Fußball spielen“ oder „Es gibt auch Jungs mit langen Haaren“. Das funktioniert am besten, wenn wir zusätzlich ein konkretes Beispiel nennen: „Kennst Du Alois‘ große Schwester Selma? Die spielt sogar im Verein“ oder „Der Ben und der Giovanni haben lange Haare“.

Kinder ermutigen Gefühle auszudrücken

Auch beim Umgang mit und der Bearbeitung von Gefühlen behandeln wir Mädchen und Jungen unterschiedlich. Beispielsweise sprechen Mütter und Väter mit ihren vierjährigen Töchtern vergleichsweise mehr über Gefühle und nutzen differenziertere Wörter, um diese zu beschreiben als mit ihren gleichaltrigen Söhnen. Wir gestatten Mädchen eher negative Gefühle, wie Trauer und Schmerzen auszudrücken und bieten ihnen dabei mehr Trost und Zuwendung an als Jungen. Mädchen, die sich beim Spiel wehtun, werden viermal häufiger ermahnt, nächstes Mal vorsichtiger zu sein, als Jungen, die eher dazu angehalten werden „sich nicht so anzustellen“ (vgl. Reiner 2017; Think or Blue 2017). Die Kompetenz, eigene Gefühle zu spüren, richtig zu deuten und angemessen zu bearbeiten, ist ein wichtiger Schutzfaktor und stärkt die ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. . Sie ist außerdem Voraussetzung dafür, Gefühle anderer anzuerkennen und sich empathisch zu verhalten. Im Alltag können wir Mädchen wie Jungen dabei unterstützen ihre Gefühle wahrzunehmen und anzuerkennen. Und zwar ohne diese zu bewerten, kleinzureden oder zu unterdrücken. Folgende Strategien können uns dabei helfen:
Innehalten: Halten Sie kurz inne, wenn ein Kind in Ihren Augen „übermäßige“ oder „unangemessene“ Gefühle zeigt. Fragen Sie sich, warum Sie diese Gefühle so bewerten und was der kindliche Ausdruck in Ihnen auslöst. Erinnern Sie sich daran, dass die Gefühle für das Kind real sind und es ein Recht hat diese zu äußern. Es ist nicht Ihre Aufgabe, das Kind vor negativen Gefühlen zu bewahren oder diese für es zu lösen. Es ist Ihre Aufgabe da zu sein und das Kind zu begleiten.

Gefühle wahrnehmen und anerkennen: Signalisieren Sie dem Kind, dass sie seine Gefühle wahrnehmen und als wichtig anerkennen. Beschreiben Sie einfach was Sie sehen („Ich sehe, dass du weinst“, „Ich finde, du siehst gerade traurig aus“, „Du schreist und haust um dich. Bist du wütend?“).

Gefühle benennen: Geben Sie dem Kind Raum, seine Gefühle in Worte zu fassen, unterstützen Sie es gegebenenfalls dabei. Fragen Sie zum Beispiel „Wie fühlst du dich?“, „Wo spürst du deine Wut?“, „Was passiert gerade in dir?“

Gefühle einordnen und verstehen: Ermutigen Sie das Kind herauszufinden, warum es sich so fühlt bzw. was seine Gefühle ausgelöst hat. Sie können dabei auch eigene Deutungen anbieten. Stellen Sie aber sicher, dass Sie diese als ihre Vermutungen kennzeichnen, zum Beispiel „Ich glaube du bist traurig, weil du den Ball nicht haben kannst“ oder „Könnte es sein, dass du wütend bist, weil die anderen dich nicht mitspielen lassen?“

Gefühle achten: Zeigen Sie dem Kind, dass Sie seine Gefühle ernst nehmen und achten („Das kann ich verstehen, dass du da traurig bist“). Reden Sie seine Gefühle nicht klein („So schlimm ist das ja nicht“, „Es ist ja gar nichts passiert“), fordern Sie das Kind nicht auf seine Gefühle zu unterdrücken („Jetzt stell dich mal nicht so an“, „Jetzt beruhig dich mal wieder“) und bewerten Sie sie nicht („Das ist jetzt aber wirklich nicht so schlimm“, „Das ist Quatsch da jetzt sauer zu sein“).

Mit eigenem Unbehagen umgehen

Manchmal verspüren wir Unbehagen oder Unverständnis, wenn Kinder sich nicht „rollenkonform“ verhalten. Das betrifft Jungen meist eher als Mädchen. Mädchen, die sich für Baustellen begeistern oder gerne Fußball spielen, erfahren häufig mehr Akzeptanz als Jungen, die sich als Prinzessin verkleiden oder sich liebevoll um ihre Puppen kümmern. Wie aber können wir mit unserem Unbehagen umgehen? Wir können unsere Bedenken zulassen und uns bewusst folgende Fragen stellen: Wovor haben wir Angst? Davor, dass das Kind gehänselt wird? Wie würden wir damit umgehen, wenn das Kind für etwas anderes gehänselt würde, zum Beispiel eine Leidenschaft für Insekten oder eine Faszination für Astronomie? Wir würden das Kind dabei unterstützen sich zur Wehr zu setzen, es in seinem Tun bestärken und die anderen Kinder für ihre Hänseleien zurecht weisen und ihnen die faszinierenden Aspekte von Insekten oder Astronomie aufzeigen. Befürchten wir, dass das Kind zu „weiblich“ oder zu „männlich“ wird? Welche konkreten Eigenschaften oder Charakterzüge soll das Kind nicht entwickeln? Warum sollen sie dem Kind zukünftig schaden? Welche positiven Aspekte haben diese Eigenschaften und was könnten sie dem Kind jetzt und in Zukunft nützen?

So entlarven und entkräften wir Vorurteile. Durch diese kleinen und größeren Veränderungen in unserem Alltag bemühen wir uns, alle Kinder in ihrer Person und in ihrem So-Sein zu achten und ihnen eine freie Entwicklung zu ermöglichen. Wir versuchen, allen Kindern das Gefühl geben: „Du bist wichtig. Du bist richtig. Du bist ganz.“


LITERATUR

  • Eckes, T., Trautner, H. (2000): The Developmental Social Psychology of Gender. London.
  • MacLellan, L. (2017): Sweden’s gender-neutral preschools produce kids who are more likely to succeed. qz.com/1006928/swedens-gender-neutral-preschools-produce-kids-whoare-more-likely-to-succeed
  • Reiner, A. (2017): Talking to Boys the Way We Talk to Girls. In: New York Times vom 15.6.2017. www.nytimes.com/2017/06/15/well/family/talking-to-boys-the-way-we-talk-togirls.html
  • Schnerring, A., Verlan, S. (2014): Die Rosa-Hellblau-Falle. München
  • Think or Blue (2017): 7 Easy Ways to Parent Without Stereotypes. E-Book. http://www.thinkorblue.com/e-book/
  • Witt, S. (1997): Parental influence on children‘s socialization to gender roles. In: Adolescence. Roslyn Heights. Bd. 32, Ausg. 126.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 4-2020, S. 46-49


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