Selber denken macht schlau

Philosophieren mit Kindern als pädagogische Grundhaltung

Inhaltsverzeichnis

  1. Mit dem Hebammen-Prinzip zur Sinnfrage
  2. Anlässe für nachdenkliche Gespräche
  3. Dem Streit auf der Spur
  4. Werte(n) lernen durch Philosophieren

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Werte(n) lernen durch Philosophieren – mit Kindern „Philosophisches“ in der Kita entdecken

Wie können Kinder in der Kita Werte erkennen und entsprechend handeln? Was ist überhaupt ein „Wert“ oder gar ein „Grundwert“? Das Philosophieren weist Wege, wie Kinder durch eigenes Nachdenken etwa über „Gut“ und „Böse“, über „Gerechtigkeit“ oder „Regeln“ werteorientiertes Handeln als Bestandteil eines gelingenden Lebens begreifen. Damit erfährt das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung jene Unterstützung, die es braucht, damit kindliche Bildungsprozesse als Persönlichkeitsbildung verstanden und verständigungs- und werteorientiertes Lernen ermöglicht werden.

Zugleich lernen Kinder mit jenen Verunsicherungen umzugehen, die sich aus dem Widerspruch zwischen Wertevermittlung und tatsachlichem Verhalten vieler Erwachsener ergeben.

Bevor Pädagoginnen und Pädagogen mit Kindern über Werte philosophieren, empfiehlt sich eine Art Selbstprüfung: Was verstehe ich unter „Werten“, wie sieht meine persönliche Werteskala aus, welche Werte erscheinen mir unverzichtbar, welche verhandelbar? Nur wer selber noch Fragen an sich und die Welt hat, eignet sich für philosophische Gespräche.

Philosophieren mit Kindern verlangt, sich selbst zu erkennen, indem ich meine Grundüberzeugungen davon benenne, was eigentlich „gut“ und was „böse“ ist. Philosophieren mit Kindern setzt voraus, sich selbst zu prüfen, zum Beispiel, was ich weiß oder nicht weiß. Wenn diese „Selbstprüfung“ im Team des Kindergartens geschieht, kann dabei eine lehrreiche, interne Fortbildung entstehen, die hilft, eine gemeinsame Grundlage für einen nachdenklich-philosophischen Umgang mit den anvertrauten Kindern zu finden.

Als Einstieg für eine Teamfortbildung über „Werte“ dient ein „Blitzlicht“: Woran denke ich, was geht mir durch den Kopf, wenn ich den Begriff „Werte“ höre? Blitzlichter fordern assoziatives Denken heraus, es geschieht spontan und ohne langes Überlegen. Die Gedankenassoziationen der Teilnehmer/innen werden auf Kärtchen notiert und ausgelegt. Die Notate werden in passende Gruppen sortiert. Auf diese Weise entsteht ein erstes Gedankenbild der Gruppe – durch eigenes Tun und nicht durch Vermittlung von wem auch immer.

Eine etwas eingeschränkte Form des Blitzlichtes bietet das Akronym. Das Wort wird nicht waagerecht, sondern senkrecht an eine Tafel geschrieben:

W
E
R
T

Zu jedem Buchstaben notieren die Teilnehmer/innen einen Begriff, der für sie in einem Zusammenhang zu ihrem Verständnis von „Wert“ steht. Schließlich schreiben die Teilnehmer/innen Wörter mit dem Baustein „wert“ auf. So entsteht eine Sammlung eigener Gedankensplitter, die den inhaltlichen Einstieg in ein schwieriges Thema ermöglicht und zugleich verdeutlicht, dass sich die Unterschiedlichkeit der Menschen auch im Umgang mit der „Wertefrage“ widerspiegelt.

Werte geben Orientierung im Leben, helfen bei schwierigen Entscheidungen. Aber welches sind diese gemeinsamen Werte, nach denen eine Gesellschaft oder eine Gruppe von Menschen ihr Zusammenleben ausrichtet? Hat nicht jede(r) ihren/seinen eigenen, kleinen Werte-Kompass vor Augen? Und hat sich nicht im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Wertigkeit der Werte stets verschoben? Zählen in unserer Gesellschaft primär noch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Frieden und Toleranz oder geraten diese in den Hintergrund zugunsten von Schönheit, Fitness, Ehre und Familie, Statussymbolen („Mein Haus, mein Auto, mein Boot“) oder Egoismus („Unterm Strich zähl „ich!“)?

Kann man angesichts dieser Differenz Kindern Werte beibringen wie Vokabeln oder mathematische Einsichten? Kann man wirklich „Werteerziehung“ betreiben und damit Kulturaneignung durch Gewöhnung verlangen? Die Alternative wäre Kulturaneignung durch Fragen, also eine reflexive Form. Dazu gehörte, Kinder zum Werten zu erziehen. Diesen Weg beschreibt das Philosophieren als Haltung, Methode und Inhalt.

Philosophieren bedeutet, gute Gründe für etwas durch eigenes Nachdenken zu finden, das eigene Vorstellungsleben auf den Begriff zu bringen und Begriffe zu klären versuchen. Nehmen wir als erstes Beispiel den Wert „Gerechtigkeit“. Warum sollte ein Mensch in Afrika, der abends vor Hunger nicht in den Schlaf kommt, sich Gedanken darüber machen, wie die Welt in 50 Jahren aussieht? Seine Motivation, dies zu tun, erhöhte sich, wenn weltweit soziale Gerechtigkeit als Maßstab menschlicher Beziehungen verwirklicht wäre. Gerechtigkeit ist ein weltweit bekanntes, basales Prinzip, das in keiner Gesellschaftsordnung erfunden, wohl aber in vielen noch umgesetzt werden muss.

Wenn „Gerechtigkeit“ als Wert eine allgemeine Zielorientierung darstellt, bedarf es einer Norm als konkrete Handlungsorientierung (Normen als Werte in kleiner Münze) sowie einer Regel (konkrete Umsetzung). Konkret verlangte die Norm „Gleichbehandlung“ (du sollst jede/n gleich behandeln) die dazu gehörige Regel (niemand betritt ohne Erlaubnis den Außenbereich).

Kinder bewegen sich auf dem Wege des Philosophierens zum wachsenden Verständnis der vielfältigen Erscheinungsformen von Gerechtigkeit, wobei austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit in der Lebenswelt des Kindes eine besondere Rolle spielen.

Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget veranschlagte den Übergang von der heteronomen (Autoritäten setzen Regeln) zur autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Phase (Kinder entscheiden zunehmend selbst, was gut und böse ist) auf das Stadium des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule. Tatsächlich beginnt dieses zweite Stadium in der moralischen Entwicklung von Kindern bereits im Kindergarten.

Diese Tatsache erfordert zunehmend nachdenklich-philosophische Gesprächssituationen, in denen Klärungsversuche unternommen werden. Bilderbücher eignen sich dabei in besonderer Weise, diese Prozesse einzuleiten und zu begleiten und die Methode des Philosophierens für beide Seiten (Kinder und Erzieher/innen) gewinnbringend zu nutzen.

In der Regel handelt es sich dabei um solche Kinderbücher, die zum selbstständigen Nachdenken anregen, ohne didaktische Absicht („pädagogischer Zeigefinger“) daher kommen und eine Aufforderung zur Selbsttätigkeit darstellen. Sie sind ungeeignet, wenn sie den Leserinnen und Lesern vorschreiben, was sie zu tun und was sie zu denken haben. Kinderbücher sollen nicht Werte oder Inhalte normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet. vermitteln, keine Werte vorschreiben, sondern zum Werten auffordern. Dies gilt auch für Bücher mit für uns sympathisch erscheinenden Werten!

Erstes Beispiel: Gerechtigkeit
Dünnes Eis: Der Novemberfrost hatte den Teich mit einer dünnen Eishaut überzogen. Der dünne Lulatsch lief Schlittschuh. Der dicke Lulatsch stand am Ufer und schimpfte: „Das ist nicht gerecht, dünner Lulatsch! Du kannst aufs Eis und ich nicht!“ „Gerecht, gerecht!“, rief der dünne Lulatsch. „Du bekommst immer die größte Wurst, dicker Lulatsch. Du solltest von Gerechtigkeit schweigen“ (Im Zwölfminutenwald, S. 25).

Mit der schlichten Frage „Wer von den beiden hat Recht?“ entsteht eine Diskussion über den Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit.

Zweites Beispiel: Ameise und Bemeise
„Gut!“, sagte Ameise, „wir teilen.“ „Aber halbe-halbe!“, sprach Bemeise. „Halbe-halbe? Du hast nichts getan“, rief Ameise. „Was schreist du?“ fragte Bemeise: „Ich habe gesagt, dass du die Schokolade suchen sollst. Ich habe gesagt, dass du sie tragen musst. Ich habe gesagt, dass die Verpackung weg soll. Und ich habe ausgerechnet, dass wir halbe-halbe machen müssen. Mir zittern die Knie vor Anstrengung!“ (Im Zwölfminutenwald, S. 26).

Auch hier führt die einfache Frage „Wer von beiden hat Recht?“ zum Nachdenken, in diesem Falle über Verteilungsgerechtigkeit. In beiden Gesprächsrunden steht nicht die Parteinahme der Kinder für den einen oder anderen Kontrahenten im Mittelpunkt, sondern ihre Gründe, nach denen sie urteilen. Philosophieren ist vornehmlich das Erwägen von Gründen, nicht das Gegeneinanderstellen von Meinungen.

Drittes Beispiel: Gerechtigkeit
Ein Bild zeigt einen Bären mit einem Fisch in der Hand, einen Hund auf Skiern, eine Katze, einen kleinen Matrosen und zwei Schneefiguren sowie zwei Männer mit Pudelmützen, die sich unterhalten. Die Kinder erhalten fünf Bonbons (oder vergleichbare Gegenstande) mit dem Auftrag, diese gerecht an die abgebildeten, acht Personen zu verteilen und ihre Entscheidungen zu begründen.

So entwickeln sich Gespräche, die sowohl Elemente der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit, aber auch emotionale Elemente bei Entscheidungen nach Gerechtigkeitsgrundsätzen berühren (z.B. Sympathie und Antipathie).

Viertes Beispiel: Freundschaft
Die Frage, welche Haltungen und Motive unser Verhältnis zur Natur bestimmen, bewegt auch den DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  um die Inhalte von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ist es „Liebe“ zur Natur, sind es Nützlichkeitserwägungen, konnte es auch so etwas wie „Freundschaft“ sein? Das auszuloten gelingt, wenn versucht wird, das Vorstellungsleben der Kinder zu „Freundschaft“ auf den Begriff zu bringen.

Auf einem Tisch liegen etwa 20 Bildkarten, darunter eine, die einen Baum zeigt. Die Kinder werden gebeten, sich eine Karte mit einer Figur zu nehmen, mit der sie gern befreundet sein wurden (Anmerkung: In der Regel wird stets auch die „Baumkarte“ von einem Kind genommen!). Die Kinder präsentieren ihre Karte der Gruppe und erklären, weshalb sie mit der ausgesuchten Figur befreundet sein mochten. Besonders spannend ist die Präsentation der „Baumkarte“, da diese die Frage herausfordert „Kann man mit einem Baum befreundet sein?“ (Falls kein Kind die „Baumkarte“ greift, kann man diesen Umstand zum Anlass nehmen die Frage zu stellen, ob man nicht mit einem Baum befreundet sein kann.) Erfahrungsgemäß nennen die Kinder für eine Freundschaft mit einem Baum Gründe, die dem eigenen Nutzen zuzuordnen sind. Mit der Frage „Und was hat der Baum von der Freundschaft mit dir?“ lässt sich ein derartiges Phänomen hinterfragen und die Kinder werden angeregt, über das Wesen von Freundschaft nachzudenken. Tatsachlich nennen an dieser Stelle viele Kinder Gründe, weshalb auch der Baum von dieser Freundschaft profitiert.

Als eine Art Dilemma-Geschichte in Bildform wird ein Bild von einem Baum, in dessen Krone sich ein Baumhaus befindet, in die Mitte gelegt. Die Kinder werden gefragt, wer sie lieber sein wurden, der Baum oder das Baumhaus, und warum? Hinzugefügt werden kann die Frage, ob sie in einem Baum, mit dem sie befreundet sind, ein Baumhaus errichten wurden? Mithilfe dieses Dilemmas (Baum leidet vielleicht, in einem Baumhaus spielen Kinder gerne) werden die Kinder angehalten, durch Gebrauch ihres eigenen Verstandes moralische Entscheidungen zu treffen.

Fünftes Beispiel: Gut und Böse
Das Bilderbuch „Steinsuppe“ von Anais Vaugelade eignet sich wie kaum ein zweites, Kinder über das, was „gut und was „böse ist, reflektieren zu lassen. Ein alter Wolf nähert sich dem Dorf der Tiere. Am Haus der Henne klopft er, denn er will sich aufwärmen und eine Steinsuppe kochen. Am Ende entsteht eine schmackhafte Gemüsesuppe, zu der viele Tiere Zutaten beigesteuert haben und die in gemütlicher Runde verzehrt wird. Mittendrin steht der Wolf auf, verabschiedet sich und geht. Die Frage, ob er wiederkomme, lässt er unbeantwortet. Wer dem Vorlesen ein Blitzlicht zum Titelbild des Buches voranstellt – Was denkt ihr, was geht euch durch den Kopf, wenn ihr dieses Bild seht? – erfährt, welche gedanklichen Assoziationen Bilder erzeugen und wie sie unsere Wertungen beeinflussen. Die meisten Kinder stellen negative Verbindungen her, wobei die „Märchen-Sozialisation“ („der böse Wolf“) sicherlich ihren Teil dazu beiträgt. In der Mitte der Geschichte – die Tiere sitzen beim Abendessen und der Wolf teilt die Suppe aus – empfiehlt es sich, die Kinder zu fragen, ob die vom Titelbild geschürten Erwartungen erfüllt worden sind („Habt ihr gedacht, dass der Wolf so ist?“). Als der Wolf die Tafelrunde verlasst, fragt ihn die Ente: „Kommen sie bald wieder?“ Aber der Wolf antwortet nicht. An dieser Stelle sollten die Kinder die Möglichkeit erhalten, begründet über das mögliche Verhalten des Wolfs zu spekulieren: Kommt er wieder oder nicht?

Die Schlussfrage leitet den eigentlichen Diskurs ein: „Ist das in dieser Geschichte ein guter oder ein böser Wolf?“ Erfahrungsgemäß beteiligen sich Kinder lebhaft an dieser Debatte und offenbaren dabei indirekt ihr aktuelles Verständnis von „gut“ und „böse“.

Dabei kommt schon ein Vierjähriger auf die Idee, dass er beides ist, denn zum einen „trickst“ er die anderen Tiere aus, zum anderen verschafft er ihnen einen schönen Abend. Indem wir mit Hilfe einer Geschichte wie „Steinsuppe“ Kinder ihr Vorstellungsleben von „gut“ und „böse“ entwickeln lassen, entsprechen wir einer Forderung des Philosophen Jürgen Habermas, wonach nur diejenigen moralischen Prinzipien als universell gültig anzusehen sind, auf die sich Teilnehmer/innen in einer von Zwang freien, gleichberechtigten Diskussion haben verständigen können (Diskursethik).


LITERATUR
  • Habermas, J. (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main.
  • Vaugelade, A. (2000): Steinsuppe. Frankfurt am Main.
  • Zauleck, F. (2001): Im Zwölfminutenwald. Leipzig.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 03-18, S. 30-35
 


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