Rhythmik – Musik, Spiel und Tanz

Rhythmik – Musik, Spiel und Tanz

Inhaltsverzeichnis

  1. Transfereffekte und Musik
  2. Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik
  3. Sprachförderung durch Rhythmik
  4. Sozial-emotionale Entwicklungsförderung durch Rhythmik
  5. Die Rhythmisch-musikalische Arbeitsweise

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Musik ist ein Phänomen – ein universell verbindendes und kulturstiftendes Medium der Menschheit. Wie tief Musik und seine Ausprägungen wie Gesang, Tanz und Instrumentalspiel in der menschlichen Evolution verwurzelt sind, hat jeder Mensch schon an sich selbst erlebt. Musik beeinflusst nicht nur unsere Emotion und unser Verhalten, sondern auch physiologische Vorgänge wie Puls und Atmung.

Jedem Menschen eröffnet Musik eine kulturell-ästhetische Erfahrungswelt, die viele Chancen zur Förderung in sich birgt. Welchen Einfluss Musik auf unser Leben hat, ist stark davon abhängig, in welchen Lebensbezügen und in welchem emotionalen Kontext während unserer Kindheit Musik erlebt wurde. Gemeinschaftliche Erfahrungen beim Hören, Musizieren und körperliches Agieren zur Musik fördern die Offenheit für eine Vielfalt musikalischer Stile und Kulturen. Singen, Tanzen und Spiel mit Musik wie in der Rhythmisch-musikalischen Erziehung (Abk. Rhythmik) geben positive Impulse für die Entwicklung vielfältiger Fähigkeiten und Kompetenzen.

Musik und Gesang „ver-bindet“!

Gemeinsames Singen verbindet Menschen jeglichen Alters, sei es beim Fußballspiel oder im Gottesdienst. Besonders erleichtern Spiellieder und Bewegungsreime Eltern und Bezugspersonen die emotionale und soziale Kontaktaufnahme beim jüngeren Kind, da Kinder mit großem Interesse und augenblicklicher Aufmerksamkeit auf Musik und rhythmisierte Sprache reagieren. Schon die Allerkleinsten lachen, glucksen und strampeln, wenn mit ihnen Kniereiter und Krabbellieder gespielt werden. Bei Müdigkeit oder Schmerzen kann ein (Wiegen-) Lied Wunder wirken, indem das Baby sich beruhigt oder abgelenkt wird.

Interessanterweise ist die non-verbale Kommunikation zwischen Betreuungspersonen und dem Säugling durch zahlreiche rhythmische Handlungen bestimmt. Papoušek (1996) stellte in ihren Untersuchungen fest, dass Tätscheln, Streicheln, Kitzeln und Wiegen fünfzig Prozent der Interaktionen zwischen Müttern und ihren drei Monate alten Säuglingen ausmachen. Diese intuitive Kommunikation („intuitive parenting“ nach Papoušek & Papoušek 1981) zwischen Eltern oder anderen Bezugspersonen (z.B. Großeltern, pädagogische Fachkräfte) mit Babys und Kleinkindern ist geprägt von der Fürsorge für das Kind und einer Kommunikationsfähigkeit entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes. Lieder, die den Inhalt durch Berührungen und Gesten spür- und sichtbar machen, wirken dabei wie ein emotionaler Botenstoff, der beiden Seiten – Kind und Eltern – Freude bereitet.

Der Einsatz altersentsprechender musikalisch-sprachlicher Aktivitäten wie Spiellieder und rhythmische Bewegungsreime bewirkt eine neuronale Erregung im gesamten Gehirn und stimuliert die Gehirnentwicklung durch Verknüpfungen und die daraus entstehenden Strukturen besonders nachhaltig. Voraussetzung für die Bezugspersonen ist die Freude an der Musik, am Singen und an der Bewegung.



Transfereffekte und Musik

In den letzten Jahren fanden die Fachbegriffe Transfereffekte oder kreuzmodale Einflüsse Eingang in die Terminologie der Pädagogik. Aus neurophysiologischer Sicht bedeutet der Begriff Transfereffekt das Mit-Lernen in angrenzenden Hirnregionen aufgrund von Nervenverknüpfungen benachbarter Hirnbereiche (vgl. Jackel 2007). Die Herausbildung von Transfereffekten oder kreuzmodaler Einflüsse wird gerade durch musikalische Spielformen in der frühen Kindheit begünstigt.

Durch den häufigen Gebrauch von sogenannten Schnittarealen (angrenzende Hirnregionen) und gemeinsamen Hirnnervenbahnen wie beim oftmals gleichzeitigen Bewegen, Singen, Sprechen und Musizieren, werden unterschiedliche Hirnareale synchron aktiviert. Diese werden in ihrer Funktion durch die Verknüpfung mit anderen Hirnregionen verstärkt und entwickelt.

Am Beispiel der phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Entwicklung der Sprache kann dies beispielhaft verdeutlicht werden: Die parallele Entwicklung der Feinmotorik der Hände, der Sprachzentren und des menschlichen Stimm- und Sprechapparates zeigen auf, dass die entsprechenden Steuerungsareale im Gehirn nicht zufällig aneinandergrenzen, sondern dass dies auf die eng verknüpfte Nutzung der Modalitäten Sprechen, Mimik und Gestik zurückzuführen ist. Transfereffekte sind jedoch nicht nur auf die naheliegenden Hirnareale beschränkt, sondern erstrecken sich auf das gesamte Gehirn. Hier ist besonders die Kommunikation der beiden Hirnhälften zu erwähnen, ohne die eine normale Verarbeitung der Sinneseindrücke nur bedingt möglich wäre. Der Einfluss von Musikerziehung auf die Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften ist nachweisbar und wird deutlich am Beispiel des stärker entwickelten Balkens zwischen den Hirnhälften (Corpus callosum) bei von Kindheit an musizierenden Erwachsenen.

Anatomische Strukturen des Gehirns werden durch die Produktion und Beschäftigung mit Musik verändert. Es wird angenommen, „dass durch die verstärkte interhemisphärische Kommunikation ein schnellerer Austausch von Informationen und ein effektiver Abruf von komplexen motorischen Programmen möglich ist“ (Gembris 1998/2007, S. 143). „Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass während des Musizierens zwangsläufig viele Gedächtnisinformationen aktiviert werden, dies umso mehr, je mehr man gelernt hat, Musikinformationen auch mit anderen Gedächtnisinhalten zu koppeln. Diese Informationen reichen von Tönen, Rhythmen und Melodien bis hin zu Erinnerungen an Episoden, Personen und Emotionen, die mit dem Musikstück assoziiert sind“ (Jäncke 2008, S. 409). Da die Bestandteile der Musik wie Rhythmus, Melodie, Harmonie, Tempo und Lautstärke gleichzeitig auf beide Hemisphären wirken, lateralisieren Musizierende auch bei anderen Aktivitäten weniger stark, da sie dies schon durch das Musizieren gewöhnt sind, oder anders ausgedrückt, ihr Gehirn sich entsprechend entwickelt hat. Beide Hirnhälften werden gleichzeitig stärker aktiviert und zur Verarbeitung von Sinneseindrücken verwendet (vgl. Hirler 2014).


Musikalische Bildung durch Rhythmik

Die Wirkungsfelder der Rhythmik, die gleichzeitig unterschiedliche Entwicklungs- und Bildungsbereiche darstellen, sind:
  • Wahrnehmungsentwicklung und Motorik
  • Sprachentwicklung
  • Sozial-emotionale Förderung und Entwicklung der Persönlichkeit
  • Kreativität
  • Entwicklung musikalischer Fähigkeiten

Alle Wirkungsfelder haben ihren gleichberechtigten Platz in den Angeboten und wirken auf ihren unterschiedlichen Umsetzungsebenen ineinander und miteinander. Dabei werden die Vernetzung der Sinne, wie die Raumorientierung (Sehen-Hören-Bewegen), die Differenzierung der Motorik, musikalische Anlagen, Persönlichkeit, Interaktion und Kommunikation (sozial-emotionale Entwicklung) und das Ausdrucksvermögen in motorischer- tänzerischer, darstellerischer und emotionaler Hinsicht gefördert.

Das breite Angebot von Methoden ermöglicht die Umsetzung zahlreicher Interaktionsformen, wie Partnerspiele und Gruppenspiele und ihre Varianten. Die Methoden ermöglichen den Kindern das Singen, Tanzen, Rollen darstellen, Musizieren, Experimentieren, Improvisieren. Daraus entstehen prozesshaft erweiterte Aktionsmodalitäten, wie sich entscheiden, beobachten, planen, führen, erkennen, gestalten, ordnen, präsentieren, interpretieren, differenzieren und kooperieren (vgl. Hirler 2014, S. 184 f.).

Kindern macht es Freude, sich mit Musik auf irgendeine Weise zu betätigen. Sie lieben fantasievolle Geschichten, die sie im Rollenspiel mit Musik und Bewegung in der Gruppe erleben und gestalten. Mittels einer fachdidaktisch-spezifischen Zusammensetzung und durch die Einbettung in Geschichten werden Rhythmikangebote besonders intensiv und nachhaltig von den Kindern erlebt.
Nachfolgend werden drei Wirkungsfelder der Rhythmik, und zwar die Wahrnehmungs-, Sprach- und sozial-emotionale Entwicklung genauer vorgestellt.



Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik

Das Musikerleben ist eng mit der Sinneswahrnehmung und im Bildungsbereich Musik vor allem natürlich mit der Hörwahrnehmung verbunden. Hörereignisse geben uns vor allem in Kombination mit anderen Sinnen – wie zum Beispiel Sehen, Tasten, Spüren, Riechen – Informationen über die Beschaffenheit eines Gegenstandes, über die Größe von Räumlichkeiten, über Situationen (z.B. quietschende Reifen, Donner).

Rhythmische Spiel- und Förderangebote können als eine sensomotorische Förderung zur sensorischen Integration bezeichnet werden. Dabei lernt das Gehirn Nahsinne (z.B. takile Wahrnehmung, Tiefenwahrnehmung) mit Fernsinnen (z.B. Riechen, Sehen, Hören) zu verknüpfen. Die sensorische Integration entwickelt sich im Laufe der ersten Lebensjahre und stellt die physiologische Grundlage dar, auf der alle weiteren Sinneseindrücke im Gehirn und im Körper verknüpft und verarbeitet werden. Ohne diese Entwicklung ist altersspezifisches Lernen nicht möglich. Bei der Förderung des Zusammenspiels von Nah- und Fernsinnen in der Rhythmik handelt es sich dabei um ein vernetztes Zusammenspiel aller Sinne unseres Körpers. Sinnesreize, die aktiv oder passiv von den verschiedenen Sinnessystemen aufgenommen werden, sind dabei mit unmittelbaren Bewegungsimpulsen gekoppelt.

Beim Experimentieren, zum Beispiel mit Material, erhalten die Kinder durch das spielerische Handhaben, wie werfen, klopfen, tasten, einen Einblick oder besser gesagt Eindruck in das „Wesen“ des jeweiligen Materials. Mit unserem Tast-, Spür-, Gleichgewichts-, Bewegungs-, Raum-/Lage-, Temperatursinn und unserer Tiefenwahrnehmung (propriozeptive Wahrnehmung) sind sie in der Lage herauszufinden, welche Eigenschaften das jeweilige Material hat und wie sie es entsprechend einsetzen können. Bei Instrumenten kommt noch die Klang- oder Geräuscherzeugung hinzu, über die wir etwas über die Struktur des Instrumentes erfahren (z.B. ist es aus Metall, aus Holz, klingt es selbst oder muss man es zum Klingen bringen).

In der Rhythmik wird die bewusste Umsetzung und Reaktion von Sinneserfahrungen in Bewegung, also die Sensomotorik, gefördert. Beispielhafte Wahrnehmungsspiele in der Rhythmik und ihre sensomotorische Umsetzung, inklusive Affirmationen:

  • den auf dem Rücken geklopften Rhythmus auf die Trommel übertragen („Spiele, was du fühlst“)
  • das Reagieren auf Signale („Bewege, was du hörst“)
  • das Umschalten von einer Fortbewegungsart auf die andere („Bewege, was du hörst“)
  • das Bewegungstempo eines Kindes auf ein Instrument übertragen („Spiele, was du siehst“)
  • den Sprachrhythmus sprechen und stampfen und auf einem Instrument spielen („Bewege, was du hörst und sprichst“)
  • den Charakter/die emotionale Aussage einer Musik erkennen und in Bewegung übertragen („Bewege, was du hörst“)
  • Klänge werden mit Handlungen verknüpft: „Ertönt das Becken, wird der Igel müde und legt sich hin. Ertönen die Klanghölzchen im raschen Spiel, steht er auf und läuft umher.“ („Bewege, was du hörst“)
  • ein Lied wird mit rhythmischen Bewegungen in Kombination mit Handgesten umgesetzt („Bewege, was du singst“)
  • die gehörte Musik wird malerisch ausgedrückt („Male, was du hörst“)
  • Materialien werden z. B. zu einer fließenden, zarten Musik ausgesucht, im Anschluss bewegen sich die Kinder mit den Materialien dazu. Die Musik wird nochmals angehört und die Kinder gestalten ein Legebild mit den Materialien („Bewege/tanze, was du hörst“, „Gestalte, was du hörst“)
  • zu einem Kunstwerk (z. B. einem Gemälde) wer den Bewegungsformen erfunden („Bewege, was du siehst“)
Für den Menschen als soziales Wesen ist es von großer Bedeutung, dass diese vernetzten Sinneseindrücke im Kontext von sozialen Beziehungen und Interaktionen erlebt werden. Nur dann können Kinder auch die sozialen Kompetenzen entwickeln, sich mit ihrer Umwelt in Beziehung zu setzen, eigene Erfahrungen zu sammeln und sich selbst Wissen anzueignen.

Kinder gleiten automatisch in selbsttätige Prozesse hinein, wenn sie auf Basis eigener Erfahrungen neues Wissen schöpfen. Bis zum Alter von sieben Jahren lernt ein Kind vor allem durch Bewegung, Nachahmung und Experimentieren und ist idealerweise eingebettet in ein Umfeld, das seine Entwicklung mit Anteilnahme und Interesse unterstützt und begleitet (vgl. Hirler 2014).



Sprachförderung durch Rhythmik

Sprache und Musik werden als eng verwandt angesehen, da sie aus nahezu identischen Merkmalen/Parametern bestehen: Melodie, Rhythmus, Akzente und Artikulation, Tempo und Dynamik. Doch auch Syntax und Semantik ist nicht nur in der Sprache zu entdecken, sondern auch in entsprechender Weise in der Musik. Musik und Sprache äußern sich in einem bestimmten Regelsystem, das Wörter oder Klänge zu größeren funktionellen Einheiten wie Phrasen (Teilsätze) und Sätzen zusammenfügt. Je nach Art und Weise der sprachlichen oder musikalischen Phrasierung können musikalische oder sprachliche Botschaften eine andere Bedeutung besitzen.

Viele Bereiche im Gehirn werden für die Analyse von Musik- und Sprachinformationen gleichermaßen eingesetzt. „Es besteht daher die berechtigte Vermutung, dass für die Musik- und Sprachwahrnehmung ähnliche Funktionsmodule notwendig sind“ (Jäncke 2008, S. 361). Identische Areale im rechten Hörkortex verarbeiten sowohl Klangfarben von Musikinstrumenten als auch von menschlichen Stimmen (vgl. ebd).

Rhythmisch-musikalische Sprach- und Förderangebote sprechen unterschiedliche Entwicklungsbereiche an. Durch die Handlungsmedien Musik, Sprache, Bewegung und den Einsatz von Materialien in Form von Instrumenten, Spielmaterial und Medien wie Bilderbücher, kann eine Sprachförderung durch Rhythmik besonders ganzheitlich, da multisensorisch und multimedial, die Kinder erreichen.

Mehrsprachig aufwachsende Kinder bringen sich mit ihren körperlichen Fähigkeiten ein, entdecken neue Zusammenhänge durch körperliche Aktivitäten und können diese als Sprechanlässe zum Ausbau eines differenzierten Wortschatzes nutzen.

Das improvisatorische Spielen auf Instrumenten ermöglicht den Kindern, jenseits von Sprache Musik als einzigartiges kommunikatives Mittel zu erleben. Die sich daraus entwickelnde Hördiskriminierung ist ebenso für den Spracherwerb (phonologische Bewusstheit) von grundlegender Bedeutung.

Das spielerische Lernen von Liedtexten, Liedrhythmus, Betonung und Melodie erleichtert allen Kindern, aber insbesondere mehrsprachigen Kindern, das Erfassen der charakteristischen Sprechweise (z.B. Semantik, Syntax, ProsodieProsodie|||||Sammelbegriff für die Merkmale Betonung, Dauer, Lautstärke, Intonation, Rhythmus und Tempo.) der deutschen Sprache.

Die Einbettung eines Angebotes in eine Geschichte ermöglicht den Kindern, sich aktiv in Rollenspielen zu erleben und sich dazu sprachlich zu artikulieren. Das Vorlesen, Betrachten und darüber Austauschen von Illustrationen zur Geschichte und das dialogisches Vorlesen fördert basale Fähigkeit zum Lese- und Schrifterwerb durch LiteracyLiteracy|||||Literacy in der frühen Kindheit und im Übergang zur Schule ist ein
Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen und Kompetenzen rund um Buch-,
Erzähl-, Reim-und Schriftkultur
.

Improvisations- und Experimentierphasen mit Instrumenten und Materialien fördern die Körperwahrnehmung, den Bewegungssinn und Kreativität.

Durch das Vernetzen mit den Fernsinnen Hören und Sehen wird die Entwicklung der Sensorischen Integration und die phonetische Bewusstheit unterstützt. Dafür geeignete Rhythmikangebote sind immer mit auditiven Signalen in Form von Klängen, Melodien und Geräuschen verbunden. Gleichzeitig werden in elementarer Form die auditive Wahrnehmung und die phonologische Bewusstheit gefördert.

Bei Kindern mit unzureichenden Deutschkenntnissen wird über Handlungslieder der Zugang zur deutschen Sprache sehr erleichtert und Lieder und rhythmisch-musikalische Spielformen fördern das Handlungsverständnis.
Bei selektivem Mutismus steht die soziale Komponente des Einsatzes von Instrumenten und Musik in unterschiedlichen Sozialformen im Vordergrund, um den betroffenen Kindern eine Hilfestellung zu geben, sich aus bisherigen Verhaltensmustern zu lösen und neue zu entwickeln.



Sozial-emotionale Entwicklungsförderung durch Rhythmik

Musik ist ein unschätzbares Mittel, um Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Gegensätze spüren und erleben, das gehört zum Grundprinzip von Rhythmikprojekten. Es fördert nicht nur das bewusste Erleben von Gefühlen (z.B. ängstlich – freudvoll, sich stark oder schwach fühlen), sondern auch das kontrastierende Erleben von Sinneseindrücken (z.B. schnell – langsam, laut – leise), was wiederum für die Entwicklung der Sensorischen Integration von Bedeutung ist. Und da kann es vorkommen, dass ein schweigsames Kind sich in der Löwen-Rolle trommelnd lautstark zum Ausdruck bringt, während sich der hyperaktive Gruppenclown in der Rolle des Schafs mit einem sanften „Mäh“ ab und an zu Wort meldet. Das spielerische Erleben, das Agieren und Reagieren, das Nachsinnen in sich selbst, um das Erlebte in den Rhythmikangeboten zu verarbeiten, wirken sich auf die Entwicklung der sozial-emotionalen Kompetenzen aus.

Gemeinsames Singen und Bewegen fördert nachweislich die sozial-emotionale Kompetenz
Sebastian Kirschner und Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Abteilung für vergleichende Entwicklungspsychologie) in Leipzig veröffentlichten 2010 eine Studie mit 48 vierjährigen Kindergartenkindern. Das Forschungssetting sah folgendermaßen aus: Es sangen und bewegten sich ein Erwachsener mit zwei Kindern um einen mit Tüchern gelegten Teich, der mit Fröschen, Seerosenblättern und Fischen geschmückt war. Dazu begleiteten sie sich auf Raspelfröschen.

Die Vergleichsgruppe von ebenfalls zwölf Kinderpaaren betrachtete nur den Teich und sprach über die Eindrücke. Im Anschluss wurden ein Hilfs- und ein Kooperationsspiel durchgeführt. Die Kinder, die gemeinsam das Lied gesungen und bewegt hatten, halfen und kooperierten wesentlich häufiger als die Kinder, die nicht gemeinsam gesungen hatten (Helping test: Mädchen 9:3; Jungen: 4:1, Cooperation test: Mädchen 11:7; Jungen: 5:1) (vgl. Kirschner & Tomasello 2010).

Die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung stellt die Grundlage einer positiven Beziehungsbildung zu gleichaltrigen Kindern dar. Nur wenn wir unsere Gefühle bewusst wahrnehmen können, werden wir die Fähigkeit entwickeln, uns empathisch in die Gefühle und Handlungen anderer hineinzuversetzen.

In Rhythmikangeboten gibt es zur Entwicklung dieser Fähigkeiten vielfältige Methoden in unterschiedlichen Sozialformen. Liedformen werden zum Beispiel als Rollenspiel oder Wahrnehmungs- und Sprachspiele in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen angeboten. Sie fördern das bewusste Erleben und den individuellen Einsatz des mimischen und gestischen Ausdrucks bei sich und anderen.

Zudem erhalten die Kinder die Gelegenheit, in verschiedene Rollen und Aktivitäten zu schlüpfen, die ihnen die Möglichkeit eines Perspektivwechsels bieten, der die Grundlage für die Entwicklung weiterer abstrakter und kognitiver Fähigkeiten ist.

Da Rhythmikangebote im Gruppenkontext angeboten werden, wird die Entwicklung von Frustrationstoleranz und dadurch die Regulation von Gefühlen gefördert. Frustrationstoleranz heißt u.a. abwarten können, etwas nicht sofort haben können etc. Das können die Kinder vielfältig erleben und sie bekommen die Möglichkeit, Handlungskompetenzen in diesen Bereichen zu entwickeln. Auf einer weiteren Entwicklungsebene ergeben sich durch die gruppendynamischen Prozesse vielfältige Möglichkeiten zur verbalen und non-verbalen Kommunikation.

Die Kinder lernen die Regeln des Spiels innerhalb der Gruppe anzuerkennen und entsprechend darin zu agieren und zu kooperieren. Dabei verstehen sie immer besser die Zusammenhänge. Ebenso lernen die Kinder, ihre Interaktionen auf die Gruppe und einzelne Mitglieder anzupassen und versuchen, bei Konflikten lösungsorientiert zu interagieren. In Rhythmikangeboten kommen viele spielerische Methoden zum Einsatz, bei denen sie verantwortlich für sich und andere sind (z. B. Dirigentenspiele, Führen und Folgen). Zudem lernen sie, andere Kinder auf ihrer jeweiligen sozial-emotionalen Entwicklungsstufe zu tolerieren und helfen ihnen, sich zu entwickeln (vgl. Merell & Gueldner 2010, Hirler 2018).



Die Rhythmisch-musikalische Arbeitsweise

Musik, Bewegung, Sprache, Materialien und Instrumente sind die methodischen Handlungsmedien der Rhythmik, durch die sich den Kindern in kreativer und freudvoller Atmosphäre ein breites Spektrum an Förderung und individuellen Entwicklungsimpulsen erschließt.

Eine grundlegende Charakteristik der rhythmisch-musikalischen Arbeitsweise ist die Gleichzeitigkeit mehrerer Aktionsebenen und Modalitäten, die während der praktischen Durchführung ineinanderfließen und sich miteinander vernetzen. Und gerade diese Verschränkung wird heute aus neurobiologischer und psychologischer Perspektive als äußerst effizient beurteilt.

Erfahrungen werden gleichzeitig auf der kognitiven, affektiv-emotionalen und körperlichen Ebene in Form entsprechender Denk-, Gefühls- und körperlicher Reaktionsmuster verankert und aneinander gekoppelt (siehe oben unter Transfereffekte). Dieser in der Psychologie als Embodiment bezeichnete Prozess verdeutlicht, dass die komplexe und vernetzte Wirkungsweise der Methodik und Didaktik der Rhythmik den neurobiologischen und –psychologischen Lernprozessen des Menschen und vor allem des jüngeren Kindes entspricht. Damit sich Kinder in diesen vielfältig miteinander verbundenen Wirkungsfeldern erleben können, besitzt die Rhythmik ein weit gefächertes PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. an Methoden, das ihnen diesen Erfahrungsraum eröffnet.

Die Methoden der Rhythmik sind
  • Spiellieder und Spielreime
  • Fortbewegungsarten
  • Tänze
  • Wahrnehmungsspiele
  • Rollenspiele
  • Impulsgespräche und Geschichten
  • Improvisation und Gestaltung von Sprache/Stimme, Bewegung und Instrumentalmusik
  • Instrumentalspiel und -begleitung
  • Ruhephasen
  • Übergänge

Nachfolgend werden zwei der oben aufgeführten Methoden ausführlicher in ihren Umsetzungsvarianten dargestellt (vgl. Hirler 2014).

Spiellieder und Spielreime
  • als Finger- und Handgestenspiele
  • mit Körperklanggesten
  • mit interpretatorischer und harmonischer Instrumentalbegleitung
  • rhythmische Begleitung des Sprach- und Liedrhythmus’
  • als Bewegungsform (Kreisspiel, Regelspiel, pantomimisch, charakteristische Bewegungen, als Tanz)
  • Verklanglichung phänomenologischer Bestandteile - als Partner- und Gruppenspiel
  • Improvisation und Gestaltung von Sprache / Stimme, Bewegung und Instrumentalmusik
  • Improvisation / Gestaltung durch Bewegung / Tanz zu Musik, Klängen, Liedern, Geräuschen, Rhythmen
  • Musikalische / sprachlich-stimmliche Improvisation oder Gestaltung zu Bewegung/Tanz, phänomenologischen Vorgängen, Fortbewegungsarten
  • Interaktionsformen, wie Spiele zu zweit
  • Experimentierphasen mit Materialien
  • Kreatives Gestalten mit Materialien
  • zu Musik / Liedern / Geschichten / Reimen mit Materialien
  • in Interaktionsformen in Kleingruppen, Spiele zu zweit

Die Haltung der pädagogischen Fachkraft bei Rhythmikangeboten ist allerdings ausschlaggebend. Eine offene Grundhaltung zu den verbalen und nonverbalen Äußerungen der Kinder, ein Eingehen auf Ideen und Bedürfnisse der Kinder ist für ein Rhythmikangebot von großer Bedeutung.

Im Spiel können wir dem „Kind im Kind“ in wertschätzender Haltung begegnen, vorausgesetzt, wir haben als Erwachsene unsere kindlichen Wesensanteile nicht über Bord geworfen. Für Kinder stellt das Spiel einen geschützten Raum dar, bei dem die Welt voller Regeln, die eingehalten werden müssen, und Rahmenbedingungen, die sie oftmals nicht wirklich vollständig erfassen können, außen vor bleibt. In der Praxis sieht dies so aus, dass die Pädagogin/der Pädagoge einen spielerischen Rahmen mit Materialien und Instrumenten konzipiert und vorbereitet, für den eine mögliche methodisch-didaktische Abfolge entworfen wird. Reagieren die Kinder anders oder entwickeln sie eigene Ideen, werden diese wenn möglich aufgenommen. Somit ist jedes Angebot unterschiedlich und einmalig. Im Rhythmikunterricht steht die Möglichkeit des entdeckenden Lernens auch im Sinne der Ko-Konstruktion zwischen Pädagoge und Kind und Kind und Kindergruppe im Mittelpunkt des spielerischen Agierens und Lernens.

Zur methodisch-didaktischen Konzeption gehören die didaktischen Unterrichtsprinzipien der Rhythmik. Die didaktischen Unterrichtsprinzipien sind:
  • Interaktion und Kommunikation
  • Sensomotorik und musikalische Bewegung
  • das rhythmische Prinzip der Gegensätzlichkeiten z.B. von Ruhe-Bewegung, alleine-zusammen, Riese-Zwerg
  • Improvisation und Gestaltung
  • das Spiel

Diese Prinzipien durchwirken sämtliche Methoden in der Konzipierung eines Angebotes und in ihrer praktischen Ausführung.

Das Bild vom Kind in der Rhythmik ist geprägt davon, Kindern die Möglichkeit zu geben, selbsttätig zu werden, damit Selbstwirksamkeit zu erfahren und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Durch ko-konstruktive Prozesse wird eine kindgemäße Auseinandersetzung mit anderen Deutungen des Erlebten ermöglicht und dadurch Impulse für die weitere kognitive, motorische, sprachliche, musikalische und sozial-emotionale Entwicklung der Kinder gegeben.

Dokumentation von Entwicklungsschritten durch rhythmisch-musikalische Angebote in der Kita

Zur individuellen Dokumentation der Entwicklung der Kinder eignen sich besonders anschaulich Aktivitäten, in denen Kinder prinzipiell unbeschwert und freudig agieren, wie in Rhythmikangeboten. Diese in Rhythmikangeboten enthaltenen Modalitäten (zum Beispiel beim Singen und Bewegen, Tanzen, Agieren in unterschiedlichen Sozialformen, Handhabung von Instrumenten und Materialien usw.) können beobachtet, reflektiert und dokumentiert werden. Insbesondere werden dabei die Entwicklungsbereiche Motorik, sozial-emotionale Kompetenzen, Wahrnehmungsentwicklung, Sprachfähigkeit, Kreativität und musikalische Umsetzungsfähigkeiten angesprochen.

Eine Dokumentation kann die Beschreibung von Situationen und Entwicklungen im Kontext musikalischer Angebote enthalten, da dabei viele Bildungsbereiche tangiert werden. Im Folgenden einige Beispiele:
  • komplexe Prozesse, wie das Verhalten auf sozial-emotionaler, motorischer Ebene und die sprachliche Interaktion eines Kindes zum Beispiel während eines rhythmisch-musikalischen Angebotes
  • sozial-emotionale, kognitive, motorische, musikalische und sprachliche Entwicklungen innerhalb musikalischer Angebote über einen bestimmten Zeitraum
  • die Lieblingslieder oder/und die Lieblingsmusik eines Kindes
  • die Lieblingsinstrumente beim elementaren Instrumentalspiel
  • selbst erfundene Liedtexte und Melodien der Kinder (von der Fachkraft notiert oder als Tonaufnahme)
  • die Äußerungen des Kindes zu musikalischen Angeboten wie zum Beispiel beim Malen zu Musik
  • das Bild, das beim Malen zur Musik entstanden ist
  • Fotos während eines Angebotes
  • Tonaufnahmen des Kindes oder der Kindergruppe (vgl. Hirler 2014)
 
Rhythmik und Musik sind wichtige Bildungsbereiche für eine ganzheitliche Förderung von Kindern in der Kita. Das zeigt sich auch im Stellenwert, den Rhythmik und Musik in den Bildungs- und Orientierungsplänen jedes Bundeslandes einnehmen. Musikalische Bildung von Anfang an eröffnet Verständigungsmöglichkeiten über Sprachgrenzen hinweg, fördert den Spracherwerb und fördert auf der anderen Seite die kulturelle Vielfalt.

Rhythmik und Musik können durch Transfereffekte in andere Entwicklungsbereiche in der frühen Kindheit Weichenstellungen für erfolgreiche Bildungsbiografien geben. Insbesondere durch die Verbindung von Kognition und Motorik, Emotion und Interaktion, Sprache und Sinneswahrnehmung wird die kindliche Entwicklung gefördert, ebenso wie die Ausdifferenzierung der Persönlichkeit durch das vielfältige Erleben und kreative Agieren in Sozialformen.


LITERATUR

  • Gembris, H. (1998/2007): Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung. Augsburg.
  • Hirler, S. (1999/2012): Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik. Freiburg.
  • Hirler, S. (2008/2012): Musik und Spiel für Kleinkinder. Berlin.
  • Hirler, S. (2014): Handbuch Rhythmik und Musik. Freiburg.
  • Hirler, S. (2009/2015): Sprachförderung durch Rhythmik und Musik. Freiburg.
  • Hirler, S. (2015): Klangkätzchen & Trommelspecht. Aachen.
  • Hirler, S. (2017): Stuhlkreistänze für Kita-Kinder. Aachen.
  • Hirler, S. (2018): Sozial-emotionale Entwicklungsförderung durch Rhythmik und Musik. Freiburg.
  • Jackel, B. (2007): Auch Sprache ist Bewegung. In neurodidaktischen Settings über Sprechen, Bewegen und Musizieren die Plastizität von Kindergehirnen zur Entfaltung bringen. Vortrag aus 5. Süddeutsches Symposium Physiotherapie und Logopädie „Neuroplastizität zum (Be)-Handeln“. Fellbach. www.birgit-jackel.de/Kongressbeiträge
  • Jäncke, L. (2008): Macht Musik schlau? Bern.
  • Jungmann, T. (2012): Praxis der Sprach- und Kommunikationsförderung. Dortmund.
  • Kirschner, S., Tomasello, M. (2010): Joint music making promotes prosocial behavior in 4-year-old children. In: Evolution and Human Behavior, No. 31, S: 354-364, München. http://www.eva.mpg.de/psycho/pdf/Publications_2010_PDF/Kirschner_Tomasello_2010.pdf (Zugriff am 18.3.2018)
  • Koelsch, S., Siebel, W.A. (2005): Towards a neural basis of music perception. In: Trends in Cognitive Science, Vol. 9/Nr. 12. S. 231-242.
  • Merrell, K. W., Gueldner, B. A. (2010): Social and Emotional Learning in the Classroom. Promoting Mental Health and Academic Success. New York.
  • Papoušek, M., Papoušek, H. (1981): Intuitives elterliches Verhalten im Zwiegespräch mit dem Neugeborenen. In: Sozialpädiatrie in Praxis und Klinik. N. 3. S. 229-238.
  • Papoušek, M. (1994/2001): Vom Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vorsprachlichen Kommunikation. Bern.
  • Stadler Elmer, S. (2014): Kind und Musik – Entwicklungspotenziale nutzen. Heidelberg.


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