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Kinder (1) im Kontext von häuslicher Gewalt

Inhaltsverzeichnis

  1. Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen
  2. Häusliche Gewalt und Kindeswohl (8)
  3. Häusliche Gewalt und die Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche
  4. Frauenhäuser als vorübergehende Schutz- und Unterstützungsorte
  5. Häusliche Gewalt und die Bedeutung von Kindertagesstätten
  6. Ressourcen stärken und Resilienz durch Partizipation befördern
  7. Fazit und Ausblick
  8. Anmerkungen
  9. Literatur

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Häusliche Gewalt (Domestic Violence) wird als Gewaltstraftat zwischen erwachsenen Personen in einer partnerschaftlichen Beziehung definiert, von der vor allem Frauen durch männliche Partner betroffen sind. So zeigen die aktuellen Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik, auch wenn hierbei lediglich das Hellfeld der Taten in den Blick gerät, dass die Polizei im Jahr 2020 insgesamt 148.031 Opfer von Partnerschaftsgewalt, von denen 80,5 % weiblich waren (119.164 Fälle), registrierte. „Gegenüber 2019 ist die Anzahl der Opfer partnerschaftlicher Gewaltdelikte 2020 um 4,4 % erneut angestiegen (2020: 148.031; 2019: 141.792), was die in den Vorjahren festgestellte Entwicklung bestätigt und die zunehmende Bedeutung des Gewaltphänomens verdeutlicht“ (BKA 2021, S. 5). Für die von Partnerschaftsgewalt betroffenen Frauen und ihre Kinder bedeutet dies, dass sie nicht nur massive Einschränkungen in ihrem Leben, sondern mitunter auch schwerwiegende, vielfältige psychische und physische Schädigungen erfahren müssen. Zudem können mit der Zeugenschaft von Partnerschaftsgewalt auch weitere Gefährdungen für die in diesen Familien aufwachsenden Kinder und Jugendlichen verbunden sein. Deutlich wird hieran, dass die Ursachen der Entstehung der Gewalt in den Blick genommen werden müssen, wenn angemessene Präventions- oder Interventionsangebote für die betroffenen Frauen und ihre Kinder etabliert werden und im Sinne des Kindeswohls gehandelt werden soll.


Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen

Der Begriff Gewalt gewinnt angesichts gesellschaftlicher und sozialer Verwerfungen (soziale Ungleichheit, Anstieg der Kinderarmut, Ungleichheit im Zugang zu Impfstoffen, inhumane Flüchtlingspolitiken etc.) und aufgrund weltweiter kriegerischer Auseinandersetzungen an Bedeutung. Er wird nicht nur in wissenschaftlichen Kontexten und DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. en vielfältig thematisiert, sondern scheint auch allgegenwärtig zu sein, da er alle gesellschaftlichen Bereiche zu durchdringen vermag. Dennoch gilt der Begriff bis heute als vieldeutig, da er von unterschiedlichen Gruppierungen in verschiedenen Kontexten und wissenschaftlichen Disziplinen mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Gewalt zu erfassen gestaltet sich daher nicht einfach und ist schon gar nicht eindeutig, da Interpretationen, emotionale und moralische Aufladungen sowie Bewertungen, die wiederum nicht unabhängig von gesellschaftlichen, historischen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen nachvollzogen werden können, die Definition erschweren. So kann, was heute noch nicht als Gewalt erkannt wird, im Zuge historischer und gesellschaftlicher Transformations¬prozesse und damit verbundener veränderter gesellschaftlicher Normen oder Regeln zukünftig zum nicht mehr tolerablen Sachverhalt werden und in Folge gar als strafrechtlich relevante Tat gelten (2) (vgl. Henschel 2019, S. 16).

Gewalt stellt einen dynamischen Begriff dar, der durch wechselseitige und aufeinander bezogene Bedingungsgefüge, spezifische Kontexte und soziale Interaktionen gekennzeichnet ist, wobei das Prozessurale dieses Geschehens berücksichtigt werden sollte. Zugleich korrespondiert der Gewaltbegriff auch mit Begriffen von Macht, Herrschaft und Aggression (3), wie er sich auch in jeweils konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, sozialen Interaktionen und Kontexten manifestiert. Gewalt kann sich darüber hinaus im engeren Sinn als strafrechtlich relevante Form äußern oder auch als subtilere Handlung verstanden werden. Je nach erweitertem (4) oder eng (5) geführten Gewaltbegriff, je nach theoretischem, disziplinärem und auch intendiertem Zugang zur Gewaltthematik ergeben sich daher unterschiedliche Auseinandersetzungen mit bzw. Erkenntnisse hinsichtlich dieses Begriffs. Darüber hinaus sind damit differente öffentliche Diskurse sowie konkrete und unterschiedliche Präventions- oder Interventionsmaßnahmen verbunden, wenn Gewalt vorausschauend eingedämmt oder gar beseitigt werden soll (vgl. Schubarth 2000, S. 62-65).

Erklärungsansätze zur Gewalt aus einer soziologischen Perspektive suchen die Ursachen ihrer Entstehung eher in den gesellschaftlichen und sozialstrukturellen als in den individuellen Bedingungen. Sie unterscheiden daher zwischen manifester und struktureller Gewalt. Als manifeste Ausprägungen werden dabei unterschiedlichste Formen psychischer (z. B. Erniedrigung, Herabsetzung oder Zwangskontrolle), physischer (z. B. Schlagen, Treten, Würgen) oder sexueller Gewalt (z. B. Vergewaltigung, sex. Missbrauch, sex. Belästigung) verstanden. (6) Der Begriff der Strukturellen Gewalt geht auf Johan Galtung (1975) zurück und meint Formen der Gewalt, die über gesellschaftliche Regeln und Strukturbedingungen hergestellt werden, die nicht unmittelbar erkennbar sind und sich z. B. durch Exklusion und Diskriminierung spezifischer gesellschaftlicher Gruppierungen auszeichnen sowie durch mangelnde gesellschaftliche Teilhabe gekennzeichnet sein können (vgl. Kreft/Mielenz 1996, S. 260). Auch wenn dieses Konzept, da es als vage und in der Forschung als schwer operationalisierbar erachtet wird, mitunter auf Kritik stößt (vgl. Christ 2017, S. 13 f.), ist Strukturelle Gewalt ein hilfreiches Konstrukt in der Betrachtung von Generationen- und Geschlechterverhältnissen. Denn Gewalt als Strukturelement und zugleich als erfahrbare soziale Praxis, die sich in spezifischen Interaktionssituationen und Kontexten sowie in unterschiedlichen Formen Bahn brechen kann, erfordert nicht nur Analysen hinsichtlich individueller gewaltbegünstigender Motive und Befindlichkeiten (7), sondern auch detaillierte Beschreibungen und Erklärungen hinsichtlich dessen, was als unautorisiert gilt (vgl. Knöbl 2017, S. 6 f.), also von der gesellschaftlichen Ordnung und ihrem Gewaltmonopol abweicht (vgl. Christ 2017, S. 10) und durch asymmetrische Macht- und Dominanzverhältnisse geprägt ist.

Bis heute stellen Kategorien wie z. B. Geschlecht sowie Alter Organisations- und Ordnungsprinzipien mit spezifischen gesellschaftlichen Regeln dar. In konkreten sozialen Kontexten, in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, wie auch im Erwerbs- und Privatleben finden sich Hierarchisierungen einerseits in Strukturen, andererseits aber auch in den sozialen Praxen von Männern und Frauen sowie zwischen Erwachsenen und Kindern wieder. Zudem können sie sich durch wechselseitige Beeinflussung verstärken. Diese asymmetrischen Macht- und Dominanzverhältnisse können geprägt sein durch Einstellungen und Haltungen, die dazu beitragen, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder Alters, aufgrund eines spezifischen sozialen oder kulturellen Hintergrunds oder aber aufgrund körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen usw. Abwertungen erfahren, die zudem ungleiche gesellschaftliche und soziale Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Die Folge können Grenzüberschreitungen und -verletzungen sein, die Gewalthandeln zu begünstigen vermögen.

Die Herabsetzung des anderen, wie sie sich z. B. in ihrer Extremausprägung in der Nichtanerkennung der individuellen menschlichen Würde und körperlichen und psychischen Unversehrtheit, oder aber in der Absprache des gleichen Wertes und gleicher Rechte äußern kann, schafft damit, neben asymmetrischen gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen, die Möglichkeit zu manifestem gewalttätigen Verhalten. So werden bis heute durch traditionelle und spezifische gesellschaftliche Überzeugungen und Werthaltungen, die Kindern und Frauen weniger Rechte, Autonomie und Selbstbestimmung zuerkennen, Zugangschancen, gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung verwehrt; Gewalt wird hierdurch begünstigt. Menschen, die Gewalt ausüben, können ihr Gewalthandeln somit „[…] unter Ausnutzung einer gesellschaftlich vorgeprägten relativen Machtposition“ (Hagemann-White 1981, S. 24) legitimieren.

Die Dynamik der Geschlechterverhältnisse, die auch die Entwicklung der individuellen geschlechtlichen Identität der Kinder im Sozialisationsprozess beeinflusst, unterschiedliche soziale Erwartungen an das jeweilige Geschlecht (Geschlechterrollen) sowie damit einhergehende kognitive Vereinfachungen und Pauschalisierungen von Personengruppen (Geschlechtsstereotypen) beinhalten kann, beeinflusst diese Asymmetrien. Sie befördert Geschlechterungleichheit und Hierarchisierungen zwischen Erwachsenen und Kindern und sie kann, aufgrund der differenten Positionszuweisungen, Gewalt gegenüber Frauen, Kindern und Jugendlichen begünstigen.


Häusliche Gewalt und Kindeswohl (8)

Häusliche Gewalt bezeichnet Gewaltstraftaten zwischen Personen, die in einer partnerschaftlichen Beziehung leben, die entweder noch besteht, sich in Auflösung befindet oder bereits aufgelöst ist (unabhängig vom Tatort, auch ohne gemeinsamen Wohnsitz) oder die (mit gemeinsamen Wohnsitz) in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen, soweit es sich nicht um Straftaten ausschließlich zum Nachteil von Kindern handelt (vgl. Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport des Saarlandes 2005). Dieses Gewalthandeln kann sowohl als systemisch-interaktionistisch und kontextabhängiges dynamisches Geschehen als auch als geschlechtsspezifische Form männlicher Lebensbewältigung (vgl. Böhnisch/Winter 1993; Gause/Schlottau 2002), die mit der Abwertung des und der Herrschaft über das andere Geschlecht einhergehen kann, beschrieben werden. Häusliche Gewalt wird vor allem durch ein systematisches Dominanz- und Kontrollverhalten begünstigt und selten als spontane Einzeltat verübt. Sie entsteht in mehr oder minder stabilen sozialen (Liebes-)Beziehungen, die durch ein Machtungleichgewicht gekennzeichnet sind und tritt in Zyklen auf (vgl. Walker 1979), weshalb Wiederholungsgefahr besteht (vgl. Henschel 2019, S. 27 f.).

Häusliche Gewalt (Domestic Violence) wird gemäß dieser Definition also als Partnerschaftsgewalt verstanden, auch wenn sich in der Literatur hierzu weitere Begrifflichkeiten verzeichnen lassen, wie z. B. der Begriff Familiengewalt oder auch Gewalt im sozialen Nahraum. Mitunter werden unter dem Begriff der häuslichen Gewalt auch unterschiedliche Formen der Kindeswohlgefährdung erfasst. Die Autorin erachtet es jedoch aus analytischen Erwägungen und aufgrund von unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Kinderschutzdebatten als hilfreich, häusliche Gewalt nicht von vornherein mit Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung gleichzusetzen. Auch wenn es bei dem Phänomen der häuslichen Gewalt um die gleichberechtigten Ansprüche von Gerechtigkeit und Hilfe für Frauen und ihre Kinder geht, auf die der Staat und das Gemeinwesen durch abgestimmtes, zeitnahes Vorgehen, durch Rechtsmittel und Sanktionen, aber auch durch Stärkung und Bereitstellung von Ressourcen für die von Gewalt Betroffenen reagieren muss, um den Opfern Schutz und Sicherheit zu gewährleisten (vgl. Stövesand 2007), so ermöglicht ein differenzierter Blick auf das Phänomen hinsichtlich Präventions- und Interventionsangeboten auch unterschiedliche Zugänge.

Die Istanbul-Konvention (2011) (9) adressiert nicht nur Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind, sondern stärkt auch den Schutz von Kindern vor allen Formen von Gewalt, indem sie anerkennt, dass Kinder immer Opfer häuslicher Gewalt sind, auch als Zeuginnen und Zeugen von Gewalt in der Familie. Der Artikel 26 (Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind) erfordert daher die Bereitstellung von Schutz- und Hilfsdiensten für Opfer unter der Beachtung der Rechte und Bedürfnisse von Kindern. Auch der Artikel 13 (Bewusstseinsbildung) weist darauf hin, dass Programme und Kampagnen zur Bewusstseinsbildung gegen Formen von Gewalt sowie ihre Auswirkungen auf Kinder notwendig sind, um die Gewalt zu verhindern. Artikel 23 (Schutzunterkünfte) erfordert die Einrichtung von geeigneten, leicht zugänglichen Schutzunterkünften in ausreichender Zahl, um Frauen und ihren Kindern eine sichere Unterkunft zur Verfügung zu stellen. In Bezug auf Sorge- und Umgangsrechtsregelungen und somit auch hinsichtlich des Kindeswohls erweist sich Artikel 31 (Sorgerecht, Besuchsrecht, Sicherheit) als hilfreich und unterstützend, da er dazu auffordert, gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht zu berücksichtigen. Als besonders bedeutsam erweist sich der Artikel 56 (Schutzmaßnahmen), durch den besondere Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes bei Zeugenschaft von häuslicher Gewalt zu etablieren sind. Dies ist deshalb wichtig, weil bis heute nur unzureichend berücksichtigt wird, dass allein die Zeugenschaft von Partnerschaftsgewalt bereits als Kindeswohlgefährdung zu verstehen ist.



Häusliche Gewalt und die Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche

Das Aufwachsen unter den Bedingungen von Partnerschaftsgewalt kann für Kinder (und Jugendliche) mit zahlreichen Entwicklungsrisiken verbunden sein. Darüber hinaus können die in diesem Kontext mitunter zusätzlich erfahrbaren unmittelbaren Gewalterfahrungen, wie sie sich in unterschiedlichen Ausprägungen von Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung zeigen können, die Leiden der Kinder und Jugendlichen potenzieren. Die Gewalterfahrungen können auf die weiteren Sozialisationsverläufe dahingehend Einfluss nehmen, dass Identitätsentwicklungs- und Persönlichkeitsbildungsprozesse negativ und nachhaltig beeinflusst werden. So kann es u. a. zu Verhaltensauffälligkeiten kommen, wie beispielsweise starke Unruhe, Aggressivität, Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, überhöhte Ängstlichkeit, sozialer Rückzug, oder es kommt zu Überangepasstheit und zu körperlichen und kognitiven Entwicklungsverzögerungen. Auch mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Lernbereitschaft bis hin zu Schulabsentismus und Schulversagen lassen sich beobachten. Zudem können körperliche Beeinträchtigungen und posttraumatische Ausprägungen bei Kindern und Jugendlichen beobachtet werden und es lassen sich mangelnde Bindungstoleranz und eingeschränkte Bindungsfähigkeit bei denjenigen ermitteln, die in ihrer Familie mit Partnerschaftsgewalt konfrontiert sind. Nicht selten korrespondieren diese Auswirkungen mit elterlichen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit (vgl. Kindler et al. 2004) und je nach Häufigkeit und Schweregrad von Partnerschaftsgewalt wächst auch die Wahrscheinlichkeit von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung. Je nach Alter, Geschlecht und persönlichen Ressourcen der Kinder und Jugendlichen, aber auch abhängig von der Anzahl, Intensivität, Dauer und den Umständen der Gewalt, gelingt die Gewaltverarbeitung mehr oder minder gut. In der Regel bedeutet es jedoch, dass sich Störungen in der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen verzeichnen lassen (vgl. Enzmann/Wetzels 2001, S. 246 ff.; Köckeritz 2002, S. 5-25; Strasser 2001; Kindler 2013, S. 27-47).

Das kindliche Miterleben von Partnerschaftsgewalt innerhalb der Familie kann für die Betroffenen bedeuten, dass sie sich an dem Ort, an dem sie sich eigentlich beschützt und sicher fühlen sollten, mit einer Atmosphäre von Wut und Hass bzw. Angst und Verzweiflung konfrontiert sind. Sie fühlen sich daher oft hilflos, traurig, ohnmächtig oder sogar schuldig, da sie der Gewalt nicht Einhalt gebieten können oder sie verstehen sich gar selbst als Auslöser für die Gewalt. Diese direkten oder indirekten Gewalterfahrungen können für die Kinder und Jugendlichen bedeuten, sich in ihrer Not und Verzweiflung nicht an die eigenen Eltern wenden zu können, da diese die Auslöser ihrer Angst- und Ohnmachtsgefühle sind. So fühlen sie sich auf sich gestellt und mit ihren verwirrenden Gefühlen allein gelassen. Der Abwertung der eigenen Mutter durch den Vater oder Partner und den mittelbar bzw. unmittelbar erlebten körperlichen, seelischen oder sexuellen Misshandlungen sehen sie sich schutzlos ausgeliefert und die Angst um die Mutter, die Geschwister und um sich selbst bestimmen mitunter ihren Alltag (vgl. Landespräventionsrat Niedersachsen 2006; Henschel 2019, S. 29-32).

Neben den hier beschriebenen Folgen und möglichen Entwicklungsbeeinträchtigungen sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Kinder und Jugendliche auch über innere Schutzfaktoren und individuelle Ressourcen verfügen, die es zu stärken gilt. ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese.  (psychische Widerstandskraft) lässt sich durch äußere Schutzfaktoren unterstützen, wie die Studie der Autorin (Henschel 2019) deutlich macht. Die Entwicklung von Copingstrategien im Umgang mit Stress und Gewalt kann bei Kindern und Jugendlichen durch einen ressourcenorientieren Zugang unterstützt werden, auch wenn dies den Staat und die Institutionen des Sozialsystems nicht von der Verantwortung hinsichtlich der Beseitigung von Gewalt innerhalb der Familie und in Partnerschaften entbindet.



Frauenhäuser als vorübergehende Schutz- und Unterstützungsorte für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder

Kinder und Jugendliche, die mit ihren Müttern in Frauenhäuser fliehen, um dort Schutz und Unterstützung zu erhalten, entkommen häufig erstmalig der familiären Isolation und Gewalt. Sie haben dort die Möglichkeit über ihre Erlebnisse zu berichten, sich mit den (Gewalt-)Erfahrungen innerhalb der Familie sowie mit ihrer Beziehung zur Mutter, zum Gewalttäter und zu ihren Geschwistern in einer anderen Sozialisationsinstanz als der Herkunftsfamilie und unter geschützten Bedingungen auseinandersetzen. Sie können hier andere Kinder und Jugendliche kennenlernen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten, was als psychische Entlastung erlebt werden kann. Zugleich erfahren sie, dass ihre mit den häuslichen Gewalterfahrungen verbundenen Probleme ernst genommen werden. Sie lernen über ihre mitunter traumatischen Erfahrungen zu sprechen und erleben, dass sie in der neuen Umgebung keine Angst mehr zu haben brauchen und zur Ruhe kommen können. Zudem kann ihnen der Frauenhausaufenthalt auch zu korrigierenden Erfahrungen verhelfen, indem sie beginnen, sich mit den individuellen Gewalterfahrungen auseinanderzusetzen und die Stressoren zu benennen, unter denen sie bisher gelitten haben. Dadurch können sie lernen aus ihrer Isolation auszubrechen und im Schutz des Hauses durch Unterstützungsangebote Ohnmacht und Ängste abzubauen. Die Flucht in ein Frauenhaus kann daher als Ort der Entlastung und des Schutzes angesehen werden und dazu beitragen, dass sich die Mädchen und Jungen beginnen zu erholen, ihre Ängste zu reduzieren und sich durch das neue Umfeld sicherer fühlen (vgl. Henschel 2019, S. 57 ff.).


Häusliche Gewalt und die Bedeutung von Kindertagesstätten

Da sich die Gewalt in der Privatheit und somit vor allem innerhalb des alltäglichen familiären Lebens und in den eigenen vier Wänden ereignet, bleibt sie in der Regel vor der Öffentlichkeit verborgen. Als erste sekundäre Sozialisationsinstanzen kommen daher Krippen und Kindertagesstätten besondere Bedeutung hinsichtlich des Erkennens von häuslicher Gewalt zu. So stellen die Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung doch die ersten Institutionen außerhalb der Familie dar, in denen die Gewalt innerhalb der Partnerschaft oder Familie erkannt werden könnte. Die Aufklärung über die Thematik Partnerschaftsgewalt sowie die damit verbundenen Folgen und Risiken für die Entwicklung von Mädchen und Jungen, die in diesem Kontext aufwachsen müssen, sollte daher im Sinne des verbesserten Kinderschutzes ebenso Eingang in die Aus- und Fortbildungen von Fachkräften finden, wie dies bereits vielerorts für die Thematik Kindeswohlgefährdung/Kinderschutz in Bezug auf unterschiedliche Formen und Ausprägungen der Kindesmisshandlung gilt. Bis heute wird diese Thematik jedoch nur unzureichend innerhalb der Aus- und Fortbildung von sozialpädagogischen Fachkräften berücksichtigt und in Kinderschutzkonzepten verankert, weshalb sich viele Fachkräfte im Umgang mit der Thematik Partnerschaftsgewalt und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder überfordert fühlen.
Die Regionale Transferstelle NordWest des nifbe hat sich deshalb bereits seit dem Jahr 2021 intensiver mit der Problematik beschäftigt und bietet seitdem, auch in Kooperation mit der Ostfriesischen Landschaft – Bildungsregion Ostfriesland, Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte in Kindertagesstätten und an Schulen zu dieser Thematik an. Hiermit ist ein wichtiger Schritt hinsichtlich von Präventions- und Interventionsmöglichkeiten im Bereich von häuslicher Gewalt getan, da erst durch verbesserte Vernetzungs- und Kooperationsbeziehungen zwischen Frauenhäusern, Kindertagesstätten und Schulen ein effektiver Kinderschutz erreicht werden kann. Es ist daher auch zu begrüßen, dass sich die beiden genannten Institutionen als Kooperationspartner im Rahmen des zweijährigen und im April gestarteten und u. a. von der Heidehof Stiftung finanzierten Projektes „Kinder(leben) in Familien mit Partnerschaftsgewalt“ beteiligen. (10)



Ressourcen stärken und Resilienz durch Partizipation befördern

Resilienz bzw. die psychische Widerstandskraft, die Kinder und Jugendliche auch im Kontext von häuslicher Gewalt zeigen können, „[…] wird heute als ein multidimensionales, kontextabhängiges und prozessorientiertes Phänomen betrachtet, das auf einer Vielzahl interagierender Faktoren beruht und somit nur im Sinne eines multikausalen Entwicklungsmodells zu begreifen ist“ (Wustmann 2007, S. 131). Sie stellt einen lebenslangen Lernprozess dar, in dem Anpassungsleistungen an schwierige, belastende Lebensumstände erbracht werden, die positive soziale Interaktionen und psychisches Wohlbefinden ermöglichen (vgl. ebd., S. 122 ff.) und bezeichnet die Fähigkeit einer Person, mit belastenden Lebensumständen und negativem Stresserleben erfolgreich umzugehen (vgl. ebd.). Kindern und Jugendlichen kann es im Sinne von Resilienz gelingen, sich an die neue und veränderte Situation anzupassen, wenn ihnen ein Ausgleich zu den familialen Gewalterfahrungen durch Spiel, eine anregende Lernumgebung, Gemeinschaftserfahrungen und vor allem durch wertschätzende und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen (z. B. Fachkräften in Kitas, Schule, Frauenhäusern) ermöglicht wird (äußere Schutzfaktoren). So kann das persönliche Schicksal vorübergehend ausgeblendet und durch die Gewährung von Schutz, z. B. im Rahmen eines vorübergehenden Frauenhausaufenthaltes, das Gefühl von Sicherheit ermöglicht werden (vgl. Henschel 2019, S. 125 ff.).
Kinder und Jugendliche können sich an einem solchen Schutzort angenommen fühlen, sich als selbstsicher und selbstwirksam erleben, was wiederum zu veränderten Selbstkonzepten führen kann und zur Selbständigkeit beizutragen vermag. So lernen Mädchen und Jungen, sich nicht nur als Opfer der häuslichen Gewalt zu verstehen, sondern sich auch neu zu orientieren, bisherige Einstellungen zu überdenken, andere Werte und Kulturen in Frauenhäusern kennenzulernen und neue Verhaltensweisen zu erproben, die ihnen u. a. auch ermöglichen, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen. Resilienzfaktoren können sich aus persönlichen Eigenschaften speisen (innere Schutzfaktoren), die individuell unterstützt und gefördert werden können, weshalb die Kategorie Resilienz im Zusammenhang mit einem Frauenhausaufenthalt, aber auch in Kitas sowie in der Schule durch die pädagogische Arbeit bedeutsam wird.

Deutlich wird damit, dass die besonderen Herausforderungen, vor denen Kinder und Jugendliche stehen, die in ihren Familien Partnerschaftsgewalt als Zeug*innen oder aber zusätzlich in Form von Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung erleben müssen, den Sozialisationsverlauf und die Identitätsausbildung erschweren können. Um diese besonderen Belastungserfahrungen produktiv verarbeiten zu können, benötigen sie besondere Unterstützung und Anregungen durch ihre Umwelt, damit ihre Resilienzbildung durch äußere Schutzfaktoren unterstützt wird. Frauenhäuser als vorübergehende Sozialisationsinstanz können hier eine hilfreiche Aufgabe übernehmen, wenn sie sich ihrer Verantwortung als vorübergehende Sozialisationsinstanz bewusst sind und die Mittel und Möglichkeiten haben, dieser Aufgabe gerecht zu werden (vgl. SafeShelter 2021). Aber auch andere pädagogische Institutionen wie z. B. die Kitas könnten hier einen wichtigen Beitrag zur Gewaltprävention und zur Verarbeitung von Gewalterfahrungen innerhalb der Familie leisten, wenn die Fachkräfte um die Gewaltdynamiken von Partnerschaftsgewalt und ihre Auswirkungen auf Kinder wissen.

In diesem Zusammenhang nehmen auch Partizipationserfahrungen eine bedeutsame Rolle ein, denn gerade Kinder (und Jugendliche), die Gewalt in Partnerschaften (mit)erleben und dabei vor allem das Gefühl der Angst und Ohnmacht erfahren müssen, benötigen Räume, in denen sie Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können, die das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und in sich selbst fördern und stärken. Deshalb muss es in der pädagogischen Arbeit auch darum gehen, Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten zur Mitgestaltung zu ermöglichen, ihnen Entscheidungsmacht bezüglich ihrer Lebens- und Erfahrungsräume zu geben, um zu lernen, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Hierfür müssen Kinder und Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt verstanden werden. Auf reine Machtausübung im Generationen- und Geschlechterverhältnis sollte verzichtet werden, wenn Kinder und Jugendliche in ihren Problemlösungskompetenzen gestärkt und angemessen unterstützt werden sollen. Dies schließt auch ein, dass sie das Recht erhalten, das, was sie beeinträchtigt, was sie an der Umsetzung ihrer Interessen hindert bzw. sie in ihrer Entwicklung einschränkt, zur Sprache bringen dürfen. „Wenn Kinder in Frauenhäusern (und sei es auch nur für kurze Zeit) erfahren, dass ihre Interessen wichtig sind und dass sie ein Recht darauf haben, sich zu beschweren (auch über Erwachsene), erleben sie Selbstwirksamkeit und erweitern so ihre Handlungsmöglichkeiten. Sie erfahren einen sicheren Raum, in dem sie als Personen Rechte haben und diese auch einfordern und umsetzen können“ (Knauer 2021, S. 16 f.).

Durch die Möglichkeit zur Mitbestimmung, zur Teilhabe und Entscheidungsmacht werden Selbstbestimmungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Kinder und Jugendliche können hierdurch lernen, Herausforderungen zu bewältigen, sich in Kooperation und Konfliktbewältigung einzuüben, AmbiguitätAmbiguität|||||Wird auch als  Mehrdeutigkeit oder Doppeldeutigkeit verwendet, z.B. wenn ein  Bild oder Satz auf verschiedene Arten und Weisen verstanden werden kann. Dazu gehören unter anderem auch Anspielungen.stoleranz auszubilden und sich als zugehörig und widerstandsfähig zu erleben. Diese Sozialisationserfahrungen können die Identitätsentwicklung begünstigen und im Sinne einer produktiven Realitätsverarbeitung (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015) wirksam werden, oder, wie es Herriger 2022 in Bezug auf den Prozess des Empowerments beschreibt: „Dort, wo die Adressatinnen und Adressaten die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Autonomie und Gestaltungskraft machen können, erweitern sich ihre psychischen Kräfte – sie stärken ihre personalen Ressourcen, sie schöpfen Selbstwert und gewinnen ein neues Vertrauen in die eigenen Bewältigungsfähigkeiten“.



Fazit und Ausblick

Die Istanbul-Konvention stärkt den Schutz von Frauen und Kindern vor allen Formen von Gewalt, indem sie anerkennt, dass Kinder immer Opfer häuslicher Gewalt sind, auch als Zeug*innen . Der Artikel 26 (Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind) erfordert daher die Bereitstellung von Schutz- und Hilfsdiensten für Opfer unter der Beachtung der Rechte und Bedürfnisse von Kindern. Die Beobachtung von Partnerschaftsgewalt durch Kinder und Jugendliche, so wurde deutlich, stellt bereits eine Kindeswohlgefährdung dar, die es einzudämmen bzw. präventiv abzustellen sowie durch angemessene Interventionsmaßnahmen zu verhindern gilt. Sollen sie in der Verarbeitung ihrer Gewalterfahrungen unterstützt werden, bedarf es daher auch interprofessioneller und interinstitutioneller Kooperationsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Akteuren in der Antigewaltarbeit (z. B. Frauenhäuser, Kitas, Schulen, Jugendhilfe). Hierfür benötigen die Professionellen neben zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen Kenntnisse über hierarchische, gewaltbegünstigende Geschlechter- und Generationenverhältnisse, die Partnerschaftsgewalt und Kindeswohlgefährdung zu verursachen vermögen (vgl. Henschel in AWO 2022, S. 32 ff.).

Wenn die intergenerationelle Weitergabe von Gewalt verhindert werden soll, bedürfen Kinder und Jugendliche angemessener Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Gewalterfahrungen, wobei die Rechte und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu achten sind. Im Sinne der Resilienzstärkung bedeutet dies, neben vertrauens- und respektvollen sowie wertschätzenden und verlässlichen Beziehungsangeboten auch Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Partizipation zu ermöglichen. Zugleich darf jedoch das Konzept der Resilienzstärkung nicht dazu missbraucht werden, die Verantwortung für die Bewältigung von Gewalterfahrungen im Sinne unkritischer Anpassungsleistungen durch Kinder und Jugendliche erbringen zu lassen bzw. hierdurch Optimierungsstrategien hinsichtlich der Ausbildung von Stressresistenz das Wort zu reden. Neben der individuellen Stärkung von Ressourcen muss es stattdessen auch darum gehen, gesellschaftlich zu verantwortende Geschlechter- und Generationenverhältnisse nachhaltig strukturell dahingehend zu verändern, dass die Gewalt beseitigt werden kann.

Um die Mütter vor weiteren Gewalttaten zu schützen und zugleich die intergenerationelle Weitergabe von Gewalt zu verhindern sowie dabei das Kindeswohl nicht aus dem Blick zu verlieren (vgl. Henschel in AWO 2021, S. 43 ff.), werden also weiterhin vielfältige Anstrengungen und strukturell verankerte Kooperationen benötigt, damit Kinderschutz und der Schutz der von häuslicher Gewalt betroffenen Mütter gleichermaßen Berücksichtigung erfahren.



Anmerkungen

(1) Auch wenn der Schwerpunkt dieses Artikels die Situation der Kinder in den Mittelpunkt stellt, soll dennoch darauf hingewiesen werden, dass die Lebensphase Jugend durch spezifische Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet ist. Zu diesen Entwicklungsaufgaben gehören z. B. die Akzeptanz der körperlichen Veränderungen, die Entwicklung und Festigung der Geschlechtsidentität, die (Weiter-)Entwicklung bzw. Stärkung schulischer Leistungsfähigkeit, die Gestaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen, die Ablösung vom Elternhaus, der Aufbau intimer Paarbeziehungen, die Ausbildung von Konsum- und Medienkompetenz, die Entwicklung eines eigenen Wertesystems, der Aufbau politischer Handlungsfähigkeit sowie die Aufnahme von Studium oder Berufsausbildung. Diese zahlreichen Bewältigungsaufgaben stellen Jugendliche vor vielfältige Herausforderungen in einer Zeit der fragilen Identitätsausbildung. Daher benötigt gerade diese Altersgruppe im Kontext von häuslicher Gewalt besondere Unterstützung (vgl. Henschel in AWO 2021; 2022).

(2) So haben lt. § 1631 Abs. 2 BGB Kinder erst seit dem Jahr 2000 ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Die Gewaltfreiheit bezieht sich dabei nicht nur auf körperliche Züchtigungen, sondern schließt auch psychische Gewalt und Entwürdigung mit ein. Der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe gilt erst seit dem Jahr 1997. Auch das Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz – GewSchG) kann erst seit 2002 als Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Entwicklungen und Bewertungen hinsichtlich des Umgangs mit Gewalt im Geschlechterverhältnis gewertet werden.

(3) Häufig werden Aggression und Gewalt als Synonyme verwendet, was die Diskurse erschweren kann. Gewalt stellt zwar eine Teilmenge von Aggression dar, wird jedoch erst durch die absichtsvolle oder intendierte bzw. bewusst in Kauf genommene Schädigung einer anderen Person zur Gewalt (vgl. Henschel 1993, S. 97 ff.; Schubarth 2000, S. 11 f.).

(4) Erweiterte Gewaltdefinitionen schließen häufig neben den physischen, psychischen, sexualisierten, verbalen, ökonomischen und vandalistischen Gewaltformen auch nicht manifeste Gewaltformen, wie z. B. die strukturelle Gewalt (vgl. Galtung 1975) mit ein. Auch werden hier bei dem Versuch einer Definition bzw. bei der Betrachtung der Ursachen und Erscheinungsformen von Gewalt die von der jeweiligen Gewalt Betroffenen nicht vergessen, denn für sie ergeben sich durch Gewalt nachhaltige Folgen (vgl. Reemtsma 2008, S. 105).

(5) Enge Gewaltdefinitionen beschränken sich i. d. R. auf direkte und zielgerichtete Gewalttaten, die zu physischen Schädigungen führen (vgl. Schubarth 2000, S. 11). Sie können somit weder die subjektiven Leiden der Opfer noch die strukturellen Verursachungszusammenhänge von Gewalt erklären.

(6) Auch das Einsperren und die Isolation (soziale Gewalt) sowie die ökonomische Gewalt stellen im Kontext von Partnerschaftsgewalt bedeutsame Gewaltformen dar.

(7) Diese stünden bei einem eher psychologisch orientierten Erklärungsansatz im Fokus, um gewalttätiges Verhalten erklärbar zu machen.

(8) Der Begriff Kindeswohl ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und im Deutschen Grundgesetz (GG) bislang nicht zu finden. Spezifische Grundrechte, die ausschließlich Kinder und Jugendliche betreffen, sind im Grundgesetz nicht auffindbar, auch wenn Kinder, wie Erwachsene auch, Träger aller Grundrechte sind. Erneut wird von der aktuellen Bundesregierung angestrebt, explizite Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, um die Grundrechte der Kinder besser sichtbar zu machen (vgl. Deutscher Bundestag 2021), da bis heute gilt, dass die primäre Verantwortung für die Erziehung des Kindes und dessen Schutz vor Gefahren bei Eltern bzw. Erziehungsberechtigten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) liegt. Kommen Eltern dieser Verantwortung nicht nach, ist der Staat zur Intervention verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG).

(9) Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, die sogenannte Istanbul-Konvention (2011), wurde 2018 von der Bundesregierung ratifiziertratifiziert|||||Die Ratifikation, auch Ratifizierung ist eine verbindliche Erklärung des Abschlusses eines Vertrages durch  Vertragsparteien. und gilt seitdem als Vorlage für entsprechende Gesetzesanpassungen bzw. gesetzliche Verbesserungen zum Schutz von Frauen und ihren Kindern vor Gewalt.

(10) Im Rahmen des von der Autorin geleiteten Forschungs- und Entwicklungsprojektes, das bis zum Frühjahr 2024 abgeschlossen sein soll, werden Fortbildungsmodule entwickelt und Fortbildungen durchgeführt (z. B. vom 23.11. bis 25.11.2022 im Europahaus Aurich) sowie evaluiert, die für die Thematik Partnerschaftsgewalt und Kindeswohlgefährdung sensibilisieren. Durch die partizipative Unterstützung eines Expert*innen-Gremiums wird die Entwicklung der Fortbildungsinhalte und -methoden kritisch begleitet, um Vernetzung und Kooperationen zwischen den Fachkräften aus Kitas, Schulen, der Jugendhilfe und den Frauenhäusern von Beginn an zu ermöglichen und somit Kindeswohl und Kinderschutz im Kontext von Partnerschaftsgewalt zu unterstützen. Ziel ist es u. a. für die Belange der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu sensibilisieren sowie die Unterstützung der Resilienzbildung durch ressourcenorientierte pädagogische Maßnahmen zu befördern (vgl. www.isjuf.de).

(11) Dies wird bis heute nur unzureichend bei Sorge- und Umgangsrechtsregelungen von Seiten der Familiengerichte und auch Jugendämter anerkannt. Gewaltbetroffenen Müttern und ihren Kindern wird hierdurch nicht nur unzureichender Schutz zuteil, sondern insbesondere der Wunsch der Kinder hinsichtlich des väterlichen Umgangs wird selten ausreichend bei den Entscheidungen berücksichtigt (vgl. KFN 2021; Meysen 2021).



Literatur

  • AWO Bundesverband e.V. (2022): Rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit für Jugendliche/junge Frauen mit häuslicher Gewalterfahrung. Ansätze zur Ausgestaltung eines inklusiven Hilfesystems. Verfügbar unter: https://awo.org/rechtskreisuebergreifende-zusammenarbeit-bei-haeuslicher-gewalt [28.02.2022].
  • AWO Bundesverband e.V. (2021): Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung. Dokumentation des Workshops 2.-3. November 2020. Verfügbar unter: https://www.awo.org/sites/default/files/2021-02/Dokumentation_Jugendliche-u-junge-Frauen-in-Frauenhaus-u-Beratung_0_0_0_0_0.pdf [01.02.2022].
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  • Herriger, Norbert (2022): Empowerment. In: socialnet Lexikon. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/Empowerment [27.02.2022].
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  • Knöbl, Wolfgang (2017): Gewalt erklären? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67 (4), S. 4-8.
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  • Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport/Koordinationsstelle gegen häusliche Gewalt beim Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes (2005): Handlungsrichtlinien für die polizeiliche Arbeit in Fällen häuslicher Gewalt.
  • Reemtsma, Jan Philipp (2008): Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition.
  • SafeShelter (2021): Heranwachsen in Sicherheit. Schutz und Sicherheit von Kindern in Frauenhäusern. Leitfaden für Deutschland und Österreich. Verfügbar unter: www.efjca.eu/safe-shelters [26.05.2022].
  • Schubarth, Wilfried (2000): Gewaltprävention in Schule und Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Ergebnisse, Praxismodelle. Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag.
  • Stövesand, Sabine (2007): Mit Sicherheit Sozialarbeit! Gemeinwesenarbeit als innovatives Konzept zum Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis unter den Bedingungen neoliberaler Gouvernementalität. Hamburg: LIT.
  • Strasser, Philomena (2001): Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Innsbruck: Studien Verlag.
  • Walker, Lenore E. (1979): The Battered Woman. New York: Harper and Row.
  • Wustmann, Corina (2007): Resilienz. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Bildungsforschung. Auf den Anfang kommt es an. Perspektiven für eine Neuorientierung frühkindlicher Bildung (Bd. 16). Bonn und Berlin: BMBF, S. 119-189.
  • Gesetzestexte:
  • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Ausfertigungsdatum 18.08.1896, Neugefasst durch Bek. v. 2.1.2002 I 42, 2909/2003, 738/zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 20.7.2017 I 2787, §1631 Abs. 2 BGB.
  • Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz – GewSchG): Ausfertigungsdatum 11.12.2011/Geändert durch Art. 4 G v. 1.3.2017 I 386.
  • Istanbul-Konvention (2011): Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.


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