Die Entwicklung kulturspezifischer Kontingenzmuster (abgeschlossen)

Projektbeschreibung:

 

Kooperation zwischen der Abteilung Entwicklung & Kultur, Universität Osnabrück und der Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des nifbe

 

Projektleitung:

 

Projektmitarbeiter:

 

 

Kooperationspartner:

  • Dr. Relindis Yovsi (Brüssel, Belgien)

 

 

Hintergrund und Fragestellung

Intuitiv reagieren Mütter innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne auf die Signale ihrer Kinder. Dieser als kontingente Responsivität bezeichnete Teil des intuitiven Elternverhaltens ist von fundamentaler Bedeutung für die kognitive und sozioemotionale Entwicklung der Kinder. Frühere Untersuchungen konnten zeigen, dass sich Mütter aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten in der Art und Weise unterscheiden, in der sie auf die Signale ihrer 3-monatigen Kinder reagieren. Während die Gesamtkontingenzrate kulturübergreifend stabil zu sein scheint (Mütter reagierten auf ca. 60% der neutralen Vokalisationen ihrer Kinder), zeigten sich Unterschiede in den Modalitätsmustern derart, dass Mütter aus prototypisch independenten, also „westlichen“ kulturellen Kontexten mehr visuelle Kontingenzen und weniger proximale (taktil und kinästhetisch) Kontingenzen zeigten als Mütter aus prototypisch interdependenten kulturellen Kontexten.

 

Untersuchungsdesign

Die Daten für dieses Projekt wurden im Rahmen eines von der deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kooperationsprojektes mit Prof. Arnold Lohaus, Universität Bielefeld, erhoben. Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Studie war es, ob diese kulturspezifischen Kontingenzmuster von Geburt an bestehen oder sich erst im Verlauf der ersten Lebensmonate herausbilden. Um diese Fragestellung zu beantworten, wurden Videoaufnahmen von Situationen, in denen sich die Mutter mit ihrem Kind beschäftigt, analysiert. Der Fokus dieser längsschnittlichen Analysen lag auf den auditiven, proximalen (taktil und kinästhetisch) und visuellen (Lächeln, Blick, Mimik, Objektspiel) Kontingenzen auf neutrale Kindvokalisationen in der 4., 6., 8., 10. und 12. Lebenswoche der Kinder. Die Mutter-Kind-Paare stammten entweder aus einem prototypisch autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en (deutsche Mittelschicht, N = 20) oder einem prototypisch relationalen kulturellen Kontext (ländliche Nso-Bauern aus Kamerun, N = 24).

 

Ergebnisse

In der 4. und 6. Lebenswoche unterschieden sich die Kontingenzmuster in den beiden kulturellen Kontexten noch nicht voneinander (siehe Abbildung 1). Am häufigsten waren auditive Reaktionen, gefolgt von proximalen und zuletzt visuellen Reaktionen. Zwischen der 4. und 12. Lebenswoche nahm der Anteil der visuellen Kontingenzen in dem independenten Kontext kontinuierlich zu, der Anteil der proximalen Kontingenzen fiel ab, wohingegen das Kontingenzmuster in dem relationalen Kontext über die Zeit unverändert blieb. Folglich bilden sich kulturspezifische Kontingenzmuster erst im Verlauf des 2. und 3. Lebensmonats heraus.

 

Abbildung 1 - Die Entwicklung kulturspezifischer Kontingenzmuster
 

Die Befunde deuten darauf hin, dass kulturspezifische Verhaltensmuster im Zusammenspiel mit altersgebundenen Reifungsprozessen der kommunikativen Kompetenzen des Säuglings (z.B. Blickkontakt halten) zu den beschriebenen Kontingenzmustern führten. In westlichen Familien der mittleren bis gehobenen Mittelschicht fördern und verstärken Mütter den wechselseitigen Blickkontakt und Austausch mit ihren Kindern. Das mütterliche Verhalten während dieser „Augenblicke“ macht die Situation für den Säugling zu einer angenehmen und interessanten Erfahrung. Für Mütter wiederum sind diese Situationen aufgrund ihrer Überzeugung erstrebenswert, dass wechselseitiger Blickkontakt und Austausch das Beste für ihr Kind sei. Wenn diese Überzeugungen über das „richtige“ und angemessene Verhalten gegenüber dem eigenen Kind andere sind, sollte sich das in einem anderen – im Falle der Nso Mütter kontinuierlichen – Entwicklungsverlauf niederschlagen. Stellt man sich die Frage, welche Verhaltens- und Interaktionsweisen sich bei den Nso als einem prototypischen Beispiel für einen relationalen soziokulturellen Kontext in diesem Alterbereich entwickeln, sollte man wahrscheinlich jenseits des wechselseitigen Blickkontakts in Entwicklungsbereichen suchen, die einen zentralen Stellenwert bei den Nso einnehmen, wie zum Beispiel Affektregulation und Vorformen von angemessenem Verhalten und Respekt.

 

Implikationen für die Praxis

Die Befunde dieser Untersuchung haben Implikationen für Mutter-Kind Beratungsstellen und alle Berater und Therapeuten, die sich auf den Bereich früher Mutter-Kind-Interaktionen spezialisiert haben. Die Befunde legen nahe, dass zentrale kulturelle Werte und Normen, die bestehenden Beratungs- und Interventionsprogrammen implizit sind, hinsichtlich der Kompatibilität mit und der Angemessenheit in Bezug auf den kulturellen Hintergrund der Klienten überprüft werden sollten.

 

Veröffentlichungen

  • Kärtner, J., Keller, H., & Yovsi, R. (2010). Mother-infant interaction during the first three months: The emergence of culture-specific contingency patterns. Child Development, 81(2), 540-554.
     
  • Keller, H., Otto, H., Lamm, B., Yovsi, R., & Kärtner, J. (2008). The timing of verbal/vocal communications between mothers and their infants: A longitudinal cross-cultural comparison. Infant Behavior & Development, 31(2), 217-226.

Projektdetails

Projektart:Forschungsprojekt
Träger:nifbe-Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur
Straße:Artilleriestraße 34
Ort:49069 Osnabrück