Das Eigene und das Fremde

Ein Essay

"Je est un autre!" / „Ich ist ein Anderer!“ (Arthur Rimbaud)

Seit einigen Jahren drohen sich unsere westlich-liberalen Gesellschaften in Europa und den USA zwischen den Polen Toleranz und Offenheit auf der einen Seite sowie Ausgrenzung und Rassismus auf der anderen Seite aufzuspalten. Immer stärker werden rechtsextremistische und identitäre Bewegungen und in Deutschland sahen laut einer repräsentativen Umfrage aus dem September 2019 53 Prozent der Bevölkerung die Demokratie in Gefahr (YouGov 2019). Die größte Bedrohung der Demokratie geht für eine Mehrheit der Befragten dabei von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten (47 bzw. 22 Prozent) aus.

Der ganz unterschiedliche Umgang mit einer immer weiter zunehmenden individuellen, sozialen und kulturellen Vielfalt in unserer Gesellschaft und im Mikrokosmos der Kita führt uns unweigerlich zu einem urmenschlichen Thema: das Eigene und das Fremde. Wie zeigt sich mir das Fremde? Wie gehe ich damit um, und was stößt bei mir auf Ablehnung oder gar aggressive Reaktion? Und was ist im Gegensatz dazu eigentlich das vertraute Eigene? Was zunächst vielleicht einfach zu beantworten scheint, zeigt sich bei folgender näherer Betrachtung als ein oszillierendes Phänomen, in das sowohl evolutionsbiologische wie auch psychologische, philosophische und soziologische Aspekte hineinfließen.

"Fremd ist nur, was als solches erlebt wird"

„Fremd ist nur, was als solches erlebt wird. Nichts ist aus sich heraus und notwendig fremd“ schreibt der Historiker und Religionsphilosoph Johannes Heil in einem Beitrag zur „Normalität eines scheinbaren Problemzustandes“. Und der Philosoph Bernhard Waldenfels, der sich in seinem Werk zentral mit den Topoi des Fremden und des Eigenen beschäftig hat, unterscheidet grundsätzlich drei verschiedene Dimensionen der Fremdheit, nämlich „der Fremdheit meiner selbst, der Fremdheit des Anderen und der Fremdheit einer anderen Ordnung“ – mit der Fremdheit einer anderen „Ordnung“ kann dabei eine andere Kultur, eine andere Gesellschafts- oder auch Wirtschaftsform gemeint sein.
Spätestens seit Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) und Sigmund Freud (1856 bis 1939) wissen wir, dass das Bewusstsein des Menschen nur die Spitze eines Eisberges ist und dass der größte Teil der psychischen Prozesse sich sozusagen unter Wasser im Unbewussten abspielt. Und so lauert im menschlichen Unterbewusstsein auch heute noch immer der Urzeitmensch, der bei Gefahr und Bedrohung nur darauf wartet mit seiner großen Keule zuschlagen zu können. Und in jedem von uns steckt die Angst vor dem Fremden, und es braucht eine Menge Energie, um mit ihr konstruktiv umgehen zu können.

"Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht"

Kulturgeschichtlich hat sich gezeigt, dass Gemeinschaften und Gesellschaften sich nur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden weiter entwickeln können. „Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht“ schreibt der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim entsprechend. Andernfalls drohen Stillstand und sogar Rückschritt.

Die vormoderne Welt war in weiten Teilen ganz selbstverständlich auf das Fremde in Form von Austausch, Begegnung und Vermittlung angewiesen. Im römischen Imperium verwandelten sich viele Völker die römische Lebensweise beispielsweise vollständig an (Assimilation) oder verschmolzen sie mit der eigenen Kultur (Akkulturation). Auch in den Dörfern und Städten des Mittelalters waren die Fremden als Gaukler, Pilger, Reisende, Geschäftsleute, Tagelöhner oder Kriegsflüchtlinge allgegenwärtig.

Für das 18. Jahrhundert hat jüngst Olga Tokarczuk in ihrem mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Roman „Jakobs Bücher“ eine Welt der kulturellen und religiösen Lebensvielfalt von Polen bis zum Osmanischen Reich nachgezeichnet. Ihr Held ist ein Wanderer zwischen diesen Welten, der ihre ganz verschiedene Facetten zu einem prophetischen Weltbild verschmilzt und ein Loblied auf die Fremdheit singt: „Nur der Fremde versteht die Welt“, denn „wer fremd ist, gewinnt einen neuen Standpunkt, er wird, ob er will oder nicht, ein wahrer Weiser“. Ganz in diesem Sinne schreibt auch Bernhard Waldenfels:

„Fremdes begegnet uns zunächst in Form einer Fremderfahrung, die dem Erkennen, Verstehen und auch dem Anerkennen des Fremden vorausgeht. Dabei handelt es sich um affektiv getönte Widerfahrnisse wie das Erstaunen und Erschrecken, um Störungen, die den gewohnten Gang der Dinge unterbrechen, um Anomalien, die von der Normalität abweichen. Fremdes affiziert uns, bevor wir zustimmend oder ablehnend darauf zugehen. Es gleicht einem Einfall, der unvermutet, auch ungelegen kommt. Wenn Platon die Philosophie mit dem Staunen beginnen lässt, so besagt dies, dass unser Denken anderswo, in der Fremde beginnt.“

Mit der zunehmenden Entwicklung von Nationalstaaten am Ende des 18. Jahrhunderts (Französische Revolution, nordamerikanische Unabhängigkeitserklärung) wandelten sich auch allmählich die Begriffe des Eigenen und des Fremden Jetzt fühlte man sich zunehmend als „Deutscher“, „Franzose“ oder „Engländer“ und grenzte sich von anderen Nationalitäten ab. Spätestens mit dem Nationalsozialismus bekamen die Begriffe des Eigenen und des Fremden eine völkische „Blut- und- Boden-Note“. Auch heute schwingt diese „Blut-und-Boden-Note“ bei vielen rechtsextremen und identitären Bewegungen hierzulande mit – und das obwohl, wie Ulrich Greiner in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ausführt, damit nicht nur bestialische Verbrechen verbunden sind, sondern auch obwohl „die deutsche Bevölkerung zu keiner Zeit in diesem Sinn homogen gewesen ist“.

Dass auch der einzelne Mensch in seiner Persönlichkeit und seinem Charakter alles andere als homogen und beständig ist, das hat lange Zeit vor Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud der Renaissance-Philosoph Michel de Montaigne (1533 bis 1592) beschrieben. Er erweist sich damit als Meister der Introspektion, der inneren Wesensschau:

„Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen. Schamhaft und unverschämt; keusch und geil; geschwätzig und schweigsam; tatkräftig und zimperlich; geistreich und blöde; mürrisch und leutselig; lügnerisch und wahrhaftig; kenntnisreich und unwissend, freigiebig und geizig und verschwenderisch, von alldem finde ich etwas in mir, je nachdem ich mich drehe. Ich habe von mir selbst nichts Ganzes, Einheitliches und Festes, ohne Verworrenheit und in einem Gusse auszusagen. Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, dass jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Und es findet sich ebenso viel Verschiedenheit zwischen uns und uns selber wie zwischen uns und anderen.“

Transformation von persönlichen oder sozialen Ängsten in die Angst vor dem Fremden

Wie wir sehen, ist es mit dem Eigenen und dem Fremden also eine durchaus verzwickte Sache, und das Eigene und das Fremde sind in dialektischer Weise eng miteinander verbunden. Wie der Soziologie und Sozialpsychologe Rolf Pohl bemerkt, entsteht Fremdenfeindlichkeit auch gar nicht primär im direkten Kontakt mit dem Fremden, „sondern durch eine sehr komplizierten Prozess der Umwandlung von bestimmten eigenen Anteilen, die man als ‚fremd‘ erfährt, wahrnimmt und empfindet“. Dies bedeutet, dass Rassismus und Ausgrenzung jeder Art, wie zum Beispiel Schwulenfeindlichkeit, oftmals aus der Abwehr eigener, als nicht zugehörig oder statthaft empfundener Persönlichkeitsbestandteile entstehen kann. Im Zentrum der Ursachen stehen aber immer, so Pohl weiter, „persönliche und soziale Ängste, die transformiert werden in die Angst vor Fremden.“ Die aggressive Ausgrenzung des vermeintlich Fremden in seinen verschiedenen Dimensionen resultiert damit zuallererst aus einer tiefen eigenen Verunsicherung und Orientierungssuche. Diese hängt ohne Zweifel auch eng zusammen mit einer umfassenden gesellschaftlichen Deregulierung und Liberalisierung. Hier wächst bei vielen Menschen die Angst, wirtschaftlich und auch kulturell abgehängt zu werden und zu den Modernisierungsverlierern zu gehören.

Dem Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster greifen diese sozialpsychologischen Erklärungsansätze allerdings zu kurz. Er nimmt einen für unsere Arbeitszusammenhänge zentralen entwicklungspsychologischen Aspekt in den Fokus. Demnach haben die später für Rechtsextremismus, Rassismus und autoritäre Neigungen anfälligen Menschen in ihrer Kindheit keine „innere Heimat“ gefunden und „Die Sicherung, die sie innerlich nicht erfahren haben, suchen sie dann im Äußeren. Sie sind verletzlich.“ Die klare Botschaft von Renz-Polster lautet daher: „Wir müssen alles tun, um die Kindheiten zu stärken. In den Familien und in den Einrichtungen. Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit, das sollte dort immer wieder neu geschaffen, zusammengefügt und gegen die Ökonomisierung des Lebens verteidigt werden.“

Sichere innere Heimat finden

Eine sichere „innere Heimat“ ist ohne Zweifel ein guter Schutz gegen die Verführungen des Extremismus. Doch was kann uns in einer globalisierten Welt eine „äußere Heimat“ und den Werte-Kitt für den Zusammenhalt der Gesellschaft bieten? Wie kann es, so fragt auch Bernhard Waldenfels, uns gelingen, „den Spalt zwischen Eigenem und Fremdem zu überbrücken durch Teilhabe an einem Ganzen“? Die Versuche, dieses Gemeinsame durch eine nationale „Leitkultur“ zu bestimmen sind in den letzten Jahren immer wieder gescheitert und erscheinen angesichts der zusammen gewachsenen Welt auch anachronistisch.

Ein tragfähiges gemeinsames Werte-Fundament für alle Menschen unabhängig von Nation, Kultur und Religion ist aber schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt worden: Es sind die im UN-Menschenrechtsabkommen formulierten Grundsätze, dem auch die Grundrechte in unserem deutschen Grundgesetz entsprechen. In Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen steht ein ebenso schlichter wie schöner und optimistischer Doppelsatz, der uns im Umgang mit der Vielfalt und dem Verhältnis von Eigenem und Fremden eine goldene Richtschnur vorgibt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Hieran gilt es konsequent anzuknüpfen.

Literatur


Der Beitrag ist in leicht gekürzter Form zuerst erschienen in
TPS 1-2021, S. 40-42


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