Praxisforschung im Dialog entwickeln

Widersprüchlich –chancenreich –unverzichtbar?

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"Praxisforschung in der Kindheitspädagogik braucht starke Partner auf beiden Seiten"


Ausgehend von dieser Prämisse trafen sich im Rahmen der Herbsttagung der Bundesarbeitsgemein-schaft für Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG-BEK) 2016 in Erfurt Vertreterinnen aus Hoch-schulen, Fachschulen, (außeruniversitären) Forschungsinstituten und Kita-Praxis zum Austausch von Erwartungen und Bedingungen sowie zu Chancen von Praxisforschung (vgl. Strehmel 2016). Folgender Artikel fasst die wesentlichen Ergebnisse zusammen und will ein erster Schritt sein, um Standards für partizipatorisch verstandene Praxisforschung in der Kindheitspädagogik zu entwickeln.

1) Konkrete Situation: zur Widersprüchlichkeit von Praxisforschung

Vor dem Hintergrund der Bologna-, Kopenhagen-und PISA-Entwicklungen führten neue Rahmenvereinbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) und die Verabschiedung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) zur Beschreibung von Qualifikationen und Lernergebnissen dazu, dass wissenschaftliche Forschungsstandards, die in Studiengängen zur Frühen Kindheit verankert sind, auch in variierter Form in die Ausbildung von Erzieher*innen aufgenommen wurden. Von Hochschulen wird erwartet, dem Forschungsauftrag nachzukommen und zusätzlich sind in allen Modulhandbüchern der Studiengänge und Curricula der fachschulischen Ausbildung die Kompetenzbereiche des forschenden Lernens und die Entwicklung eines forschenden Habitus der Studierenden verankert. Dies erfordert, dass Studierende Forschungsfragen aus der Praxis generieren oder aber eigene Fragestellungen mit-hilfe der pädagogischen Fachkräfte vor Ort entwickeln.

Gleichzeitig wird seitens zahlreicher pädagogischer Fachkräfte bestätigt, dass die „Kompetenz und Bereitschaft, sich forschend mit dem eigenen Handeln zu beschäftigen zu einem wichtigen Motor für Veränderungen – auch in der ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.   von Fachkräften*" werden kann (Durand/ Jooss-Weinbach 2015: 30; vgl. auch Remsperger-Kehm 2016: 9; Völkel et.al. 2014). Konkrete Erfahrungen aus der Kita-Praxis zeigen, dass sie wöchentlich mehrere Anfragen zur Mitarbeit im Rahmen von Forschungsfragen erreichen. „Die Flut an Fragebögen macht müde“, so eine Fachreferentin auf Ebene der Bundesländer. Diese Überfrachtung der Praxis durch Forschungsanfragen ist letztlich auch ein Abbild unterschiedlichster Projekte und Bemühungen innerhalb der Forschungslandschaft, die zwischen den Forschungsinstitutionen nicht abgestimmt sind.

Eindeutige Hindernisse auf Kita-Seite sind zeitliche Ressourcen, die eine Untersuchung beansprucht und Sorgen um die Freigabe persönlicher und teilweise auch sensibler Informationen, die verknüpft werden kann mit der Angst vor Überprüfung der eigenen pädagogischen Praxis, da u.a. oft unklar ist, was mit den Ergebnissen geschieht. Andererseits sind es aber auch die Praxiseinrichtungen, die einen Bedarf an Forschung anmelden (vgl. Durand/ Jooss-Weinbach 2015). So gibt es zahlreiche, zum Teil auf individuelle Bedarfe basierende Fragestellungen, die im Praxisalltag generiert werden und deren Beantwortung zur Verbesserung der aktuellen Praxissituation beitragen kann. Den unterschiedlichen Ansprüchen von Forschung und Praxis ist jedoch gemein, dass das Wohlergehen des Kindes den Mit-telpunkt der Arbeit bildet.

Neben den studien- bzw. ausbildungsbedingten Faktoren stehen die Forschungsinteressen der (ausbildenden) Akademiker, die ihrerseits auf die Gewinnung und Publikation von Forschungsergebnissen angewiesen sind, Drittmittel akquirieren müssen bzw. ihrem Berufsethos entsprechend mehr über die Zusammenhänge in der Kindheit wissen, erforschen und weiterentwickeln möchten. Damit verbunden ist gerade bei drittmittelfinanzierter Forschung der Druck, möglichst hohe Rücklaufquoten zu erreichen, bzw. positive Resonanz auf Interviewanfragen zu erhalten, denn nur so sind annähernd aussagekräftige oder repräsentative Daten zu generieren, die auch in entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht werden können. Erschwert wird der Forschungsprozess zusätzlich durch den häufigen Wunsch der Drittmittelgeber quantitative Daten (z.B. aus anonymen online-Befragungen) mit qualitativen Daten (z.B. aus persönlichen Interviews) zu kombinieren. Hierbei handelt es sich um sensible Daten, die im Erhebungs-sowie im Verwendungsprozess besonderen Umgang bedürfen.

Mit den skizzierten Entwicklungen wird die Herausforderung deutlich, sowohl den Anforderungen der frühpädagogischen Praxis, als auch der Forschungsgemeinschaft gerecht zu werden und somit nach-haltige, zufriedenstellende Praxisforschung zu gestalten.

In Tabelle 1 wird die aktuelle Perspektive auf Praxisforschung der frühpädagogischen Praxis und der Forschung zusammenfassend dargestellt.

Tabelle kopie
Tab. 1: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Blickrichtungen von Kita-Praxis und Kita-Forschung

Die zentrale Herausforderung, die im Mittelpunkt des Beitrages steht, lässt sich demnach zusammenfassend wie folgt beschreiben: Heterogene Bedürfnisse und Ansprüche stehen sich auf Hochschul-und Fachpraxisseite gegenüber, es können aber auch gemeinsame Ziele herausgearbeitet werden. Wie kann also die Zusammenarbeit von Praxis und Forschung so gelingen, dass das frühpädagogische Arbeitsfeld im Sinne qualitativ hochwertiger Weiterentwicklung der Fachpraxis und Erkenntnis bringender Theorieentwicklung gestaltet werden kann?

2) Formen von Zusammenarbeit zwischen Fachpraxis und Forschung: Chancen von Praxisforschung

Ausgehend von dem gemeinsamen Bedürfnis der weiteren Professionalisierung des frühpädagogi-schen Arbeitsfeldes (siehe Tab. 1), ist zu klären, wie die Bedarfe aus der Fachpraxis so formuliert wer-den können, dass eine Bearbeitung auf Basis wissenschaftlicher Standards möglich ist. Um das leisten zu können, müssen die Prinzipien der Forschung allen Beteiligten klar sein, so dass sie als gemein-samer Ausgangspunkt der Generierung sowie Bearbeitung von Fragen dienen können.
Mit Blick auf die gemeinsamen Ziele von Forschung und Fachpraxis müssen sich schlussfolgernd beide Seiten gewissen Aufgaben stellen, die es zukünftig umzusetzen gilt. Dargestellt wird die chancenrei-che Wechselbeziehung zwischen Praxis-und Forschungsanliegen in Abbildung 1.

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Abbildung 1: Praxis-und Forschungsanliegen im Dialog

Für die Fachpraxis bedeutet dies:
Für Fachkräfte und Träger der Kinder-und Jugendhilfe ist es hilfreich, Unterstützung seitens der Forschenden zu erhalten, um wissenschaftliche Fragestellungen zu formulieren, die dann an Hochschulen und Fachschulen zur Erforschung gegeben werden. Dazu ist es unerlässlich, dass sich alle Beteiligten der Notwendigkeit der Ergebnisoffenheit des Forschungsprozesses bewusst sind. Zugleich müssen in einem ersten Schritt bestehende Sorgen der Fachkräfte ernst genommen und abgebaut werden. Denn für eine gelungene Praxisforschung ist es wichtigste Voraussetzung, dass die Fachpraxis die jeweiligen Projekte mitträgt. Dies gelingt, wenn Träger und Leitungen die Türen öffnen, Teams vor Ort ausführlich informiert und die Ziele eines Forschungsprojekts geklärt werden. Und schließlich ist ganz konkret vor Ort ein reibungsloser Ablauf der Datengewinnung zu gewährleisten, in dem z.B. Räume für Befragung oder Beobachtungen zur Verfügung stehen und das erfordert auch, entsprechend not-wendige Zeit in den Tages-oder Wochenablauf einzuplanen.

Für die Forschungspraxis bedeutet dies:
Alle Forschenden müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein, dass mit der Datengewinnung vor Ort in die Praxis eingegriffen wird. Das erfordert sowohl eine Schulung auf die anzuwendenden Instrumente als auch auf Interaktionsebene. Dazu gehören der sensible Umgang mit den beteiligten Individuen, Daten, Themen und Fragen. Praxis ist spontan, nicht alle Abläufe sind planbar und die beteiligten Akteure agieren ganz individuell in häufig einmaligen Situationen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen ist es unerlässlich, dass sich die forschende Person der Individualität der Situation bewusst ist.

Um gute Praxisforschung zu gewährleisten ist es von großer Bedeutung, dass sich Forschende und Fachkräfte auf Augenhöhe begegnen. Zudem ist die Profession der Fachkräfte bewusst einzubeziehen. Die gegenseitigen Erwartungen und Anforderungen sind zu Beginn des Forschungsprozesses zu klären. Grundlegende Forschungsprinzipien, konkretisiert auf Evaluationsstudien und konkrete Forschungsdesigns sind vorzustellen. Insbesondere die Ergebnisoffenheit ist zu klären, weiterhin die Verbindlichkeit des Zugangs zum Feld. Dies gilt es mit der Ressourcenfrage in der Praxis, bzw. der jeweiligen Einrichtung(en) abzugleichen.

In den letzten 20 Jahren erlebte die nationale und internationale Forschung zur Elementarpädagogik einen erheblichen Aufschwung. Das Kind als aktiver Gestalter seiner Lernumwelt steht dabei in unter-schiedlichen Methodensettings im Fokus. Bevor jedoch Forschungsfragen an die Fachpraxis herangetragen werden, ist es anzuraten zu überprüfen, inwiefern bereits vorhandene Datensätze zur Fragestellung passen und anstelle einer eigenen Datenerhebung genutzt werden könnten. (Große) Drittmittelprojekte sind verpflichtet, ihre Daten der Forscheröffentlichkeit zur weiteren Nutzung zur Verfügung zu stellen. Datenbanken der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), des Leibnitz-Instituts für Sozialwissenschaften (gesis) und der EU sowie der Deutsche Bildungsserver als Projekt des Deutschen Institutes für Internationale Pädagogische Forschung –DIPF (vgl. Völkerling 2012) liefern dazu einen Überblick.

Eine Rückkopplung von Ergebnissen an die Befragten sollte selbstverständlich sein, unter der Prämisse, dass Praxisforschung die konkrete Kita-Praxis unterstützen und zur Weiterentwicklung beitragen will. Das bedeutet, dass Ergebnispräsentationen von Anfang an in Forschungsprojekte einzuplanen sind und, je nach Fragestellung, den unterschiedlichen Akteuren im Feld zugänglich gemacht werden müssen. Um die Verwendung der Forschungsergebnisse in der pädagogischen Praxis zu fördern, sind diese so zu formulieren, dass sie für alle Beteiligten verständlich und gewinnbringend sind. Der transparente Umgang mit Forschungsergebnissen ist zudem entscheidend für die Bereitschaft der Praxis, weiterhin an Forschungsprozessen mitzuwirken. Herrmann (2014) beschreibt dies in seiner Analyse der nifbe-Forschungsstellen als „Praxisforschung nicht im Sinne einer Begleitforschung, sondern als eine Art ‚grounded science‘“, die Rückkopplungsprozesse bewusst einplant und einbezieht. Eine immer wiederkehrende Herausforderung besteht dabei in der Schaffung der notwendigen Strukturen und Zeitfenster für den Rückkopplungsprozess sowie den fachlichen Austausch. Gelingt dies, können alle von der Forschung profitieren (Durand/ Jooss-Weinbach 2015: 30; Bill et.al. 2015: 40).

3) Fazit: Praxisforschung im Dialog entwickeln, unverzichtbar?

Bei aller Widersprüchlichkeit der Bedingungen und Erwartungen von Kita-Praxis und Forschungsseite können sich im Dialog miteinander Chancen für alle Beteiligten ergeben. Unabhängig von Forschung im Rahmen des Studiums oder in größeren Forschungsprojekten sind die Akteure darauf angewiesen, dass ihnen Leitungen die Tür zur Praxis öffnen, um dadurch die Bearbeitung ihrer Forschungsfragen zu ermöglichen. Die pädagogischen Fachkräfte, Trägervertretungen und Leitungen stehen in der alltäglichen Praxis vor zahlreichen Herausforderungen, die sich in Fragen formulieren lassen, die zu Forschungsfragen werden können. Ausgehend von dem Interesse, das eigene Praxisfeld weiterzuentwickeln, lassen sich durch transparente Informationen und klare Forschungsanfragen Unsicherheiten abbauen und Vernetzungen schaffen, um so entstandene Forschungsfragen gewinnbringend zu untersuchen.

Eine Verständigung ist dringend nötig, um den Mehrwert der Erforschung von Praxisfragen zu erkennen und zu nutzen. Die in den Modulhandbüchern und Curricula beschriebenen Kompetenzbereiche des forschenden Habitus sind nur mit einem Praxisbezug zu vermitteln. Und aus dieser Perspektive ist Praxisforschung unverzichtbar. Ziel ist es, eine fruchtbare Kooperation aller Beteiligten zu ermöglichen, um gemeinsam das frühpädagogische Arbeitsfeld qualitativ hochwertig weiterzuentwickeln. Insofern gilt es, einen Rahmen zu schaffen, in dem der Prozess der Praxisforschung -von der Entwicklung der Forschungsfrage bis zur Präsentation der Ergebnisse -partizipatorisch gestaltet wird. Als gemeinsamer Nenner und Ausgangspunkt dienen hierbei das Wohlergehen des Kindes und die Weiterentwicklung der mit dem Kind arbeitenden Professionen. Unter dieser Voraussetzung kann auf partizipatorisch durchgeführte Praxisforschung nur schwer verzichtet werden, somit wäre das Fragezeichen hierzu im Titel zu löschen.

4. Literatur

  • Bill, Gisela/ Rönnau, Christine/ Scheetz, Jana Paula (2015): „Das Beobachten der Kinder macht uns zu Forscherinnen.“ In: TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Heft 3/2015, Friedrich Verlag, Seelze, S. 40-41.
  • Durand, Judith/ Jooss-Weinbach, Margarete (2015): „Das ist mir gar nicht bewusst gewesen.“ Mit Videographie das eigene Handeln reflektieren. In: TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Heft 3/2015, Friedrich Verlag, Seelze, S. 30-31.
  • Herrmann, Karsten (2014): Jahresberichte der nifbe-Forschungsstellen erschienen. Online unter: http://www.erzieherin.de/jahresberichte-der-nifbe-forschungsstellen-erschienen.html (9.11.2016)
  • Remsperger-Kehm, Regina (2016): Das Bild pädagogischer Fachkräfte. In: Betrifft KINDER, Heft 4/2016, Verlag das netz, Kiliansroda, S. 6-10.
  • Strehmel, Petra (2016): BAG-BEK: Profil und Zielsetzung. In: kindergarten heute, Heft 11/12 2016, Verlag Herder, Freiburg, S. 33.
  • Völkel, Petra/ Wihstutz, Anne/ Lamp, Fabian/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Pesch, Ludger/ Rohrmann, Tim/ Schiwarov, Juliana/ Ehmann, Christine (2014): Das berufliche Selbstverständnis pädagogischer Fachkräfte: Studium im Elementarbereich. Bildungsverlag EINS.
  • Völkerling, Andrea (2012): Kinderbefragung im Spiegel des Deutschen Bildungsservers. In: Zeitschrift "Frühe Bildung". Schwerpunkt: Kinderbefragung, 1. Jahrgang / Heft 3 / 2012, Verlag Hogrefe, S. 170-172.

AutorInnen-Team:

  • Roswitha Sommer-Himmel, Professorin für Päd., Schwerpunkt Päd. der Kindheit und Studiengangsleiterin des kindheitspädagogischen Studiengangs: Erziehung, Bildung und Gesundheit im Kindesalter an der EHN Nürnberg
  • Prof. Dr. Stefanie Greubel, Juniorprofessorin für Kindheitspädagogik an der Alanus-Hochschule, Alfter
  • Claudia Schröders, Erzieherin, Kindheitspädagogin B.A. und Leitung einer Kita
  • Dana Harring, DJI Referentin
  • Margarete Kaiser, Fachberaterin Waldorfkindergärten NRW
  • Sandra Wagner, Dozentin in der Erzieherausbildung des PFH Berlin
  • Susanne Schumann und Gabi Obst berufsbegleitende Studentinnen Kindheitspädagogik an der FH Erfurt


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