Erfahrungen und erste politische Fragen

Überlegungen zur Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung eines politischen Denkens

Inhaltsverzeichnis

  1. Politisches Denken in Früher Kindheit - ein herausforderndes Thema
  2. Partizipation als gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Lebensform
  3. Partizipation als geteilte Erfahrung von Lebenssituationen
  4. Lebenssituationen der Kindheit in der Erinnerung
  5. Ausblickende Schlussfolgerungen
  6. Literaturverzeichnis

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Ausblickende Schlussfolgerungen

Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit in Kitas

Was könnten Erfahrungen der frühen Kindheit für die pädagogische Arbeit mit Kindern bedeuten? Ich nehme die Interpretation des Zitats von John Dewey zu Beginn meines Vortrags wieder auf: „Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsam und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 1964, S. 121). Demokratie könnte heißen, eine demokratische Lebensform zu praktizieren und alltäglich zu erfahren – und zugleich, Möglichkeiten des Teilens von Erfahrungen der eigenen Lebenssituation zu gewinnen, die immer schon politisch bestimmt ist.

Die erinnerten Geschichten spiegeln, wie sehr Kindheit durch die jeweilige konkrete Umgebung und die jeweiligen historischen Denk- und Handlungsweisen mitbestimmt wird. Erfahrungen von Kindern können sich gar nicht außerhalb dieser immer politisch mitbestimmten Lebenswelt abspielen. Die Erinnerungen zeugen von der Übernahme der Strukturen ihrer Lebenswelt durch Kinder, zugleich aber auch von den Irritationen und Widersprüchen, die schon als Kind wahrgenommen werden.

Heute findet ein großer Teil früher Kindheit nicht mehr in der Familie, der Nachbarschaft oder auch der Öffentlichkeit, z.B. auf der Straße, sondern in Kindertageseinrichtungen statt. Gerade darin liegt die besondere Verantwortung von Kitas. Für ihre pädagogische Arbeit könnten die Erzählungen zur Folge haben, dass Kitas als Orte zu denken sind,
  • in denen sich Gewohnheiten ausbilden – des Miteinanderlebens, der Entscheidungsfindung, der Sichtweise auf Menschen mit ihren jeweiligen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen,
  • und in denen Erfahrungen geteilt werden können, die Kinder ausdrücken, vielleicht in Bildern, in Rollenspielen (Gift), in Geschichten, die sie erzählen oder die ihnen erzählt werden.
Es stellt sich die Frage, wie diese Gewohnheiten sein sollen und wie die Themen von Kindern wahrgenommen, aufgenommen, ernst genommen und nicht überdeckt werden können. Hierzu möchte ich mit drei offenen Gedanken den Vortrag abschließen:

  • Erster Gedanke: Kinder lernen in ihrem Alltag, die Gewohnheiten und Einstellungen, die ihre Umgebung bestimmen, zu ihrer Gewohnheit zu machen. Das geschieht in vielen alltäglichen Dialogen und Konflikten – nicht in denen, die sich besonders herausheben, sondern besonders in denen, wo es um die alltäglichsten Dinge geht. Für die Kita könnte sich die Frage stellen: Welche Gewohnheiten, welche alltäglichen Erfahrungen sollen unseren Alltag bestimmen. Hierauf zielte der erste Teil meines Vortrags. Pädagogische Konzepte demokratischer Bildung machen zum Thema, dass es in der Kita Gewohnheit werden kann, einen Alltag als eine partizipative gemeinsame Lebensform zu gestalten. Das bedeutet, die Fragen, Wünsche, Empfindungen, Gedanken von Kindern in ihrer Eigenart und DiversitätDiversität|||||siehe Diversity wahrzunehmen und anzuerkennen, sprich Kindern, mit Freinet gesprochen, das Wort zu geben. Eine solche Lebensform äußert sich vielleicht weniger in besonderen politischen Gremien als in der zum Alltag gewordenen partizipativen Interaktion mit Kindern.
  • Zweiter Gedanke: Mit „Demokratie“ geht es nicht nur um demokratische Umgangsformen, Partizipation, Kinderkonferenz oder dialogische Mitwirkung von Kindern in Alltagssituationen – sondern es geht um Inhalte, um Fragen, mitgeteilte Erfahrungen, Erzählungen, die Kinder im Kontext ihrer ganz verschiedenen und gemeinsamen Lebenssituationen zum Ausdruck bringen. In Kitas kommen Kinder zusammen mit Erfahrungen sozialer Ungleichheit, Erfahrungen von Flucht, Erfahrungen von Ausgrenzung, aktuell Erfahrungen von Corona, etc. – wo „stolpern“ Fachkräfte über Äußerungen der Kinder, die solche Erfahrungen betreffen. Wie wird es möglich, sie wahrzunehmen und wie wird es möglich, ihnen Raum zu geben? In der Vorbereitungsgruppe von Studierenden und mir zu diesem Vortrag überlegten wir, wie lassen sich Erzählungen, Eindrücke von Kindern „in der Schwebe halten“, sprich nicht gleich mit Erklärungen überdecken? Wie lässt sich gemeinsam fragend auf Kinder antworten, wenn sie eine Geschichte erzählen?
  • Dritter Gedanke: Es könnte sich lohnen, sich der politischen Dimension des Situationsansatzes zu erinnern. Kinder zeigen in Schlüsselsituationen, dass sie von politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen betroffen sind – z.B. aktuell in der Corona-Pandemie. Die Idee des Situationsansatzes ist, solche Schlüsselsituationen für eine offene Projektplanung zum Anlass zu nehmen. Schlüsselsituationen sind solche, die beispielhaft für die Lebenssituation von Kindern in einer Kita stehen. Sie sind gerade nicht irgendwelche beliebigen Themen, sondern Ereignisse, die für die Kinder von Belang sind.

Demokratie, so könnte man abschließend mit den schwedischen und englischen Pädagog*innen, Gunilla Dahlberg, Peter Moss und Mathias Urban fassen, beinhaltet sicher die Idee, auf möglichst vernünftige, rationale Weise einen Konsens darüber zu finden, wie man miteinander leben will (vgl. Dahlberg und Moss 2008). Mit Demokratie verbindet sich aber noch mehr der Versuch, das, was die eigene Erfahrung bestimmt, immer wieder neu zu begreifen, sprich offen zu werden dafür, neue, bisher fremde, andere Blickwinkel und Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Dahlberg und Moss knüpfen an die Reggiopädagogik und die berühmte, häufig etwas romantisierte Metapher der hundert Sprachen der Kinder an – sie wollen damit ausdrücken, dass Kitas demokratische Orte sein können, an denen mit Erfahrungen „experimentiert“, das heißt Wirklichkeit neu wahrgenommen wird, gerade indem die vielen Ideen, Eindrücke, Geschichten, Theorien, die Kinder mit ihren Erfahrungen verknüpfen, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen finden können (vgl. Moss und Urban 2010, 28; 30).




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