Mehrsprachigkeit und ihre Chancen

Viele Kinder in Deutschland wachsen mehrsprachig auf. Darin stecken große Chancen, die noch viel zu wenig genutzt werden. Zeit, dass sich das ändert.

Man kann eine Sprache nicht unterrichten; man kann nur günstige Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie sich spontan im Geiste entwickelt“, sagte Wilhelm von Humboldt vor fast 200 Jahren. Neue Erkenntnisse zur menschlichen Sprach- und Kommunikationskompetenz unterstreichen diese Aussage. Sprache ist die Basis für eine gelungene Bildungsbiografie, daher ist es notwendig, sich mit den Sprachrealitäten unserer Gesellschaft und der Kinder auseinanderzusetzen: Die traditionelle Einsprachigkeit unserer westeuropäischen Länder gibt es schon lange nicht mehr.

Viele Kinder erleben bereits in den prägenden ersten Lebensjahren zwei und mehr Sprachen in ihrem familiären und sozialen Umfeld, Zweitsprachen als Bildungsangebot haben Einzug in Kindergärten und Grundschulen gehalten. Nationale und europäische Programme auf höchster Ebene zeigen, dass Mehrsprachigkeit immer häufi ger als eine der grundlegenden Schlüsselkompetenzen angesehen wird. Mehrsprachigkeit wird nicht mehr nur als eine wesentliche kulturelle und soziale Bereicherung dargestellt, sondern wird auch immer mehr als eine Notwendigkeit gesehen, die es jedem erlauben soll, sich auf dem weltweiten Markt zu behaupten.

Wie viel Sprache und wie viele Sprachen braucht das Kind?

Die profanere Frage, die sich mittlerweile stellt, ist: Wie viel Sprache und wie viele Sprachen braucht das Kind, um zu einem kompetenten Sprecher zu werden und gleichzeitig den Ansprüchen unseres Bildungswesens gerecht zu werden? Und was gilt es zu beachten, damit das Kind trotz oder dank seiner Mehrsprachigkeit eine ausgeglichene Entwicklung seiner Identität, seiner Kompetenzen und Persönlichkeit durchlebt?

Gehen wir davon aus, dass Sprache die Basis für die Bildungs- und somit auch Sozialbiografie des Menschen ist, muss der Sprach- und Sprachenerwerb grundlegend für bildungspolitische Überlegungen sein. Der Spracherwerb wird heute als mehr-dimensionaler Prozess beschrieben, der ab der Geburt durch die ersten Interaktionen zwischen Bezugsperson und Kind beginnt und sich bis ins Erwachsenen- alter hinein fortsetzt. Weit über den Tag der Einschulung hinaus befinden sich die Kinder in einer sprachentwickelnden Phase. Die Individualität der Entwicklung eines Kindes, die wiederum in engem Zusammenhang mit der persönlichen Veranlagung, der Umgebungssprache, der sprachbiografischen Situation sei­ner Bezugspersonen und mit äußeren Reizen in Verbindung steht, machen die Bewertung seiner Sprach- und Kommu­nikationskompetenz so schwierig.

Prüf- und Testverfahren, die zu einer Strukturierung von Bildungsangeboten unvermeidlich scheinen, müssten also im günstigsten Fall auch die Sprachbio­grafie des einzelnen Kindes berücksich­tigen und sie in die Bewertung seiner Sprachkompetenz mit einbeziehen. Viele Gründe kön­nen aufgeführt werden, warum dieser detaillierte, personenbezogene Blick im Alltag der Kindertageseinrich­tungen und Schulen meist nicht statt­findet: Zeitknappheit, Sprachbarrieren zwischen pädagogischen Fachkräften, Lehrern und Elternhaus oder einfach fehlendes Wissen über die Sprachent­wicklung, das Sprachverhalten und die Sprachkompetenz von Kindern sind als Gründe zu nennen.

Doch genau dieses Wissen ist die Vo­raussetzung sowohl für die Einschät­zung des einzelnen Kindes als auch einer entsprechenden Sprachbegleitung oder Sprachförderung. Zudem haben Studien gezeigt, dass frühe Mehrsprachigkeit das Arbeitsgedächtnis trainiert, das heißt, wer schon in der frühen Kindheit mindestens zwei Sprache gleichwertig und parallel erwirbt, überträgt die so angelegten Spracherwerbsstrukturen auch auf den Erwerb weiterer Sprachen im späteren Leben.

Erlebt das Kind in den ersten Lebens­jahren eine zweite Sprache in seinem täglichen Lebensumfeld, erwirbt es diese meist ohne große Probleme. We­sentliche Voraussetzung hierfür sind die Beständigkeit und Regelmäßigkeit des Sprachkontaktes ebenso wie die emoti­onale Verlässlichkeit seiner Beziehung zu den Sprechenden.

Neurobiologisch ist Mehrsprachigkeit kein Problem

Dennoch hält sich in der monolingualen Tradition Westeuropas bis heute die Meinung, dass der natürliche Zustand des Menschen die Einsprachig­keit ist und dass Menschen, die von frühester Kindheit an zwei oder mehr Sprachen kompe­tent und gleichwertig sprechen eine Ausnahme sind. Dabei wird ausdauernd ignoriert, dass über zwei Drittel der Erd­bevölkerung in einer zwei- oder mehr­sprachigen Gesellschaft heranwachsen. Auch das Gerücht der Überforderung durch die Konfrontation mit zwei oder mehr Sprachen in der Kindheit hält sich eisern.

Doch Untersuchungen des Gehirns zeigen, dass es uns unsere physische Grundausstattung erlaubt, jede Sprache der Welt zu erwerben. Der Mensch ist ein „sprechendes Wesen“, aber weder die Anzahl der Sprachen, die wir spre­chen, noch um welche Sprachen es sich handelt, ist dabei festgelegt.

In welchem Umfang dies geschieht ist direkt abhängig davon, wie stark die sprachliche Stimulierung während der Spracherwerbsphase ist und in wel­chem emotionalen Verhältnis das Kind zu den Personen steht, die diese Spra­che sprechen. Die Grundlage für einen funktionierenden Spracherwerb ist die Interaktion mit anderen, basierend auf den Bindungssystemen, die das Kind erleben darf. Das emotionale Feed­back, welches das Kind erfährt, steht in direkter Beziehung zur kognitiven, emotionalen, sozialen und sprachlichen Entwicklung.

Aber gerade hier tut sich für viele mehr­sprachige Kinder, die Deutsch erst im Kindergarten erlernen, fast schon ein Abgrund auf. Häufig begegnet ihnen auf­grund ihrer Familiensprache, die bisher Teil ihrer Identität war, Ablehnung oder Unverständnis. Allzu häufig wird verges­sen, dass bei einem mehrsprachigen Kind, das Deutsch als Zweitsprache zeitlich versetzt lernt, nicht die gleichen Maßstäbe für eine alterstypische deut­sche Sprachkompetenz angesetzt wer­den können.

Wertschätzung und emotionale Sicherheit als Rahmenbedingung

Die Integration nicht deutsch spre­chender Kinder in die Kindergartenge­meinschaft und später in der Schule erfordert ein gutes Beherrschen der Landessprache. Der Spracherwerbsprozess der Kinder kann unterstützt werden, indem den emotionalen Bedürfnissen des Kindes Rechnung getragen wird: Das Kind hat die Fähigkeit, eine weitere Sprache zu erwerben; es hat bereits sprachliche Kompetenzen in seiner Familiensprache; der Erwerb einer Zweitsprache in der frühen Kindheit erfordert einen emotional sicheren Rahmen, in dem das Kind Wertschätzung für seine ganze Person erfährt und nicht nur für seinen deutsch sprechenden Teil. Es benötigt über die Jahre des Spracherwerbs eine intensive, qualitative sprachliche Zuwendung, die geprägt ist von Anerkennung, Verständnis und Hilfsbereitschaft. Und vor allem braucht es Menschen, die wissen, dass Sprachkompetenz gebunden ist an einen sich über Jahre hinziehenden Entwicklungsprozess, an die Qualität der sozialen und emotionalen Bindungen und an positive Erfahrungen.

Es lässt sich festhalten, dass das Gehirn für Mehrsprachigkeit potenziell empfänglich ist – und das ein Leben lang. Es gilt also, den Erwerb von weiteren Sprachen nicht nur in der frühen Kindheit, sondern auch im fortgeschrittenen Alter zu unterstützen. Je früher erworben, desto akzentfreier und grammatikalisch korrekter wird man die weitere Sprache sprechen. Wenig Einfluss hat frühes Lernen auf den Satzbau oder den Wortschatz: Eine erhöhte Korrektheit zu erreichen oder den Aufbau des Wortschatzes voranzutreiben ist immer – also ein Leben lang – möglich.

Im Übrigen kann man sein Leben lang weitere Sprachen lernen, aber je früher man weitere Sprachen lernt, desto empfänglicher ist man für später zu erwerbende Sprachen. Wer schon einige Sprachen gelernt hat, weiß, „wie es geht“. Trotz aller positiven Aspekte gibt es auch Hindernisse oder Hürden für die Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit, vornehmlich sozialer Natur durch Einstellungen, Bildungstraditionen oder Sprachpolitik. Man soll diese empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. gut belegte Tatsache nicht beschönigen: Es bleibt zu beantworten, wie Menschen von der im Aufnahmeland vorgefundenen Mehrsprachigkeit profi tieren können, und wie sie besser im Schulsystem bestehen können. Wenn der Mehrsprachigkeit mehr Wertschätzung entgegengebracht werden würde, wären die mehrsprachigen Kompetenzen bei Kindern mit Migrationshintergrund auch für andere kognitive Fähigkeiten von Vorteil. Hilfreich wäre hier die Auseinandersetzung mit der Frage, wie andere Sprachgebiete und Kulturen mit denselben Fragen umgehen. Will man also diese Chancen nutzen, die Kinder von Natur aus in sich tragen, sollte möglichst früh mit dem Erwerb von mehreren Sprachen begonnen werden. Doch setzt das voraus, dass Eltern und Verantwortliche nachhaltig informiert und aufgeklärt werden, Einstellungen sich verändern und Mittel sowie fundierte Instrumente zur Unterstützung entwickelt werden.

Erstveröffentlichung unter dem Titel "Zur Sprache bringen"  in: didacta – Das Magazin für lebenslanges Lernen, Ausgabe 3/2013, Seite 36 -30

Übernahme mit freundlicher Genehmigung vom "didacta-magazin"





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