Gender- und diversitätsbewusste Pädagogik in Kitas

Aktuelle Herausforderungen (1)

Co-Autorin: Prof. Dr. Ute Schaich

„Geschlechterpädagogik – das ist doch Schnee von gestern!“ – so wird zuweilen reagiert, wenn Genderthemen angesprochen werden. Geschlechtergerechtigkeit ist als Vorgabe etabliert, Jungen und Mädchen werden gleich behandelt, alles ist dazu gesagt. Lediglich die neuen Themen inter und trans* erfordern noch Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite scheint die Genderfrage heute manchmal auf Debatten über die Verwendung des Gendersternchens reduziert zu werden. Diese führen zuweilen zu so heftigen und sehr polarisierten Auseinandersetzungen, dass dahinter viele andere Fragen rund um Geschlechterverhältnisse verblassen – die unseres Erachtens wesentlich bedeutsamer sind.

Wir beginnen diesen Beitrag daher mit der Frage, warum Geschlechterfragen nach wie vor gestellt werden müssen – auch und gerade in der Kita. Weiter befassen wir uns mit einem Aspekt, der sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert hat – der zunehmenden Präsenz von männlichen Fachkräften in Kitas. Dann kommen wir auf Intersexualität und Transidentität zurück und fragen danach, welche Geschlechterbilder mit den Diskursen um diese Themen verbunden sind. Abschließend nehmen wir vor dem Hintergrund der mit der zunehmenden Heterogenität unserer Gesellschaft verbundenen Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit von Geschlecht mögliche Perspektiven für gender- und diversitätsbewusste Pädagogik in Kitas in den Blick.

Warum es sich immer wieder lohnt, sich mit der Geschlechterfrage in Kitas zu beschäftigen (2)

Studien zur Bedeutung von Geschlecht in Kitas zeigen, dass geschlechtsstereotypes Verhalten durch die Fachkräfte zwar nur begrenzt vorangetrieben wird. Aber sie zeigen auch: Es gibt Fehlwahrnehmungen und blinde Flecken. Die Geschlechterforscherin Melanie Kubandt (2016) hat in ihrer Beobachtungsstudie in einer Kindertageseinrichtung u.a. herausgefunden, dass die Fachkräfte alle Kinder gleich behandeln wollten, um sich nicht an der Konstruktion von Geschlechterstereotypen zu beteiligen. Sie bevorzugten dazu neutrale Angebotsformen, z.B. Waldtage. Wenn aber geschlechterstereotypes Verhalten im Alltag ohne ihre direkte Beteiligung auftauchte, wenn z.B. Mädchen spontan Päckchen mit rosa Bändern und Jungen Päckchen mit blauen Bändern aussuchten, wurde es als von den Fachkräften nicht beeinflussbar wahrgenommen. Die Geschlechterstereotype blieben unhinterfragt (ebd., S. 198-199). Jedoch gab es bei den Kindern im freien Spiel nicht nur Beispiele einer starren Geschlechterzuordnung, sondern auch Versuche, die feste Geschlechterzweiteilung situativ aufzuheben, z.B. auch Mädchen in die Jungenbande oder Jungen in die Mädchenbande aufzunehmen, wenn dies als gewinnbringend erschien (ebd., S.234-246). Versuche der Aufhebung einer starren Geschlechterzweiteilung gab es auch in Bezug auf die Identität. Ein Kind namens Mia bezeichnete sich als Jungenfan. Diesen Status nutzte Mia, um für sich eine „geschlechtliche Sonderform“ zu schaffen, mit der sie sich identifizieren konnte (ebd., S. 247-252). Fachkräfte tun also gut daran, sich für die Bedeutungen aus Sicht der Kinder zu interessieren, wenn sie sich „typisch“ oder auch genderflexibel verhalten und aufmerksam zu sein gerade auch gegenüber alternativen Handlungsoptionen, die die Kinder durchaus auch zeigen.

In einer weiteren Beobachtungsstudie, die von Claudia Machold (2015) durchgeführt wurde, kommen mehrere soziale Kategorien zum Tragen, neben Gender auch Ethnizität und Generation. Z.B. ruft eine Erzieherin ein türkischstämmiges Mädchen mit „Komm mal her Baby“ zu sich. Das Mädchen wehrt sich und erwidert: „Ich bin kein Bebi.“ Die Erzieherin betitelt sie dann mit dem türkischen Wort für Zigeunerin und richtet ihr die langen Haare (ebd., S. 139 ff.).

Das Mädchen wird in dieser Situation also mit mehreren abwertenden Bedeutungen konfrontiert. Baby ist ein verweiblichendes Kosewort. Die Aufforderung „Komm mal her“ in Verbindung mit „Baby“ begründet eine alters- und geschlechtsbedingte Dominanz. Die Geschlechterrelevanz wird noch dadurch unterstrichen, dass die Erzieherin dem Mädchen die Haare richtet. Der Ausdruck „Zigeunerin“ ist eine rassismusrelevante Unterscheidungspraktik (ebd., S. 143).

Die Chance dieser mikrostrukturellen Rekonstruktion von Gender und Diversität liegt darin, dass die Analyse solcher Alltagssituationen Studierenden der Frühpädagogik oder der Sozialen Arbeit und Fachkräften in der Aus- und Fortbildung zeigt, wie trotz des Anspruchs der Gleichberechtigung der Geschlechter Geschlechterstereotype und soziale Ungleichheit unbewusst immer wieder hergestellt werden. Es ist wichtig, die Situationen der professionellen Reflexivität zugänglich zu machen, um den Blick für die eigene Verwobenheit zu öffnen.
In einer Beobachtungsstudie von Ute Schaich wird gegenwärtig untersucht, wie Gender und Diversität speziell in Krippen und Krabbelstuben, also in der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren, bedeutsam gemacht werden.(3) Aufgefallen ist uns z.B., dass die befragten Fachkräfte in den Interviews zum Ausdruck bringen, dass sie gemischtgeschlechtliche Teams als Bereicherung erleben, weil mehr Wahrnehmungen und Ideen zusammenkommen und weil gezeigt wird, dass beide Geschlechter in der Lage sind, mit Kleinkindern zu arbeiten. Auffallend war aber auch, dass die Befragten Eigenschaften, die sie weiblichen Fachkräften und Müttern zuschreiben, tendenziell abwerten, während sie Eigenschaften, die sie männlichen Fachkräften und Vätern zuschreiben, höher bewerten.

Die verschiedenen genannten Beobachtungs- und Interviewbeispiele zeigen also: Die Geschlechterfrage hat sich nicht erledigt! Jede neue Generation muss sich immer wieder neu mit ihr auseinandersetzen.
Die Frage ist, wie man Alltagssituationen am besten genderbewusst reflektiert. Denn manchmal entstehen Zirkelschlüsse, also dass man glaubt zu erkennen, was man vorher in Bezug auf die Geschlechter schon glaubt zu wissen oder vermutet hat. Dann bestätigt man Vorannahmen. Die Teilnehmenden diskutierten ein Fallbeispiel aus der oben genannten Studie zur Geschlechterdifferenzierung in Krippen. Aus der Darstellung des Fallbeispiels war nicht zu entnehmen, wer männlich, weiblich oder divers ist. Die Fragen waren:
  • Was war Ihr erster Gedanke beim Lesen?
  • Wer macht/sagt was und warum?
  • Haben Sie eine Idee zum Geschlecht und warum?


Fallbeispiel „Beim Frühstück“ – eine Gruppendiskussion

Kind 1 weist Fachkraft 1 darauf hin, dass die Gruppenraumtür offenstehe. Fachkraft 1 steht auf, um die Tür zu schließen (…). Kind 1 sagt, dass hinter der Tür Monster seien, die gleich hereinkommen würden. Fachkraft 2 sagt, dass hinter der Tür ganz sicher keine Monster seien.
Als Fachkraft 1 sich wieder hingesetzt hat, weist Kind 2 diese darauf hin, dass sie gar keine Hausschuhe anhabe, sondern ihre „Draußenschuhe“. Fachkraft 1 sagt, dass sie vergessen habe, die Hausschuhe anzuziehen, als sie von draußen reingekommen seien. Davon werde aber der Boden dreckig, sagt Kind 2 entrüstet. Fachkraft 1 entgegnet: „Von eurem Müsli aber auch.“ Demonstrativ wirft sie einen Blick unter den Tisch. Kind 2 schaut Fachkraft 1 nachdenklich an und Fachkraft 3 stellt laut fest, dass Kind 2 jetzt wohl erst einmal nachdenken müsse.


In einer Gruppendiskussion über dieses Fallbeispiel waren die Teilnehmenden übereinstimmend der Ansicht, dass das der Szene zu Grunde liegende Thema Adultismus ist. Es geht darum, dass Kinder Erwachsene kritisieren und darin ernst genommen werden wollen, die Erwachsenen-Kind-Interaktionen aber von einer deutlichen Asymmetrie geprägt sind und die von den Kindern angeboten Themen nicht aufgegriffen werden (Monster, Hygiene, Regeln einhalten etc.).

Welchen Effekt hatte es nun, dass die Geschlechter nicht erkennbar waren? Zunächst wurden von den Teilnehmenden keine relevanten Bezüge zu Geschlecht hergestellt. Geäußert wurde, dass man nicht primär in den Kategorien Mädchen-Junge dachte, sondern sich auf das Individuum und seine Motive konzentrierte. Geschlechtsbezogene Zuordnungen wurden dagegen vermieden, um „bloß keine schlimmen Stereotype“ (O-Ton einer Teilnehmerin) zu reproduzieren. Tatsächlich stellte sich im weiteren Gespräch heraus, dass es durchaus geschlechtsbezogene Assoziationen gab. So ließ das Bild des „Monsters“ manche Teilnehmende eher an Jungen denken. Die Rechtfertigung der Erzieherin im zweiten Teil wurde als Abwehr des Gefühls der Beschämung gedeutet und mit geschlechtstypischen Haltungen von Erzieherinnen in Verbindung gebracht. Auch die Aushandlung der Themen „Ordnung“ und „Dreck“ im Fallbeispiel kann als Ausdruck von Geschlechterdynamiken gesehen werden, die für das Arbeitsfeld Kita charakteristisch sind. So werden unterschiedliche Haltungen von weiblichen und männlichen Fachkräften zu Ordnung und Regeln berichtet (Aigner & Rohrmann 2012). Und dass Männer und Frauen verschiedener Ansicht darüber sein können, was „dreckig“ ist, lässt sich nicht nur in fachlichen Kontexten beobachten.

Auf der Grundlage dieses Vorgehens können Fortbildungsgruppen oder Teams dieses oder andere Fallbeispiele dahingehend reflektieren, welche Assoziationen zum Geschlecht auftauchen. Dazu ist zunächst eine „Erlaubnis“ erforderlich, auch klischeehafte Assoziationen überhaupt äußern zu dürfen, denn sonst werden diese unsichtbar. Weitergehende Fragen zur Reflexion könnten u.a. sein: Hatten alle dieselbe Idee zum Geschlecht, oder gibt es Unterschiede? Können wir Kritik von Kindern ertragen, oder fühlen wir uns leicht in unserer Autorität angegriffen? Macht es dabei einen Unterschied, ob ein Mädchen uns herausfordert oder ein Junge? Verlangen wir von Mädchen mehr Unterordnung und Anpassung als von Jungen? Die Verfremdung ist geeignet, Stereotypen auf die Spur zu kommen. Auch wenn Geschlecht, wie in dem genannten Beispiel, nicht das Hauptthema ist, können Geschlechterbezüge hergestellt werden.

Mehr Männer in Kitas – und nun?

Während Geschlechterstereotype und unbewusste Tendenzen zur Stereotypisierung sich auch über Jahrzehnte hinweg als erstaunlich stabil erweisen, gibt es in einem anderen Aspekt der Geschlechterverhältnisse deutliche Veränderungen: der Zahl männlicher Fachkräfte. Mit 53.708 Männern arbeiteten 2021 fast fünfmal so viele männliche Beschäftigte in deutschen Kitas wie 15 Jahre zuvor.
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Abb. 1: Männer im pädagogischen Personal von Kitas im Zeitvergleich (Statistisches Bundesamt, 1998-2021, eigene Berechnungen). Orange: Pädagogisches, Leitungs- und Verwaltungspersonal. Blau: ohne Verwaltungspersonal

Da in diesem Zeitraum auch die Gesamtzahl der Fachkräfte erheblich angestiegen ist, ist der relative Anteil männlicher Fachkräfte nicht im selben Ausmaß angestiegen; auch dieser hat sich aber in den letzten fünfzehn Jahren mehr als verdoppelt, im Vergleich zu 1996 hat er sich sogar fast verdreifacht und liegt heute bei 7,58%. In nahezu allen Bundesländern steigt der Anteil männlicher Fachkräfte seit Jahren langsam, aber kontinuierlich an.

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Abb. 2: Männeranteil am im pädagogischen Personal von Kitas in ausgewählten Bundesländern im Zeitvergleich (Statistisches Bundesamt, 1998-2021)

Die verbreitete Annahme, dass diese Männer dann schnell auf Leitungspositionen aufrücken, lässt sich in dieser Form nicht belegen: der Männeranteil an freigestellten Leitungskräften lag 2021 bei 7,83% und damit nur geringfügig höher als der durchschnittliche Männeranteil am Personal (Statistisches Bundesamt 2021, eigene Berechnungen). Im Vergleich der letzten Jahrzehnte ist der Anteil der Männer an den Leitungskräften sogar weniger stark angestiegen als der Anteil der Männer am pädagogischen Personal insgesamt.

Dabei sind die Teamkonstellationen sehr unterschiedlich: während in manchen Einrichtungen mehrere Männer arbeiten oder Teams sogar paritätisch besetzt sind, sind andere Männer nach wie vor „Solotänzer im Damenballett“, wie es eine der ersten Initiativen für mehr Männer in Kitas vor über 30 Jahren formulierte. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor viele Kitas mit reinen Frauenteams. Daten eines großen freien Trägers in Frankfurt, der seit langem viele männliche Fachkräfte beschäftigt, bestätigen dies.

Dies verändert die Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse in Kita-Teams erheblich. Während viele Jahre lang die Frage im Vordergrund stand, wie mehr Männer für eine Tätigkeit in Kitas gewonnen werden können (vgl. Koordinationsstelle 2013; 2014; Peeters, Emilsen & Rohrmann 2015), rückt nun zunehmend die Frage in den Vordergrund, wie sich die Zusammenarbeit im Kita-Team und die pädagogische Arbeit mit Kindern verändert, wenn Frauen und Männer zusammenarbeiten (Cremers, Stützel & Klingel 2020). Auf der anderen Seite kann gefragt werden, wie sich gemischte Teams von reinen Frauenteams unterscheiden und welche Faktoren zu einer Erhöhung des Männeranteils in Teams beitragen können.

In einem Workshop zu Genderpädagogik tauschten sich die Teilnehmenden über Eindrücke und Erfahrungen zu Frauen und Männern im Kita-Team aus. Als erste spontane Assoziationen wurden genannt:
  • Diskriminierung von Männern
  • Männer sind für Fußball und auf Bäume klettern zuständig
  • Wenn es mehr Männer gäbe, gäbe es auch mehr Fälle von sexuellem Missbrauch in Kitas
  • Intoleranz unter Kolleginnen und Kollegen.
Diese Eindrücke sind alles andere als repräsentativ – Studien belegen ganz überwiegend positive Einstellungen zu Männern in Kitas, und auch viele Männer berichten, dass sie in Teams gut aufgenommen werden. Andererseits sind auch Tendenzen zur Stereotypisierung sowie der so genannte „Generalverdacht“ gegenüber männlichen Fachkräften durch Studien vielfach und weltweit belegt. Die geschilderten spontanen Assoziationen weisen damit unmissverständlich darauf hin, dass sich das Thema Genderpädagogik mit dem steigenden Anteil männlicher Fachkräfte in Kitas nicht erledigt hat – im Gegenteil: die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Frauen und Männer gut zusammenarbeiten und Kinder gemeinsam begleiten können, ohne geschlechterbezogene Klischees zu bedienen, beginnt gerade erst.

Sexuelle Vielfalt anstatt geschlechtersensibler Pädagogik? (4)

In den letzten Jahren sind die Themen Intersexualität und Transidentität ins Zentrum von Debatten zu Geschlechterfragen geraten. Die Frage, ob und ab wann Jugendlichen ermöglicht werden soll, ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst zu wählen und ggf. durch Hormongaben zu beeinflussen, wird kontrovers und heftig diskutiert. Nicht zuletzt gesetzliche Änderungen haben dazu geführt, dass binäre Zuordnungen von Geschlecht auch im Feld der frühen Kindheit zunehmend in Frage gestellt werden. An dieser Stelle soll am Beispiel von zwei Kinderbüchern diskutiert werden, wie Geschlecht und geschlechtsbezogene Zuordnungen im Kontext dieser Themen dargestellt und inszeniert werden.

In Jill ist anders stellt uns die Autorin Ursula Rosen (2018) ein intersexuelles Kind im Kindergarten vor. Auf die Frage eines anderen Kindes, ob Jill ein Junge oder ein Mädchen sei, antwortet die Mama: „Das kann ich dir nicht sagen. Wir wissen es noch nicht. Vielleicht ist Jill ja auch beides“. Damit löst sie nicht nur Erstaunen aus, sondern auch intensive Bemühungen der Kinder, Genaueres über die Geschlechterunterschiede herauszufinden. Zunächst werden die körperlichen Merkmale diskutiert, später dann geschlechtstypische Spielvorlieben in den Blick genommen. Auch dies ergibt keine Klarheit, denn Jill mag Kleidung in allen Farben, kuschelt nachts mit ihrer Lieblingspuppe und spielt gern mit ihrer Eisenbahn… Schließlich einigen sich alle darauf, dass Jill ein „Hermaphrodit“ und damit „irgendwie anders“ ist – wobei ja alle Kinder „irgendwie anders“ sind (ebd. 39) und gerade diese Vielfalt schön sei.

Auch bei Jazz, die von Herthel & Jennings (2014) vorgestellt wird, geht es um das Anderssein. Hier wird ein Kind als biologisch eindeutiger Junge geboren, weiß aber schon früh, dass es „ein weibliches Gehirn in einem männlichen Körper hat“, und ist sich sicher, eigentlich ein Mädchen zu sein. Das zeigt sich in Kleidungs- und Spielvorlieben: Es liebt rosa, Prinzessinnenkleider und Meerjungfrauen, und spielt immer mit den Mädchen. Nicht nur die Eltern, sondern auch die anderen Kinder reagieren irritiert. Ein Gespräch beim Psychologen führt schließlich zur Wende: Das Kind bekommt den neuen, geschlechtsneutralen Namen Jazz und darf zukünftig als Mädchen herumlaufen. Am Ende ist sie stolz darauf „anders“ zu sein, auch wenn das manchmal im Leben zu Schwierigkeiten führt.

Im Buch über das intersexuelle Kind ist eine biologische Zuordnung als Junge oder Mädchen nicht möglich, aber auch geschlechtsstereotype Zuordnungen werden durchweg in Frage gestellt. Im Buch über das transidente Kind ist es gerade sein Interesse an geschlechtstypischen Aktivitäten, das als ein Beleg dafür angeführt wird, dass der biologische Junge „eigentlich“ ein Mädchen ist.

Aktuelle Handreichungen für „geschlechtliche Vielfalt“ für Kitas greifen die geschilderten Phänomene auf (Nordt/Kugler 2018). Mit dem Terminus „geschlechtsvariante Kinder“ werden darin gleichermaßen Kinder bezeichnet, die geschlechtsuntypisches Verhalten zeigen (was auf die meisten Kinder zuweilen zutrifft), als auch transidente Kinder, deren Geschlechtsidentität nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt (was eher selten vorkommt). Pädagogische Fachkräfte werden damit vor komplexe Herausforderungen gestellt. Wie soll geschlechtsuntypisches Verhalten von Kindern verstanden und begleitet werden? Soll einem Jungen, der lange Haare hat oder gern Kleider trägt, versichert werden, dass dies sein Männlich-Sein nicht in Frage stellt, auch wenn andere Kinder dumme Sprüche machen? Oder soll seine Neigung als Hinweis auf eine mögliche Transidentität verstanden werden? Dies kann sowohl pädagogische Fachkräfte und Eltern als auch die Kinder selbst in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität verunsichern.

Aus Genderperspektive wird deutlich, dass eine Interpretation geschlechtsuntypischer Tendenzen als Hinweis auf eine Transidentität von Kindern durchaus mit einer Renaissance von biologistischen Vorstellungen und von stereotypen Bildern von Geschlecht einhergehen kann – auch wenn dies im Kontext vermeintlicher Offenheit für Vielfalt geschieht. So gilt die Vorstellung von „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirnen in der aktuellen Gehirnforschung längst als überholt (Eliot 2010) – in „I am Jazz“ erscheint sie als naturgegeben. Der klischeehaften Darstellung von Mädchen- und Jungenverhalten in „I am Jazz“ steht in „Jill ist anders“ die Aussage gegenüber, dass geschlechtstypische Vorlieben oder Verhaltensweisen eben nicht als Beleg für die (biologische) Geschlechtszugehörigkeit gelten können.

Deutlich wird damit nicht nur, dass Intersexualität und Transidentität nicht „in einen Topf geworfen“ werden sollten und der zusammenfassende Terminus „geschlechtsvariante Kinder“ daher problematisch ist. Es zeigt sich darüber hinaus, dass mit einer grundsätzlichen Offenheit für Geschlechtervielfalt sehr unterschiedliche Perspektiven verbunden sein können. Mit einer allgemeinen Wertschätzung von Vielfalt ist damit die Frage nach Zielen und Ausrichtung von Genderpädagogik keineswegs obsolet – die Diskussion darüber muss nach wie vor oder auch immer wieder neu geführt werden (Rohrmann & Wanzeck-Sielert 2018).

Perspektiven für gender- und diversitätsbewusste Pädagogik in Kitas

Abschließend formulierten die Teilnehmenden die folgenden Visionen für die Zukunft gender- und diversitätsbewusster Pädagogik:

Gendersensible Pädagogik sollte sexuelle Vielfalt beinhalten.
  • Das Thema Gender und Diversität sollte stärker in der Ausbildung verankert werden.
  • Wir sollten die Offenheit und den Mut haben, Geschlecht und Diversität in die Bildungsarbeit aufzunehmen und didaktische Methoden dazu entwickeln.
  • Kinder sollen in einer genderneutralen oder gendersensiblen Welt aufwachsen mit Akzeptanz aller Vielfalt.
  • Kinder sollen sich willkommen, wertgeschätzt und ernstgenommen fühlen, immer und von jeder Person, unabhängig von Geschlecht, Glaube, Herkunft und mit Raum zur Reflexion.
  • Wir brauchen Offenheit und Mut gegenüber dem Anderssein – und wo sind die Grenzen?

Die Statements der Teilnehmenden verweisen darauf, dass sie sich von der Genderpädagogik eine Orientierung zur Einordnung der Diskussion über sexuelle Vielfalt wünschen. Bei der Entwicklung von Offenheit gegenüber Anderssein soll zudem auch die Frage nach Grenzen dieser Offenheit diskutiert werden können. Es werden mehrere Vielfaltsdimensionen angesprochen, d.h. das Geschlechterthema wird als mit anderen Kategorien verschränkt betrachtet. Das ist wichtig, um Verallgemeinerungen zu verhindern und die Vielschichtigkeit kindlicher Lebenswelten zu sehen. An dieser Stelle möchten wir aber auch auf Annedore Prengel (2021) verweisen, die darauf aufmerksam macht, dass den Erkenntnispotenzialen einzelner Konzepte blinde Flecken gegenüberstehen können. So kann die Perspektive auf Vielfalt und Diversität dazu führen, dass das Spezifische der Geschlechterverhältnisse aus dem Blick gerät. Die Betrachtung des Zusammenwirkens mehrerer Dimensionen enthebt also nicht von der gezielten Beschäftigung mit einzelnen Kategorien.

Zudem macht die Verwendung der Begriffe „genderneutral“ und „gendersensibel“ als Synonyme deutlich, wie verwirrend die gegenwärtige Diskussion ist. Was Fachkräfte zu Recht wollen ist, Kinder wegen ihres Geschlechts nicht zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Das wird jedoch nicht gelingen, wenn Genderfragen nur noch normativ beantwortet und geschlechtstypische Wahrnehmungen und Einstellungen nicht mehr offen thematisiert werden, weil sie als „schlimm“ bewertet werden. Bereits vor langer Zeit wurde eine in Kindergärten weit verbreitete „Gleichheitsideologie“ (Permien & Frank, 1995) kritisiert, die die Wahrnehmung von vorhandenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern und insbesondere eigenen geschlechtstypischen Verhaltens eher verhindert als ermöglicht. In der aktuellen Renaissance des Begriffs „geschlechtsneutral“ bzw. „genderneutral“ scheint diese Tendenz wieder auf.

Kinder wachsen nicht genderneutral auf, sondern in einem Körper mit Geschlechtsmerkmalen, und es finden immer Zuschreibungen statt. Durch das gestiegene Bewusstsein für Zwischenformen und Uneindeutigkeiten der Geschlechterzuordnungen wird dabei noch deutlicher, wie komplex die Zusammenhänge zwischen biologischen Gegebenheiten, gesellschaftlichen Erwartungen und selbst wahrgenommenem Geschlecht tatsächlich sind. Notwendig ist daher, dass wir bewusst mit dem Thema Geschlecht umgehen, sei es im Hinblick auf die Kinder, Eltern oder Pädagoginnen und Pädagogen. Fragen der Gender- und Diversitätspädagogik müssen zuverlässig in Aus- und Fortbildung aufgegriffen und mit geeigneten Methoden bearbeitet werden. Ebenso braucht es praxisbegleitende Reflexionsräume, in denen Fachkräfte eigene Haltungen reflektieren und neue Perspektiven entwickeln können, ohne dass von vornherein festgelegt ist, was die „richtige“ Einstellung zu Gender ist. Genderpädagogik ist damit also keineswegs „Schnee von gestern“, sondern hoch aktuell.


Fussnoten:

(1) Beitrag für die Tagung „Gender- und diversitätsbewusste Pädagogik in KiTa, Kinder- und Jugendarbeit – Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen“ am 1.10.2021 in Frankfurt. Wir danken Prof. em. Margitta Kunert-Zier dafür, dass wir diesen Beitrag vor Fertigstellung der Tagungsdokumentation vorab veröffentlichen können.

(2) Teile dieses Abschnitts sind aus Schaich (2020) entnommen.

(3) Forschungsprojekt „Geschlechterdifferenzierung in Krippen: eine ethnographische Studie im multikategorialen Kontext“, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Laufzeit 10/2020-7/2022.

(4) Teile dieses Abschnitts sind aus Rohrmann (2021) übernommen.


Literatur

  • Aigner, Josef C. & Rohrmann, Tim (Hrsg.) (2012). Elementar. Männer in der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Opladen: Barbara Budrich.
  • Cremers, Michael, Stützel, Kevin & Klingel, Maria (2020). Umgang mit Heterogenität. Geschlechtsbezogene Zusammenarbeit in Kindertagesstätten. Opladen: Barbara Budrich.
  • Eliot, Lise (2010). Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen. Berlin: Berlin Verlag.
  • Herthel, Jessica & Jennings, Jazz (2014). I am Jazz. New York: Dial Books for Young Readers.
  • Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (2013/2014). Analysen, Erfahrungen und Strategien. Handreichungen für die Praxis. Berlin. Zugriff am 07.11.2018. Verfügbar unter https://mika.koordination-maennerinkitas.de/unsere-themen/praxis-handreichungen.html
  • Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (2014). Das ESF-Modellprogramm ‚MEHR Männer in Kitas’. Analysen, Erfahrungen und Strategien aus der Praxis (Online-Handbuch Kindergartenpädagogik, Hrsg.). Zugriff am 16.02.2015. Verfügbar unter http://www.kindergartenpaedagogik.de/2311.pdf
  • Kubandt, Melanie (2016): Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie. Opladen: Barbara Budrich.
  • Machold, Claudia (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.
  • Nordt, Stephanie & Kugler, Thomas (2018). Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und Geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik (Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und Bildungsinitiative Queerformat, Hrsg.). Berlin. Zugriff am 24.03.2018. Verfügbar unter https://www.queerformat.de/wp-content/uploads/QF-Kita-Handreichung-2018-Druckfassung.pdf
  • Peeters, Jan, Rohrmann, Tim & Emilsen, Kari (2015). Gender balance in ECEC. Why is there so little progress? European Early Childhood Research Journal, 23 (3), 302–314. https://doi.org/10.1080/1350293X.2015.1043805
  • Permien, Hanna & Frank, Kerstin (1995). Schöne Mädchen - starke Jungen? Gleichberechtigung: (k)ein Thema in Tageseinrichtungen für Schulkinder. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
  • Prengel, Annedore (2021). Ethik der Wertschätzung - Ein Beitrag zur diversitäts- und gendersensiblen Pädagogik. Vortrag auf der Tagung „Gender- und diversitätsbewusste Pädagogik in KiTa, Kinder- und Jugendarbeit – Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen“, 1.10.2021, Frankfurt.
  • Rohrmann, Tim (2021). Gender. In Veronika Fischer & Katja Gramelt (Hrsg.), Diversity in der Kindheitspädagogik und Familienbildung (Kindheitspädagogik und Familienbildung, Bd. 2, S. 86–120). Frankfurt: UTB.
  • Rohrmann, Tim & Wanzeck-Sielert, Christa (2018). Mädchen und Jungen in der KiTa. Körper, Gender, Sexualität (2., erweiterte und überarbeitete Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
  • Rosen, Ursula (2015). Jill ist anders. Ein Kinderbuch zur Intersexualität. Lingen: Salmo Verlag.
  • Schaich, Ute (2020): Flexibel oder starr? Forschung zur Konstruktion von Geschlecht und Differenz in der Kita revisited. Frühe Kindheit (3/20), 26-32.
  • Statistisches Bundesamt (2021). Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2021. Wiesbaden.


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