Geschlechtersensible Pädagogik

Geschlechtersensible Pädagogik möchte Kinder – jenseits von Geschlechterklischees – in ihrer individuellen Entwicklung fördern. Die Umsetzung in der Praxis setzt eine Selbstreflexion der Fachkräfte und des Bildungsangebots voraus.

Geschlechter, Geschlechterbilder und -klischees

Geschlechterzuschreibungen finden sich in der täglichen Interaktion. Der Begriff ‚Geschlecht‘ scheint im ersten Augenblick eindeutig zu sein: es wird davon ausgegangen, dass Babys mit dem Geschlecht Junge oder Mädchen zur Welt kommen und sich im Laufe ihres Lebens zu Männern und Frauen entwickeln und auch so fühlen. Da die primären Geschlechtsmerkmale im Alltag bedeckt sind, erfolgt die Zuschreibung über sichtbare Merkmale (1). Dabei kommen oft Stereotype auf (z. B. Jungen haben kurze Haare, spielen Fußball, sind laut und wild; Mädchen haben lange Haare, basteln gern und sind ruhig) (2). Geschlechtersymbole und -stereotype zeigen sich in allen Lebensbereichen und haben einen großen Einfluss auf die Geschlechtsidentitätsentwicklung . Wir leben in einer Kultur, in der Symbole, Strukturen, Spielmaterialien und Gefühlsäußerungen fast ausschließlich männlich oder weiblich konnotiert sind. Damit einher gehen spezifische Rollenerwartungen (2,3). Durch die allgegenwärtige Präsenz dieser Geschlechterbilder orientieren sich Kinder daran (2).

Kinder, die sich nicht typisch weiblich oder männlich fühlen und verhalten oder gar das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht ablehnen sowie intergeschlechtliche Kinder, die sich weder als Mädchen noch als Junge fühlen oder gesehen werden, geraten dabei in Bedrängnis. Auch wenn Eltern ihre Kinder nicht geschlechtertypisch erziehen wollen oder auch pädagogische Fachkräfte eine geschlechtsunabhängige Gleichbehandlung von Kindern anstreben, zeigen Studien, dass es eine große (oft unbewusste) Orientierung an klassischen Geschlechterbildern gibt (3). Pädagogische Fachkräfte verstärken dies oft, bspw. durch geschlechtsspezifische Unterscheidungen im Bewegungsverhalten (Jungen brauchen mehr Bewegung, müssen sich auspowern, das ist zu wild für Mädchen) (4). Die Vorstellungen über ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ beeinflussen häufig unbewusst und unreflektiert die Wahrnehmung und den Umgang mit Kindern und verfälschen ihr Verhalten (5) . Kinder geben sich dann geschlechterstereotyp, obgleich es ihnen vielleicht gar nicht entspricht, denn das geschlechtliche Erscheinungsbild muss nicht immer der (späteren) Geschlechtsidentität entsprechen.

‚doing gender‘ – Kinder ‚tun‘ ihr Geschlecht

Im Englischen wird zwischen ‚sex‘ (als biologisches Geschlecht) und ‚gender‘ (soziales, gefühltes Geschlecht) unterschieden (1). Im Begriff Gender finden sich das dargestellte und/oder gefühlte Geschlecht, aber auch von außen zugeschriebene Rollenvorstellungen. Der Begriff ‚doing gender‘ beschreibt den sozialen Prozess, in welchem sich Kinder bewegen und ihr Geschlecht ausleben. Kinder achten auf die Reaktionen ihrer Umwelt und probieren aus, welche Verhaltensweisen ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten entsprechen und wie darauf reagiert wird.

Geschlechtersensible Pädagogik

Hier wird die Bedeutung geschlechtersensibler Pädagogik deutlich: Kinder benötigen die Möglichkeit, sich so auszuleben wie es ihren Bedürfnissen entspricht und nicht wie es gesellschaftlich erwartet wird. Spielräume in der Identitätsentwicklung und Alternativen zu einer binären, also nur an zwei Geschlechtern orientierten Geschlechtersymbolik, ermöglichen eine individuelle Entfaltung und haben einen positiven Einfluss auf ihre Entwicklung (3). In der Praxis zeigt sich, dass Mädchen mehr Komplimente bezüglich ihres Aussehens bekommen, Jungen hingegen für ihre Stärke. Geschlechterkonforme Spiele werden von pädagogischen Fachkräften eher unterstützt als geschlechteruntypische usw. (2) Durch eine geschlechtersensible Pädagogik kann der Verstärkung und Verursachung sozialer Probleme und Aufrechterhaltung ungleicher Chancen entgegengewirkt werden (5). Da die Geschlechterstereotype fest verankert sind, können besonders die ersten bewussten Schritte hin zu geschlechtersensibler Arbeit als ungewohnt und häufig sehr herausfordernd wahrgenommen werden. Es gibt nicht die eine gender- oder geschlechtersensible Pädagogik, sie beschreibt eher die innere Haltung der pädagogischen Fachkräfte (2). Die Kinder sollten als Angehörige ihrer Geschlechtergruppe, aber auch in ihrer Individualität, mit ihren Stärken und Interessen gesehen werden (3). Und gerade in dieser doppelten Blickrichtung liegt eine Schwierigkeit: denn einerseits sollen die individuellen Unterschiede wahrgenommen werden und andererseits geschlechtstypische Muster und Strukturen erkannt werden. Es entsteht ein Balanceakt zwischen Banalisierung und Dramatisierung. Außerdem sollte das Geschlecht nur als ein Merkmal der Lebenswelt von Kindern gesehen werden. Andere Kategorien wie Alter, Kultur, Ethnie, Schicht beeinflussen die Kinder ebenso (6).

Im Bundesprogramm KiTa-Einstieg soll deshalb berücksichtigt werden, dass z. B. auch der kulturelle Einfluss die Geschlechterbilder betrifft. Geschlechterbewusste Pädagogik sollte nicht als Zusatz-, sondern als Querschnittsaufgabe gesehen werden, die in allen Bereichen der Kindertagesbetreuung wichtig ist (6).

Konsequenzen für pädagogisches Handeln

Das Bildungsangebot der Kindertageseinrichtungen sollte mit einer geschlechterbewussten Brille betrachtet werden: In welchen Spielbereichen spielen die Kinder? Welche Angebote werden von wem aufgegriffen? Wie berücksichtigen die Fachkräfte eines Angebots typisch ‚weibliche‘/‚männliche‘ Themen? Wo gibt es Ausnahmen, abweichendes Verhalten oder Überraschungen? Wie viele Männer, Frauen oder Personen, die sich keinem Geschlecht zuordnen, arbeiten in der Einrichtung? Wie wird wer einbezogen und beteiligt? (6) Einen wichtigen Teil in der pädagogischen Arbeit nimmt zudem die Selbstreflexion der Fachkräfte ein. Die Reflexionsfragen können sich die Fachkräfte selbst stellen oder im Rahmen von Teamsitzungen oder Supervision thematisieren.



Selbstreflexionsfragen für pädagogische Fachkräfte (5,4):
  • Welche Bilder und Rollenvorstellungen habe ich von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern?
  • Was ist für mich ‚typisch weiblich‘ und ‚typisch männlich‘?
  • Ermuntere ich Mädchen in ähnlicher Weise zu bewegungsintensivem Verhalten wie Jungen und andersrum?
  • Welches Bewegungsbedürfnis und -verhalten verkörpere ich selbst gegenüber den Kindern?



Literaturhinweise

(1) Kubandt, M. & Meyer, S. (2012). Gender im Feld der frühen Kindheit (nifbe-Themenheft Nr. 9). Osnabrück. https://www.nifbe.de/images/nifbe/Infoservice/Downloads/ Themenhefte/Gender_online.pdf

(2) Hubrig, S. (2019). Geschlechtersensibles Arbeiten in der Kita. Weinheim: Beltz.

(3) Focks, P. (2016). Geschlechterbewusste Pädagogik in der Kindheit. frühe Kindheit, 19 (04), 36-43.

(4) Hunger, I & Zimmer, R. (2012). Jungen dürfen wild sein – Mädchen auch? Einflüsse auf geschlechtsspezifisches Bewegungsverhalten. Kindergarten heute, 42 (08), 8-12.

(5) Haug-Schnabel, G. & Bensel, J. (2017). Grundlagen der Entwicklungspsychologie: die ersten 10 Lebensjahre. Freiburg: Herder.

(6) Rohrmann, T. (2017). Geschlechtsbewusste Pädagogik – eine Gratwanderung. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (S. 93-106). Freiburg: Herder.


Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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