Wie sieht Rassismus in der Kita aus?

Können kleine Kinder schon rassistisch sein? ■ Oft werde ich in Workshops von Teilnehmenden gefragt, ob kleine Kinder denn wirklich schon rassistisch sein könnten »sie sehen doch gar keine Hautfarben« – und dann folgen Beispiele aus dem Kita-Alltag. Es ist genau das, was uns an eines der Kernprobleme heranführt. Denn WER sieht keine Hautfarbe?

An dieser Stelle erlaube ich mir eine kurze Zwischenfrage, die für die Reflexion dieser Auseinandersetzung hilfreich sein könnte: Ab wann haben Sie bewusst wahrgenommen, dass Sie eine Hautfarbe haben? Nehmen Sie sich gern eine Minute Zeit, bevor Sie weiterlesen.
Wenn Sie feststellen, dass das in Ihrer Jugend oder sogar im Erwachsenenalter war, dann gehören Sie höchstwahrscheinlich der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Das bedeutet, dass Sie das Privileg besitzen, nicht über die eigene Hautfarbe nachdenken zu müssen, denn sie wird als »normal« betrachtet. Weiß-sein bedeutet »farblos« zu sein. (1) Die, die es nicht sind, werden als von der »Norm« abweichend betrachtet und mit unterschiedlichen Begriffen, die »Farbe« ausdrücken sollen »bezeichnet«.

Vom Privileg "unsichtbar" zu sein

Das Privileg, »unsichtbar« zu sein, haben POCs (2) nicht. Im Gegensatz zu weißen Kindern machen Kids of Colour bereits in ihren ersten Lebensjahren mehrfach die Erfahrung, dass auf sie reagiert wird, dass sie auffallen und Aufmerksamkeit wegen ihres Aussehens auf sich ziehen. So werden sie zum Beispiel lange angestarrt, obwohl es die unausgesprochene gesellschaftliche Regel gibt, dass Anstarren unhöflich ist. Ihnen wird ungefragt in die Haare gegriffen, sie werden mit Schokolade verglichen, ausgelacht oder hören, wie andere über sie reden und einander erklären, sie seien wahrscheinlich aus Afrika. Meine Tochter musste sich damals im Kindergarten von einer anderen 5-Jährigen anhören, sie sähe aus wie eine ›Kackwurst‹. (3)

Solche Erfahrungen sind nicht nur befremdlich, lästig, und übergriffig, sie sind in erster Linie schmerzhaft. Langfristig beeinflussen sie die Selbstwahrnehmung des Kindes und prägen das Selbstwertgefühl. Immer wieder wird von außen suggeriert: »Du bist ›anders‹«. Diese Form von „othering“ (4) trennt und grenzt das Kind von der Gemeinschaft ab, derer es sich zugehörig fühlt. Es vermittelt die unausgesprochene Botschaft: »Du gehörst nicht dazu«. Nach dem Individualpsychologen Alfred Adler (1870–1937), haben Menschen ein angeborenes Gemeinschaftsgefühl, welches sich im sozialen Zusammenhang entwickelt (5). Dieses wird somit immer wieder verletzt, durch othering und Ausgrenzungserfahrungen entmutigt und enttäuscht. Das heißt, dass einem Teil der Kinder in der Kita auf jeden Fall schon sehr früh bewusst ist, dass sie eine Hautfarbe haben und aufgrund dieser anders, bzw. schlechter behandelt werden. Genau deshalb ist es so wichtig, bereits im frühen Alter mit Kindern in den Austausch über Rassismus und Rassismuserfahrungen zu gehen – kindgerecht versteht sich.

Auf Fragen ehrlich antworten

Betrachtet man die Entwicklungsstufen und das Sozialverhalten von Kindern im Alter von 2 bis 3 Jahren, so nehmen diese Unterschiede zunehmend bei sich selbst und anderen wahr und fangen an, diese zu benennen. Im Alter von 3 bis 4 Jahren erholen sie sich durch ihre Warum-Fragen Antworten, die ihnen die Zusammenhänge der Welt erklären. (6) In dieser Alterspanne liegt eine große Chance für begleitende Pädagogen und Pädagoginnen. Mythen über Herkunft und Hautfarbe können abgebaut werden. Stereotype »Bilder im Kopf« können durch Differenzieren »korrigiert« und ersetzt werden. Indem Erzieher/innen vorurteilsbewusst und wahrhaftig antworten, zeigen sie nicht nur die Vielfältigkeit unserer Welt auf, sondern setzen Zeichen von Gleichwertigkeit, die sonst fehlt. Die Fragen nach dem Grund für die unterschiedlichen Schattierungen von Haut brauchen keine komplizierten auf evolutionsgeschichtliche Zusammenhänge zurückgreifende Antworten – es reicht zu sagen, dass Menschen eben ganz unterschiedlich aussehen.

In der Frage jedoch: »Warum hat Leah so komische Haare?« liegt nicht nur Neugier und der Wunsch nach einer Erklärung. Sie ist auch eine Wertung, die ein unveränderliches Identitätsmerkmal von Leah abwertet. Unbewusst greifen Kinder bereits in frühem Alter auf gesellschaftlich konstruierte ›Normvorstellungen‹ und damit verbundene rassistische Bewertungsmuster zurück, wie in diesem Fall.

An dem Beispiel wird deutlich, welche wichtige Rolle Erzieher/innen in diesem Prozess innehaben. Es ist entscheidend, wie sie mit dieser Frage und Aussage umgehen. So ist es zunächst wichtig, Leah zu vermitteln, dass ihre Haare wunderschön sind, wie sie sind, und emphatisch auf sie einzugehen – wahrscheinlich ist Leah traurig, denn sie spürt die non-verbale herabsetzende Botschaft. Dabei ist es ebenso wichtig, die negative Bewertung durch das neutrale Wort »lockig« zu ersetzen und kindgerecht zu erklären, dass »komisch« kein Wort ist, mit dem wir Menschen beschreiben möchten. Keiner ist »komisch«. Zu dem fragenden Kind gewandt (und allen weiteren, die diese Situation beobachtet haben und unbewusst Begründungsmuster abspeichern) lässt sich dann leicht erklären, wie bereichernd es ist, dass Menschen alle unterschiedliche Haarstrukturen und -farben haben. Somit wird Leah geschützt und bestärkt, dass mit ihr »alles stimmt«. Dem Kind gegenüber, das etwas Rassistisches geäußert hat, werden Grenzen gesetzt. Allen anderen, die es beobachtet haben, wird vermittelt, dass Unterschiede gleichwertig nebeneinanderstehen und Ausgrenzung aufgrund von Aussehen nicht erlaubt ist.

»Aber das ist doch nicht böse gemeint«.

Das ist ein Kommentar, den ich in dem Zusammenhang ebenfalls sehr häufig höre. Und das ist glaubwürdig. Wir dürfen jedoch bei der Auseinandersetzung mit Rassismus nicht vergessen, dass dieser auch unbewusst und indirekt statt-findet – ohne böse Absicht. Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass das aus Sicht der Betroffenen keine Rolle spielt. Rassismus bleibt eine schmerzhafte Erfahrung für diejenigen, die es abbekommen. Egal von wem die rassistische Handlung ausgeht, ob von Kindern, Erzieher/innen oder Eltern, es sollte nicht darum gehen, sich schuldig zu fühlen – damit wäre keinem geholfen. Oft neigen Menschen dazu, sich im Gegenzug zu verteidigen. Sie versuchen zu relativieren oder die Erfahrung den Betroffenen absprechen zu wollen: »Ach komm, sei nicht so empfindlich, das war doch gar nicht so gemeint«. Ein bewusster Umgang mit Rassismus besteht darin, die Perspektive derer in den Mittelpunkt zu rücken, die von Rassismus betroffen sind – sie ernst zu nehmen. Wichtig ist, sich in diesem Moment bewusst zu machen, um wen es wirklich geht. Nämlich um die, die gerade wegen ihrer vermeintlichen Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Haarstruktur, ihrer Sprache oder religiösen Prägung verletzt wurden. Sie brauchen in dem Moment Schutz, Verständnis, Trost und die Versicherung, dass Ausgrenzung, schlechter behandelt oder ausgelacht und ignoriert zu werden, nicht in Ordnung ist – rassistisch eben.

Wo gibt es Rassismus noch in der Kita?

Rassistische Stereotype und Haltungen finden sich in der Kita auch in Büchern, Spielen und Medien wieder. Vor allem Wissensspiele, Weltkarten und CDs, die zu einer ›Reise um die Welt‹ einladen, sind sehr anfällig dafür, rassistische Stereotype zu reproduzieren. So werden um Beispiel Kinder in Baströckchen zu Repräsentanten und Repräsentantinnen einer gesamten Nation oder sogar eines Kontinents gemacht. Alberne Nachahmungen unterschiedlicher Sprachen sollen Zugang zur Sprachenvielfalt der Völker der Welt schaffen! Wie kann es sein, dass diese diskriminierenden Bücher, Reime, Lieder und Spiele (wie zum Beispiel: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«) immer noch nicht aussortiert wurden? Sie sind rassistisch und vermitteln ein entwürdigendes und schiefes Bild – nämlich das einer Welt, in der Menschen nicht gleichwertig behandelt werden.

Auch das Nicht-Vorkommen in Büchern ist rassistisch. Wer wird in Büchern und Medien abgebildet – wer nicht? Um wen geht es? Wem wird Bedeutung beigemessen? Das wiederholende »Fehlen« von Menschen mit diversen Identitätsmerkmalen in den Medien spiegelt einerseits nicht die Lebenswirklichkeit der Kinder wider. Andererseits entzieht sie Respekt und Anerkennung und vermittelt unbewusst, dass POCs anscheinend einer minderwertigen Gruppe angehören, die keiner Beachtung in der Gesellschaft würdig seien. Mittlerweile gibt es zahlreiche wertvolle Spielmaterialien, Bücher und Puppen, die DiversitätDiversität|||||siehe Diversity von Identitäten und Lebenswirklichkeiten von Kindern darstellen. (7) In einer Gesellschaft, die für Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit steht, ist es unabdingbar, diese Materialien, mit denen Kinder in Kontakt kommen und sich Zugang zu Wissen aneignen sollen, vorurteilsbewusst zu überprüfen, sich von dem zu trennen, was rassistische Denkmuster und Bilder aufrecht hält und Platz zu schaffen für Neues.

Fazit

Ziel einer Auseinandersetzung über Rassismus in der Kita ist es, Kinder, Eltern und Erzieher/innen zu schützen, die Rassismuserfahrungen machen, denn die machen sie als POCs in einer mehrheitsweißen Gesellschaft. Die Welt hat eine Geschichte und aus dieser sind wir noch nicht herausgewachsen. Das gilt es anzuerkennen. Gleichzeitig ist es für im Kita-Bereich Tätige essenziell, die eigene Position, die eigenen Denkmuster, und unseren Sprachgebrauch bewusst auf stereotype und rassistische Bilder zu überprüfen. Kita-Leitungen können Reflexionsräume schaffen, in denen eine vorurteilsbewusste Auseinandersetzung stattfindet, die das pädagogische Handeln immer wieder überprüft, Abläufe, Materialien, Bücher und Räume unter eine rassismuskritische Lupe nimmt und Möglichkeiten berät, wie damit umgegangen werden soll. In dem Privileg, nicht von Rassismus betroffen zu sein, liegt die Verpflichtung, sich damit zu beschäftigen und alles Mögliche zu tun, rassistische Muster zu durchbrechen, sie abzuschütteln und allmählich verschwinden zu lassen. Das erfordert ein Hingucken, Anerkennen, kritische Selbstreflektion und ein Abschiednehmen von Gewohntem, das anderen schadet. Das erfordert Mut und ist vielleicht manchmal unbequem – aber das ist Rassismus auch.


Fußnoten
(1) Millay Hyatt: Critical Whiteness – Weißsein als Privileg im Interview mit Deutschlandfunk am 03.05.2015 in https: / / www. deutschlandfunk. de/critical- whiteness- weisssein- als- privileg. 1184. de.html? dram: article_ id= 315084.
(2) POC »›Person of Colour‹ ist eine selbstgewählte Bezeichnung für Nicht-Weiße, die für eine sehr vielfältige Gruppe die gemeinsame Erfahrung mit Rassismus betont«. Ebd.
(3) An dieser Stelle, wie auch im gesamten Text, versuche ich bewusst und weitestgehend darauf zu verzichten, rassistische Beispiele zu nennen, um sie bewusst nicht zu wiederholen.
(4) Fred Dervin: Discourses of Othering. University of Helsinki, Finland. Paper for NECE Conference (networking European citizenship education). $essaloniki 2015. https: / / www.bpb. de/ veranstaltungen/ netzwerke/ nece/ 213913/othering.
(5) H.L. Ansbacher, R.R. Ansbacher: Alfred Adlers Individualpsychologie, S. 105f. München 2004. Reinhardt Verlag (5.Au&age).
(6) Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, S. 103 f. Freiburg im Breisgau 2008. Herder Verlag.
(7) Siehe auch tebalou – Vielfalt im Spielzimmer: www. tebalou. de.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 10-2020, S. 235-237


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