Inklusion: "Es geht immer ums Ganze!"

Stefanie Lüpke im Interview mit Karsten Herrmann

  • Seit der 2008 verabschiedeten und auch von Deutschland ratifiziertratifiziert|||||Die Ratifikation, auch Ratifizierung ist eine verbindliche Erklärung des Abschlusses eines Vertrages durch  Vertragsparteien.en UN-Behindertenrechtskonvention steht das Thema der Inklusion in unserem Bildungssystem ganz oben auf der bildungspolitischen Tagesordnung. Was bedeutet die Inklusion aus Ihrer Sicht für KiTas: Geht es hier eher um neue Strukturen und Rahmenbedingungen oder zunächst einmal um eine Haltungsfrage?

luepke 150Wenn wir von Inklusion sprechen, geht es immer ums Ganze! Inklusion bedeutet gesellschaftliche Veränderung. Inklusion bedeutet für Kitas, dass jede Kita jedes Kind ganz selbstverständlich so aufnehmen kann, wie es ist. Dass dann überlegt wird, was braucht dieses Kind bei uns und was brauchen wir möglicherweise an zusätzlichem Personal, an zusätzlichem Wissen oder Material, um gut für das Kind zu sorgen. Das kann z.B. ein Ergotherapeut sein, der regelmäßig die Einrichtung besucht, das kann auch ein Gebärdenkurs für alle oder ein größerer Wickeltisch sein. Dazu braucht es bessere Rahmenbedingungen in den Kitas, wie mehr Personal, kleinere Gruppen, heilpädagogische Ausbildung für alle Fachkräfte, mehr Verfügungszeiten, alleinige Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder. Die Fachkräfte in den Kitas  begleiten und gestalten die Bildungsprozesse der Kinder, aber in der Interaktion mit ihnen entwickelt sich auch die eigene Haltung Die Veränderungen von Strukturen gehen Hand-in-Hand mit einer Veränderung der Haltung von Fachkräften und Eltern zur Inklusion. Wir können dabei viel von dem unbefangenen Umgang der Kinder untereinander lernen.
 

  • Können (Grund-) Schulen beim Thema Inklusion von den KiTas lernen?

Tatsächlich nähern sich Kita und Grundschule in der pädagogischen Grundhaltung ja zumindest theoretisch an, in der Praxis sieht das vor Ort auf beiden Seiten oft aber noch anders aus. Die Akzeptanz der Verschiedenheit von Kindern ist in der Kita-Pädagogik bislang stärker verankert, die altersgemischten Gruppen sind in Kitas Alltag, in den Schulen dagegen selten. In der Kita wird viel selbstverständlicher berücksichtigt, dass es unter den Kindern große Unterschiede in der Entwicklung gibt und dass diese Unterschiede vorübergehend sein können oder auch bereichernd sein können.  Die Unterschiede in der Entwicklung von Sprache, Motorik, Wahrnehmung werden in der Kita nicht verglichen, nicht bewertet, die Kinder erleben keine Beurteilung ihres Könnens. Das situativ-pädagogische, die „Stärken stärken“, die Interessen zum Ausgangspunkt machen, jedes Kind nehmen, wie es ist, ist in der Kita als Haltung gewachsen. Die Schulpädagogik hat eine ganz andere Geschichte und es wird den LehrerInnen auch schwerer gemacht eine solche Haltung in der Grundschule fortzusetzen. Auch wenn sie da m.E. genauso hingehört. In dem Film „Berg Fidel“ wird beispielsweise gezeigt, wie Lehrkräfte in einer inklusiv arbeitenden Grundschule die verschiedenen Tempi der Kinder zuzulassen, ihre Eigenarten erkennen und versuchen, jedes Kind bei der Teilhabe in der Gruppe oder Klasse zu unterstützen. Und man sieht, wie der Wechsel auf die weiterführende Schule dann ein abruptes Ende setzt.

 
  • In Niedersachsen besuchen noch immer rund 50% der Kindergartenkinder Sondereinrichtungen. Im Bundesvergleich liegt Niedersachsen damit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Woran liegt es?

Zum einen gibt es in Niedersachsen noch kein dem Bedarf entsprechendes integratives Angebot, aber eine lange Tradition der Sondereinrichtungen. Zum anderen fehlt es, glaube ich, daran, dass Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben, zu selten beraten werden, dass es integrative Kita-Plätze gibt, dass sie unterstützt werden, sich das vor Ort anzugucken und sich mit anderen Eltern auszutauschen. In Niedersachsen ist der Weg zu einem integrativen Kita-Platz ein einziger riesiger Behördenlauf. In unserem Transferprojekt „Kitas als Türöffner“ (s. Download unten) sprechen die Eltern davon, dass es zu ihrem Alltag gehört, zu kämpfen und von der Erfahrung, dass sie auf Ablehnung bei Ämtern stoßen, dass sie Gerichtsverfahren in Kauf nehmen müssen, um einen Platz in Krippe, Kindergarten, Hort, Offene Ganztagsschule zu bekommen oder auch um zusätzliche Hilfen in Anspruch nehmen zu können. Es ist an der Zeit, einen Rechtsanspruch auf einen integrativen Kita-Platz gesetzlich zu verankern.

 

  • Der forcierte Krippenausbau war und ist auch eine Chance für eine Inklusion von Anfang an. Ist sie genutzt worden?

Nein, der Krippenausbau ist pädagogisch für gar nichts genutzt worden. Das was wir nun haben, ist ein großer quantitativer Zuwachs an Krippenplätzen. Die Idee, einen Rechtsanspruch einzuführen ohne gleichzeitig festzulegen, wie die pädagogische Qualität mindestens aussehen muss, ist eine politische Fahrlässigkeit, die auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Wir haben in Niedersachsen in allen Krippen eine sehr schlechte Fachkraft-Kind-Relation als Mindeststandard. Erst seit 2012 gibt es in Niedersachsen die Betriebserlaubnis für integrativ arbeitende Krippen. Trotz eines Modellprojektes und wider des fachlichen Wissens und zahlreicher Diskussionen ist es unverständlicherweise nicht gelungen, die integrativen Krippen so gut auszustatten wie die integrativen Kindergärten. Eltern und Träger sind verunsichert worden und wir wissen nicht, wie sich das Anmeldeverhalten der Eltern entwickeln wird. Hier ist eine Chance vertan worden - hier muss die neue Landesregierung nachbessern.

 
  • Grundsätzlich wird beim Thema der Inklusion darüber gestritten, ob Kinder mit vorhandenen oder drohenden Handicaps besser in Sondereinrichtungen oder in integrativen bzw. inklusiven Gruppen gefördert werden können. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Ich finde es nachvollziehbar, dass Eltern und auch Fachkräfte sagen, wie soll denn das Kind in der inklusiven Einrichtung so gut gefördert werden, wie in der Sondereinrichtung mit den kleinen Gruppen, dem guten Personalschlüssel, den heilpädagogisch ausgebildeten Kräften. Aber es spricht doch nichts – außer dem politische Willen, dies zu finanzieren - dagegen, diese Ausstattung in die inklusive Einrichtung mitzunehmen. Die wichtigste Aufgabe für die PädagogInnen in der inklusiven Einrichtung ist natürlich, die Teilhabe des Kindes an dem Treiben in der Gruppe zu unterstützen: Kinder lernen von Kindern. Heilpädagogisch ausgebildete Fachkräfte begleiten, moderieren oder initiieren Situationen, in denen Kinder miteinander tätig sind. Diese Aufgabe ist neu und hier unterscheiden sich inklusive Einrichtungen von Sondereinrichtungen. Alles andere scheint mir eine Ausstattungs- und Verteilungsfrage zu sein und auch ein Gewöhnungsprozess.


  • Wie sieht Ihre Vision für die inklusive KiTa 2020 aus?

2020 ist ja leider schon in sieben Jahren, da wird aus meinen Visionen nicht viel Realität werden. Meine konkrete Hoffnung für die kommenden Jahre ist aber, dass wir bis 2020 eine deutlich verbesserte Fachkraft-Kind-Relation in Krippen und Kindergärten haben, dass wir gut ausgestattete inklusive Kitas und Schulen schaffen und Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel erfolgreich waren. Auf der Grundlage können wir uns dann ab 2020 an die Visionen machen.

 

Zur Person:

Stefanie Lüpke ist Dipl.Sozialpädagogin / Dipl. Sozialwissenschaftlerin, seit 2005 Mitarbeiterin der Landesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen Niedersachsen/Bremen e.V. (seit 2012 Geschäftsführerin). Sie hat mitgearbeitet im nifbe-Transferprojekt „Kitas als Türöffner“ von 2009-2011, ihre Tochter besuchte einen integrativen Kinderladen.

Die lagE e.V. vertritt auf Landesebene die Interessen von Tageseinrichtungen für Kinder, die von Elternvereinen geführt werden, das sind ca. 10% aller Kitas.