Das hochsensible Kind in der KiTa
Kinder mit einem hochsensiblen Wesen unterscheiden sich von anderen Kindern deutlich in der Sinneswahrnehmung. Dr. Elaine Aron (USA) begann 1991 die Grundlagenforschung zu diesem Wesenszug eines Menschen. Sie führte jeweils dreistündige Interviews mit 40 Männern und Frauen aller Altersklassen und sozialer Schichten. Später entwickelte sie einen Fragebogen, bei dem sie über tausend Probanden befragte. Sowohl introvertierte (Mehrzahl) als auch extrovertierte Personen weisen demnach das Wesen der Hochsensibilität auf. Auch das so genannte „schüchterne Kind“, welches leicht übersehen wird, darf in diesem Zusammenhang in das Blickfeld gerückt werden und Fürstaller (2019) spricht von stillen Zeichen des Kummers in der sensiblen Phase „Eingewöhnung“.Hochsensible Kinder (HSK) nehmen ihre Umgebung deutlicher wahr im Vergleich zu anderen Kindern. Dieses Kind ist meistens mitfühlend, klug, intuitiv, kreativ, umsichtig und gewissenhaft. Nicht selten ist es auch überfordert mit einem Übermaß an äußeren Reizen. Ihr Gehirn verarbeitet die Informationen viel gründlicher als dies bei anderen der Fall ist. Die Aktivität im Frontalcortex trägt größtenteils zu einer stärkeren subtilen Verarbeitung und Speicherung von Information ebenso wie zu Reflexion bei. Möglicherweise resultiert daraus auch ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich der eigenen Person und der Umwelt. (Patterson & Newman, 1993). Die Reflexe sind ebenso schneller, das zeigt sich in einer höheren Schmerzempfindlichkeit. Körperlich leiden manche unter einer Allergie, weil ihr Immunsystem reaktionsfähiger ist. Einen weiteren wichtigen Aspekt hat Brackmann (2005) angemerkt: eine Hypersensibilität kann sich auch bei Hochbegabten in der frühen Kindheit bemerkbar machen. Der Grad der Introvertiertheit nimmt bei Hochsensiblen Kindern mit steigendem Intelligenzquotienten zu. Auch die Sinnesreize erfolgen bei Hochbegabten Kindern intensiver und komplexer. Im Vergleich zu anderen Kindern sind diese lärmempfindlicher.
Wie erkenne ich ein hochsensibles Kind in der Kita?
Die Merkmale eines hochsensiblen Kindes können mittels eines Fragebogens ermittelt werden. Wichtig dabei ist jedoch der achtsame Umgang mit der Auswertung. Eine Kategorisierung würde die Einzigartigkeit des Kindes übersehen. Es soll eine erste Einschätzung sein, um damit nachfolgende Handlungsweisen aufzeigen, die dieses Kind braucht, um sich in der Kita wohlzufühlen. Ein wichtiger Schlüsselsatz für das Kind ist: „Das Kind ist gut so wie es ist!“Hochsensibilitätstest für Kinder in der Kita (vgl. Aron 218)
- Neigt das Kind zu besonders starken Empfindungen über die fünf Sinne? Riecht es Düfte schnell und kann sie benennen? Ist die Gruppe zu laut? Braucht es mehr Berührung? Vermeidet es Rangeleien, Raufereien? Will es nur ganz bestimmte Lebensmittel essen?
- Findet das Kind schwer in den Mittagsschlaf?
- Neigt das Kind zu starken Gefühlsausbrüchen und kann es Gefühle anderer wahrnehmen?
- Klagt das Kind über psychosomatische Beschwerden wie Kopfweh, Bauchweh, Übelkeit?
- Verfügt das Kind schon früh über einen ausgereiften Sprachschatz?
- Ist das Kind ein kleiner Philosoph, der sich und Ihnen schon unerwartet früh Fragen nach dem Sinn des Lebens, Leben und Tod oder dem lieben Gott stellt?
- Staunen Sie über eine klare, früh ausgeprägte Ethik und Gerechtigkeitsempfinden des Kindes? Fühlt es sich manchmal ungerecht behandelt?
- Sucht das Kind eher Kontakt zu Älteren?
- Kann es sich im Spiel völlig vergessen und ganz in seiner Welt aufgehen? Bemerken Sie einen Ideenreichtum?
- Spielen Musik und Rhythmus eine frühe Rolle?
- Ist das Kind nach einer Reizüberflutung schwer zu beruhigen?
- Sind Feste eine Überforderung – reagiert es mit Aggression oder stillem Rückzug?
- Reagiert das Kind empfindlich auf jede Art von Veränderung? Sind Übergänge problematisch?
Wie können pädagogische Fachkräfte in der Kita die Bedürfnisse des hochsensiblen Kindes beantworten?
Innere Haltung der Erziehenden
Das wichtigste ist das Annehmen des Kindes. Die innere Haltung der Erzieherin soll von Wertschätzung und Akzeptanz geprägt sein. Schnell dahin gesagte Sätze wie „Sei nicht so ein Sensibelchen“, „Schon wieder ist er so angerührt“ oder „Die ist so überempfindlich“, gilt es zu vermeiden.
Die Authentizität in der Vorbildwirkung unterstützt das Kind im Bindungsaufbau. Das Kind spürt die Gefühle und Stimmungen der Bindungsperson. Echtheit im Erklären der Gefühle vermittelt dem Kind eine Beziehung auf Augenhöhe. Das Kind spürt die Vertuschung und Täuschung der eigenen Stimmungslage, und ist dadurch verunsichert, was sich wiederum in einem auffälligen Verhalten spiegelt.
Eigenfürsorge Kraftquelle Erziehende
Um die Bedürfnisse eines Hochsensiblen Kindes im Kita-Alltag feinfühlig und klar beantworten zu können, ist es elementar wichtig gut für sich selbst zu sorgen. Die Achtsamkeit im Hinblick auf eigene Grenzen und deren Schutz braucht eine gute Eigenwahrnehmung. Hilfreich dafür ist es, „Nein“ sagen zu können, sich vom Leistungsdruck und einem „Ich muss allen gerecht werden“ zu befreien sowie Vertrauen in die eigene Intuition. (Harke, 2017) Pausen und Auszeiten im Tagesablauf ermöglichen eine Distanz zu der herausfordernden Situation. Auch das Eingestehen schwindender Kräfte und das Abgeben an die Kollegin helfen allen Akteuren.
Bedürfniserkennung beim Kind
Die Bedürfnisse der Hochsensiblen Kinder müssen von den Erziehenden ernst genommen werden. Das Kind übertreibt nicht, es macht nichts absichtlich schwer und es stellt sich nicht an. Diese Kinder brauchen länger bei manchen Tätigkeiten, Entscheidungen fallen ihnen schwerer und dauern somit länger. Sie denken differenzierter, gewissenhafter und detaillierter als andere Kinder. Ihr Reaktionsfähigkeit ist dabei manchmal verlangsamt und sie kommen einer Aufforderung wie „Aufräumen“ nicht prompt nach. Wichtig ist hierbei, dass Fachkräfte Geduld aufbringen keinen Zeitdruck ausüben und keine sofortige Entscheidung erzwingen. (Loewe, 2018)
Welche Vorbereitungen kann man in der Kita treffen?
Raum
Kinder brauchen eine gut durchdachte, vorbereitende Umgebung. Der Raum als dritter Erzieher, eine vielzitierte Metapher (vgl. Beck ,2001)wirkt auf das hochsensible Kind einladend oder überfordernd. Es braucht kleine Rückzugsmöglichkeiten, die räumlich von den anderen getrennt sind. Möglich sind auch erweiterte Platzangebote wie z.B. Garderobe oder Gänge. Diese sollen mit Grenzelementen klar strukturiert werden. Den eigenen Rückzug zu haben, bedeutet für das Kind eine Erholung der Sinnesreize und die Zentrierung auf sich selbst mittels seiner Selbstregulation. Die Kinder brauchen einen Vertrauensvorschuss der Erzieher, damit sie sich gut entfalten können. „Ich trau dir das zu“ ist ein Schlüsselsatz und verinnerlicht im Kind das Gefühl mit dem Bild, „Ich bin in Ordnung“. Die klare Strukturierung des Raumes erleichtert die Orientierung und das Handeln. Abgegrenzte Bereiche, klare Regeln und die Veranschaulichung dieser, entspannt die Gruppensituation. Die Gesamtgruppe ist für das Hochsensible Kind nur in leichten Dosen zu verdauen. Es ist schnell überreizt und braucht seine Auszeiten und Erholungsphasen.
Bewegungsangebot
Die spontane Bewegungslust kann sich destruktiv in der Gruppe zeigen. Gerade beim Morgenkreis zeigt sich das Hochsensible Kind durch eine geringe Konzentration aus und stört das Angebot. Eine Idee ist der „offene Morgenkreis“, der für die Kinder angeboten wird, die sich dafür interessieren; die anderen Kinder können sich ruhig in anderen Raumteilen beschäftigen.
Drei Sicherheiten, die für das Hochsensible Kind wichtig sind
1. Körperlichen und verbalen Halt geben
Ich bin bei dir. Ich sehe dich. Körperberührung an Hand oder Rücken bei Aufforderungen
2. Feinfühligkeit in Mimik und Gestik
Mit welchen Blick sehe ich das Kind an? Zeige ich dem Kind eine offene, willkommene Haltung?
3. Feinfühligkeit in der Sprache
Mit welcher Stimme spreche ich, spreche ich langsam und deutlich, welche Sätze wähle ich, damit das Kind mich hört (z.B. „Komm jetzt endlich her“, oder „Martin, komm bitte in den Gruppenraum“)
Wie gestaltet sich der Tagesablauf in der Kita?
Je klarer der Tagesablauf strukturiert ist umso entspannter verläuft der Tag. Für spontane Aktionen braucht das Hochsensible Kind eine Ankündigung und eine Vorlaufzeit. Die Übergänge müssen besonders gut durchdacht werden, damit es nicht zu emotionalen Ausbrüchen kommt. Da gibt es viele Möglichkeiten, wie z.B. einen Wecker stellen, eine Uhr, Trödelspiel, Murmelturm, Anhängelied oder ein gelbes Tuch als Symbol.
Sensitive Elternarbeit
Die Kita ist oft der erste Ort, wo die Eltern über die Entwicklung ihres Kindes in fachlich-reflektierten Gesprächen mit der Fachkraft erfahren. Deshalb ist das „sensitive Entwicklungsgespräch“ Basis der gelingenden Elternarbeit. Die wertfreien Beobachtungen und die daraus ergebenden Maßnahmen, helfen den Eltern einen ersten professionellen Eindruck des Wesens ihres Kindes zu erhalten.
Wie bereite ich das Team vor?
Da dieses Thema noch am Anfang der Forschung in Westeuropa steht, sind ebenso das Wissen darüber wie die Praxiserfahrungen wenig verbreitet. Deshalb ist es notwendig, sich fundiertes Wissen darüber anzueignen und z.B. Inhouse-Schulungen mit Experten zu vereinbaren. Jedes hochsensible Kind hat seine ganz eigene Prägung, und es gilt diese im Team mit dem „360 Grad Blick“ fortlaufend zu reflektieren. Die Beobachtung muss stärkenorientiert sein, um dem Kind eine sichere Bindung zur Bezugsperson zu ermöglichen. Erst wenn die sichere Bindung gewährleistet ist, exploriert das Kind und macht diverse Lernerfahrungen. Außerdem helfen positive Verstärker negative Verhaltensweisen zu reduzieren, was die Gesamtgruppensituation entspannt. Ein oder mehrere Kinder mit hochsensiblen Tendenzen sind sehr kraftraubend für die Erziehenden, und auch für die anderen Kinder der Gruppe.
Leider werden diese Kinder oft falsch eingeschätzt. ADHS/ADS wie auch Autismus, sind gängige Vermutungen. Eine professionelle Bestätigung eines Arztes mit Kenntnis über die Hochsensibilität ist hilfreich für alle beteiligten Akteure. (Löwe 2018)
Abschließend möchte ich alle Fachkräfte ermutigen, diesen Wesensaspekt als Teil des Gesamtbildes zu sehen und das hochsensible Kind als normales Kind zu betrachten. Die bezaubernde Offenheit und die ausgeprägte Sinneswahrnehmung erfrischen und beleben den Kita- Alltag!
Literatur
- Aron, Elaine: Das hochsensible Kind: Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse ihres Kindes eingehen. Mvg. Verlag 2018
- Brackmann, Andrea: Jenseits der Norm- hochbegabt und hoch sensibel. Die seelischen und sozialen Aspekte bei Kindern und Erwachsenen. Klett-Cotta. 2005
- Fürstaller, Maria: Wenn die Melodie des Abschieds kein Gehör findet: Eine psychoanalytische Untersuchung zur Eingewöhnung in Kitas. Psychosozial Verlag. 2019
- Löwe, Svenja: Hochsensibel und löwenstark: Der Ratgeber für Eltern hochsensibler Kinder in Kindergarten und Schule. BoD-Books on Demand 2018
- Patterson CM, Newman JP: Reflectivity and learning from aversive events: toward a psychological mechanism for the syndromes of disinhibition. Psychol Rev. 1993
- Harke,Sylvia : Wenn Frauen zu viel spüren: Schutz und Stärkung für Hochsensible. Knaur.2017
- Beek, Angelika von der (2014): Bildungsräume für Kinder von Null bis Drei. Weimar: Das Netz
- Zuletzt bearbeitet am: Montag, 08. Juni 2020 14:46 by Karsten Herrmann