Die Klangspuren der Kinder

Musik in der Kita

Musik kann mehr: als vielfältige Ausdrucksweise weckt sie Emotionen und schafft Verbindungen, wo Worte längst an ihre Grenzen kommen. Wie können Klangräume und musikalische Interaktion in der Kita gestaltet werden? Im Interview mit Sybille Münnich (Redaktion klein&groß) beantwortet der Musik- und Tanzpädagoge Johannes Beck-Neckermann diese und weitere Fragen.


  • klein&groß: Begegnen Ihnen in Ihren Seminaren Erzieherinnen, die sagen: Ich bin unmusikalisch? Wenn ja, wie können Hemmschwellen abgebaut werden?

Johannes Beck-Neckermann: Ja, ich begegne vielen Teilnehmerinnen, die sich als unmusikalisch beschreiben. Wenn ich genau hinhöre, dann erzählen sie davon, dass andere gesagt haben: Du bist unmusikalisch. Und wer dann trotzdem zum Seminar kommt, gehört für mich zu den besonders Mutigen. Denn sie nehmen teil, obwohl ihr Selbstbild ihnen sagt, für dieses Thema nicht die Richtigen zu sein.
Ich kümmere mich nicht um die Frage nach musikalisch oder unmusikalisch. Vielleicht wäre dieses Thema wichtig, wenn man sich fragt, ob man als Rapperin, Gitarristin, Opernsängerin, Orchestermusikerin seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Vollkommen unwesentlich ist die Frage, wenn wir uns mit dem Ausdruckspotenzial von Menschen beschäftigen.
Mich interessiert die individuelle musikalische Ausdruckskraft und Ausdrucksfreude jedes einzelnen Kita-Kindes und jeder Erzieherin. Und wenn wir dann zu spielen beginnen, das Erleben in den Vordergrund rücken, das musikalische Produkt hören und wirken lassen, dann kann jeder Klatscher, jeder Seufzer, jedes Papierrascheln bedeutsame Erlebnisse erzeugen.
Musikalische Aktivität in einem so offenen Sinn ist grundsätzlich barrierefrei und benötigt keine Unterscheidung zwischen musikalisch begabt und unmusikalisch.

  • k&g: Welche Chance bietet musikalische Aktivität im Kita-Alltag?

Beck-Neckermann: Menschen als Ausdruckswesen ernst nehmen: musikalische Aktivitäten im Kita-Alltag erlauben uns, die Kinder, die Pädagoginnen und die Eltern als klingende Ausdruckswesen wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Wenn dies geschieht, dann können Kinder und Erwachsene ihr individuelles klangliches Ausdruckspotenzial entfalten und sich als Ausdruckswesen wirksam erleben.
Interaktionsmomente entfalten: Gemeinsame musikalische Aktivität erzeugt eine spezielle Form der Interaktion. Nonverbal wird dabei Kontakt gestaltet. Das Besondere daran: Wir handeln gemeinsam, entwickeln ein Verständnis für das, was die anderen tun, ohne dafür Worte zu benötigen. Wir singen oder trommeln und rasseln oder bespielen die Tischfläche miteinander und erleben dabei eine direkte unmittelbare Verbindung im Tun. Anders als bei gesprochener Sprache müssen wir nicht warten, bis der andere seinen Satz ausgesprochen hat. Nein, wir spielen gleichzeitig. Das erzeugt Flow-Erfahrungen, das schenkt emotionale Erlebnisse. Musikalische Aktivitäten im Kita-Alltag erlauben uns, uns in Verbindung mit anderen zu erleben. Es entstehen Erfahrungen von sich verstehen – ohne Worte.
Wohlbefinden nähren: Musik ist eine sehr emotionale Ausdrucksmöglichkeit. Wenn Klänge, Melodien, Rhythmen frei erzeugt werden dürfen, – wenn also die eigene Musik improvisiert und erfunden wird, dann wird dies von denen, die die Musik erzeugen, in der Regel positiv erlebt. Es klingt das, was im Moment klingen will. Selbst laute lärmende und schräg klingende Musik kann als wohltuend erlebt werden, wenn wir beim Zuhören eine Ahnung gewinnen, was diese Musik ausdrücken möchte. Sich mitteilen dürfen und damit gehört werden, ist in der Regel ein Erleben von Wirksamkeit. Das tut gut.

  • k&g: Anhand welcher drei Beispiele, können Sie die Umsetzung von Musik & Rhythmus im Kita-Alltag erklären?

Beck-Neckermann: 1. Alltägliche Klangspuren: Gelingt es mir bei Kindern hinzuhören, entdecke ich in jedem Moment und an jedem Ort musikalische Aktivität. Das gibt mir die Chance zu entscheiden: Wann lasse ich mich von den alltäglichen Geräusch- und Klangspuren der Kinder inspirieren? Wie rege ich weiteres musikalisches Erkunden damit an?
Beispielsweise Kinder beim Brettspiel: sie würfeln und ziehen mit ihren Spielfiguren weiter. Aus dem Geräusch der Spielfiguren auf dem Spielbrett können musikalische Experimente entstehen bzw. das Brettspiel selbst intensiviert werden, indem diese Figuren manchmal „leise schleichen“, „ärgerlich aufstampfen“, freudig hüpfen“, mal schnell, mal langsam, unregelmäßig und regelmäßig.
2. Musik explorieren und gestalten: Kindern bewusst musikalische Erfahrung anbieten. Beispielsweise ein Xylofon zur Verfügung stellen, einige Kastanien dazu. Nun können mit Fingern und Kastanien die einzelnen Klangstäbe des Xylofons zum Klingen gebracht werden. Dafür benötigt es keine Vorplanung. Es darf experimentiert werden. Kleine Improvisationen entstehen oder auch Kompositionen, indem geklärt wird, wer wann was spielt.
3. Kinder an musikalischer Tradition teilhaben lassen: Neben der musikalischen Ausdrucksbewegung, die jedem Menschen von Geburt an zur Verfügung steht, die spontan erklingt und exploriert werden kann, gibt es auch Musikstücke, Lieder und musikalische Formen, die im Lauf der Menschheitsgeschichte entwickelt wurden. An dieser Musik als Kulturgut können wir Kinder teilhaben lassen, indem wir Lieder singen, Musikinstrumente vorstellen, musikalische Werke aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen abspielen und indem wir uns selbst den Kindern zeigen, mit unseren eigenen musikalischen Vorlieben.
Für die Kinder ein Lied singen. Sie einladen mitzusingen. Den Kindern ein Musikstück vorspielen und sie einladen mit uns dazu zu tanzen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, diese Situationen so zu gestalten, dass Kinder an unserem ganz persönlichen Zugang zu musikalischer Tradition teilhaben können. Das ist mehr eine musikalische Umgebung gestalten als Musik lehren.

  • k&g: Können Sie die musikalische Entwicklung von Kindern kurz skizzieren? Oder kann man das nicht pauschalisieren?

Beck-Neckermann: Ein offener Begriff von musikalischer Aktivität, nach dem Musik entsteht, wenn akustische Phänomene die Aufmerksamkeit gewinnen, wenn hingehört wird und Geräusche und Klänge bewusst gestalten werden, benötigt – nach meiner Sicht – keine Konzepte über musikalische Entwicklungsschritte bei Kindern. Vielmehr ist es wichtig, dass wir Erwachsene unsere Wahrnehmung von Kindern verfeinern, um zu entdecken, wann und wobei Kinder musikalisch aktiv sind und welche Bedeutung dieser Moment für das Kind haben könnte. Gelingt es in solchen Momenten, mit dem Kind in Resonanz zu sein und mit ihm „mitzugehen“, seine Geräusch- und Klangerzeugung zu imitieren und mit kleinen Variationen anzureichern, dann entstehen musikalische Interaktionen, entlang der Interessen des Kindes und bezogen auf seine individuellen Fertigkeiten.

  • k&g: Wenn Sie Erzieherinnen ein Instrument mitgeben würden, wie würde das aussehen, sich anfühlen oder sich anhören?

Beck-Neckermann: Spannende Frage! Eigentlich würde ich gerne Erzieherinnen kein Musikinstrument „vor-geben“. Vielmehr würde ich sie gerne für einen Vormittag in einen Raum einladen, in dem viele Materialien und Gegenstände zur Verfügung stehen: Papier, Pappkisten, Holzlatten, Wäscheklammern, Steine, Kastanien, Siebe, Gießkannen, Tassen etc. Und dann würde ich jede unterstützen, aus diesen Materialien/ Gegenständen ein eigenes Schüttel-, Reibe, Schlaginstrument zu gestalten, das „die Welt so noch nicht gesehen hat“. Dahinter steht die Idee, Erzieherinnen halten ein persönliches Musikinstrument, ein Unikat in Händen, wenn sie Kinder beim Singen, bei Sprechversen begleiten, wenn sie das Erzählen von Geschichten untermalen und für Kinder Musik improvisieren.

  • Vielen Dank für das informative Gespräch!

Literatur

  • Beck-Neckermann, Johannes: polysonelle. Circle-songs für Kita, Grundschule, Gesangs- und andere Vereine. Klangsamboo, 2016
  • Beck-Neckermann, Johannes: Mit Kindern Musik entdecken. Bertelsmann Stiftung, 2014
  • MIKA-Konzept: Musik im Kita-Alltag. Bertelsmann Stiftung, 2017 Link: www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/mika-musik-im-kita-alltag-konzept/ (Stand: Februar 2018)
  • MIKA Konzept: Musik im Kita-Alltag. Beiträge zur Praxis auf Grundlage des MIKA-Konzeptes. Bertelsmann Stiftung, 2017 Link: www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/beitraege-zur-praxis-auf-grundlage-des-mika-konzepts/ (Stand: Februar 2018)

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus klein&groß 4-2018, S. 56-59




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