Im vergangenen Jahr haben wir in der Forschungsstelle Begabungsförderung im nifbe eine Studie zu den Positionen von Erzieherinnen und Erziehern zu individueller Förderung durchgeführt. Unser Untersuchungsinteresse ergab sich aus der in der Forschungsstelle vorherrschenden Grundorientierung, Verschiedenheit als Bereicherung und Chance zu begreifen. Individuelle Förderung gilt uns hier als geeignete Möglichkeit zur Begabungsförderung. Außerdem lässt sich unter diesem Aspekt an die aktuelle bildungspolitische Debatte anschließen. Mit der Untersuchung wollen wir einen Beitrag leisten zur besseren Verknüpfung von Praxiswissen und Theorie.
Ausgangspunkt unserer Untersuchung war die Vorannahme, dass nur das an individueller Förderung in der Praxis auch gemacht wird, was als Konstrukt in den Köpfen der PädagogInnen vorhanden ist. Für die Studie haben wir eine niedersachsenweite Online–Befragung durchgeführt; diese hat uns statistisch aufschlussreiche Daten geliefert. Zur Vertiefung und Erweiterung der Ergebnisse haben wir ausführliche persönliche Interviews mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus mehr als 30 Kindertageseinrichtungen geführt. Eine Gruppendiskussion als weiteres Erhebungsinstrument steht noch aus.
Knapp 700 PädagogInnen, zumeist Kitaleitungen, haben den umfangreichen Fragebogen online ausgefüllt. Dabei handelte es sich beinahe ausschließlich um Frauen, die über eine langjährige Berufserfahrung von durchschnittlich 21,6 Jahren verfügen. Die Einrichtungen, die durch sie vertreten sind, verteilen sich über ganz Niedersachsen und befinden sich in unterschiedlicher Trägerschaft (in nennenswerten Anteilen: Kommunen, evangelische Kirche, katholische Kirche, DRK, Vereine, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Elterninitiativen). Zu 95% wird in den Einrichtungen mit altersgemischten Gruppen gearbeitet, die zumeist von zwei Fachkräften betreut werden. Mehr als die Hälfte der Einrichtungen haben halboffene Gruppen. Überwiegend wird nach dem Situationsansatz, dem entwicklungsgemäßen Ansatz oder Mischformen verschiedener Ansätze gearbeitet. Aber auch Reggio-, Montessori- und WaldorfpädagogikWaldorfpädagogik|||||Die Waldorfpädagogik wird der Reformpädagogik zugeordnet und wurde von Rudolf Steiner begründet (1861–1925). Seine Pädagogik basiert auf einer von ihm entwickelten Menschenkunde, die spirituelle Weltanschauung, fernöstlicher Lehren sowie naturwissenschaftlichen Erkenntnisse benhaltet. In Waldorfkindergärten sollen ErzieherInnen den Kindern durch Tun und schaffen ein Vorbild geben. Naturmaterialien sind häufig Bestandteil der Einrichtung und dienen als Lern- und Spielanreiz. sowie Waldkindergärten sind in der Online-Befragung genannt worden. Die persönlichen Interviews wurden mit MitarbeiterInnen aus Kindertageseinrichtungen an verschiedenen Orten Niedersachsens geführt, wobei auf eine große Variation an Trägern, Gruppenstruktur, Gruppenzusammensetzung und methodischen Ansätzen geachtet wurde. Hinsichtlich des Hintergrunds der Befragten vor allem in den persönlichen Interviews aber auch der Online–Befragung kann zusammenfassend festgehalten werden, dass es sich um engagierte PädagogInnen handelt, die sich den gewachsenen Anforderungen des Arbeitsalltags mit Ideenreichtum und persönlichem Einsatz stellen. Wir scheinen diejenigen erreicht zu haben, die – beziehungsweise deren Einrichtungen – sich auf dem Weg zu einer modernen elementarpädagogischen Bildungseinrichtung befinden und die in der Tendenz produktiv mit den gestiegenen Anforderungen umzugehen verstehen.
Als ein zentrales Ergebnis der Studie ist herauszustellen, dass individuelle Förderung als pädagogische Haltung in den Kindertagesstätten weit verbreitet ist; der Blick ist auf das einzelne Kind gerichtet. So steht ein großer Anteil der TeilnehmerInnen der Online–Befragung der individuellen Förderung positiv gegenüber. Sie verstehen individuelle Förderung als Beitrag zur Förderung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Und in den persönlichen Interviews wird das Anliegen der Erzieherinnen deutlich, von den ganz eigenen Fähigkeiten des Kindes ausgehend, die Selbständigkeit eines jeden Kindes zu unterstützen, es in seiner Eigenart anzuerkennen und auf entsprechende Weise zu begleiten. Die professionelle Sicht der Fachkräfte auf das einzelne Kind erlaubt es ihnen, den individuellen Entwicklungsverlauf der Kinder differenziert zu betrachten. Diese Sicht führt zu einer elementarpädagogischen Arbeit, in der die Fachkraft zur Entwicklungsbegleiterin wird.
Die im niedersächsischen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich geforderte strukturierte Beobachtung gehört ganz selbstverständlich zum Arbeitsalltag und findet auf vielfältige Weise statt. Die Ergebnisse der Online-Befragung belegen, dass ebenso standardisierte Verfahren und Bögen genutzt werden wie eigens erstellte Methoden, oftmals auch beides nebeneinander. Auffallend ist, dass die eingesetzten standardisierten Beobachtungsbögen eher defizitorientiert sind. Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass ressourcenorientierte Beobachtungsverfahren auch deutlich weniger vorhanden und zumeist aufwendiger in der Handhabung sind als defizitorientierte Verfahren. Die Auswertung der persönlichen Interviews deutet darauf hin, dass die Ergebnisse aus standardisierten Beobachtungsbögen nur sehr eingeschränkt, z.B. für Elterngespräche, verwendet werden, während frei formulierte Erkenntnisse aus Beobachtungen wesentlich stärker handlungsleitend für die alltägliche Arbeit sind. Die beiden Beobachtungsformen scheinen oft noch unverbunden nebeneinander zu stehen. Deshalb wird das Ausfüllen der standardisierten Bögen mitunter als Belastung empfunden. Würde es gelingen, diese als Ergänzung der zum Teil unstrukturierten eigenen Beobachtungsformen einzusetzen, könnten sie eher als Bereicherung und Stütze für die Planung der pädagogischen Förderung des Kindes angesehen werden.
Als weiteres Ergebnis zeigen sich im Hinblick auf die – heute gesetzlich geforderte – Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule vor Ort interessante Widersprüche. Zunächst einmal lässt die Online-Befragung erkennen, dass es eine Vielzahl von Aktivitäten gibt, mit denen der gesetzliche Auftrag zur Zusammenarbeit in vielen Einrichtungen beantwortet wird. Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass es sich dabei häufig um Einzelaktionen für oder mit den angehenden Schulkindern handelt. Die Auswertung der persönlichen Interviews mit den Erzieherinnen deutet jedoch darauf hin, dass es trotz dieser Aktivitäten noch sehr wenig Annäherung im Hinblick auf ein gemeinsames Verständnis von Schulfähigkeit und Anforderungen an eine gelungene Schulvorbereitung gibt. So wird deutlich, dass den Fachkräften in den Kindertageseinrichtungen eher die Stärkung der Gesamtpersönlichkeit ein zentrales Anliegen ist, während sie in der Zusammenarbeit mit Lehrkräften immer wieder erleben, dass unterrichtsrelevante Einzelfertigkeiten hier von wesentlich entscheidenderer Bedeutung zu sein scheinen.