Frühpädagogische Diagnostik


Frühpädagogische Diagnostik meint alle diagnostischen Tätigkeiten, mit denen Eltern und/oder pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten, Vorklassen bzw. Kindertageseinrichtungen die Lernausgangslagen, -prozesse und -ergebnisse junger Kinder erfassen, analysieren sowie auf Lehr-Lern-Bedingungen zurückführen.

Zweck des Ganzen ist dabei, Anhaltspunkte zu gewinnen, wie jungen Kindern mit angemessenen pädagogischen Maßnahmen optimale Bildungschancen eröffnet werden können. Ob und wieweit ein frühdiagnostisches Verfahren dazu taugt, Eltern und/oder pädagogische Fachkräfte zu einem fachlich-kompetenteren bzw. professionelleren pädagogischen Handeln zu befähigen, hängt von seiner Qualität ab. Diese lässt sich mit Hilfe spezifischer Standards bestimmen, welche Kriterien benennen, denen man bei der Verfahrenskonstruktion, -evaluation und -durchführung entsprechen muss. Ansonsten kann nicht gewährleistet werden, dass ein Verfahren objektiv, zuverlässig, gültig und auch fair, ökonomisch und nutzbringend misst. Dass Frühpädagogik immer auch diagnostische Tätigkeiten beinhaltet, war und ist unumstritten. So hat z.B. Friedrich Fröbel der Begründer des Kindergartens, betont, dass man bei der Bildung im Kindergarten nicht ohne erziehende Beachtung des Wachstums des Kindes auskommt, weil pädagogische Fachkräfte ihr Vermittlungsgeschäft an den beim Kind beobachteten Gesetzmäßigkeiten ausrichten müssen. Lange Zeit ging man mit dieser Forderung so um, als ob pädagogische Fachkräfte ohne weiteres bereit und fähig wären, ein Kind intuitiv so zu erfassen, dass sich ihnen dabei erschließt, wo genau es steht und wie es am besten gefördert werden kann. In der Nachkriegszeit wurde man zunehmend auf die Grenzen und Gefahren derart intuitiver Beobachtung aufmerksam. So enthüllten u.a. wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse, dass die traditionelle Beobachtungspraxis durch subjektive Wahrnehmungs-fehler beeinträchtigt wird, z.B. weil Menschen im Alltag nicht oder nur schwer zwischen tatsächlicher Wahrnehmung und persönlicher Deutung zu trennen vermögen. Daraufhin wurden in den 1960er und 1970er Jahren wissenschaftlich fundierte Tests zur Erfassung des Entwicklungs- und Lernstands junger Kinder entwickelt. Meist zielten diese auf die Erfassung von Intelligenz, Wahrnehmung, Sprache und Schulreife. Sonstige Entwicklungs- und Lernbereiche blieben dagegen ausgespart. In der Praxis konnten sich diese Verfahren nicht durchsetzen, u.a. weil sie nur von Fachleuten eingesetzt werden konnten.

Ab den 1980er Jahren wurden verstärkt Forderungen laut und Anleitungen gegeben, Verfahren zur systematischen Beobachtung junger Kinder einzusetzen. Aber auch deren Reichweite blieb lange Zeit begrenzt. Insbesondere standardisierte Beobachtungsbogen haben kaum Resonanz erfahren. Viel eher vertraut man auf selbstentwickelte, für alltagstauglicher gehaltene Verfahren. Inwieweit die Bildungspläne, in denen Beobachtung als integraler Bestandteil der Frühpädagogik definiert wird, daran etwas ändern werden, bleibt abzuwarten. Neue Impulse gingen ab den 1990er Jahren von der Qualitätsdebatte aus, in der die Kindzentrierung zugunsten einer Kontextorientierung überwunden wurde. Dennoch ist noch offen, ob und wieweit es den standardisierten Qualitätsfeststellungsverfahren gelingen wird, ihren Platz zu erobern. Jüngste Einflüsse gehen von der internationalen Leistungsvergleichsmessung aus. Diese Richtung hat die Entwicklung einer Kompetenzdiagnostik befördert. Das meint standardisierte Verfahren, mit deren Hilfe man feststellen kann, auf welcher schriftsprachlichen, mathematischen, naturwissenschaftlichen oder anderen Kompetenzstufe sich ein Kind gerade befindet. Derartige Verfahren liefern also Anhaltspunkte, wo genau die Förderung eines Kindes ansetzen sollte, damit der nächste Lernschritt vollzogen werden kann.

Frühpädagogische Diagnostik beinhaltet drei unterschiedliche Verfahrenstypen: Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren, Entwicklungs- und Lernstandstests sowie Qualitätsfeststellungsverfahren.

Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren bieten den Vorteil, dass sich Kinder dabei ganz authentisch geben können. Sie reagieren weder befremdet noch gestört oder gar geängstigt, so dass sie ihr produktives Potential entfalten können. Problematisch an diesem Zugang ist, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte vor allem das wahrnehmen, was geäußert wird, also ohne weiteres sicht- und hörbar ist, wohingegen sie nicht ohne weiteres wahrnehmen können, wie das Kind bestimmte Eindrücke verarbeitet bzw. versteht. Derzeit kann man auf zwei Beobachtungs- und Dokumentationstypen zurück-greifen. Zum einen handelt es sich um standardisierte Verfahren mit einer Screeningfunktion, die zum Zweck haben, Kinder frühzeitig aufzuspüren, bei denen sich Entwicklungsrisiken abzeichnen, wie z.B. der Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungsrückständen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK) oder das Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten (DESK 3-6). Zum anderen handelt es sich um Verfahren, mit denen die Aktivitäten erfasst werden, in deren Verlauf sich Kinder neues Wissen und Können aneignen. Ein Verfahren zielt auf das Wohlbefinden und die Engagiertheit von Kindern. Dahinter steht die Annahme, dass Aktivitäten, die mit hoher Engagiertheit betrieben werden, auch besonders wichtige Anlässe für nachhaltiges Lernen bieten.

Weitere Verfahren sind (noch) nicht standardisiert bzw. befinden sich noch in der Entwicklung, wie z.B. das Erkennen von Schemata, das Identifizieren von Bildungsthemen und die Lern- und Bildungsgeschichten. Entwicklungs- und Lernstandstests haben das Plus, dass man mit ihnen feststellen kann, wo ein Kind in seiner Entwicklung bzw. in Bezug auf das Lernen gerade steht; sei es nun in Relation zu einer sozialen Bezugsgruppe (z.B. Gleichaltrige) oder einer bereichsspezifischen Stufenfolge. Außerdem machen es diese Verfahren möglich, ein junges Kind gezielt zu provozieren, und zwar so, dass es eine spezifische Verhaltensantwort gibt. Auf diese Weise kann man sich auf ganz bestimmte entwicklungs- und lernrelevante bzw. risikoindizierende produktive und rezeptive Aspekte konzentrieren. Die Tatsache, dass in jüngster Zeit, neben Tests zur Schulfähigkeitsfeststellung und zur Erfassung motorischer, kognitiver, mathematischer und weiterer Entwicklungs- und Lernstände, vor allem Sprachstandstests entwickelt worden sind, dürfte eine Reaktion auf prominente frühpädagogische Reformthemen darstellen. So zeigt u.a. eine Expertise auf, dass derzeit jeweils mehrere Verfahren angeboten werden, mit denen man die Lautartikulation und Lautdiskrimination, den Wortschatz, die Phonembewusstheit usw. junger Kinder erfassen kann. Schließlich sind noch die Verfahren zur Qualitätsfeststellung zu nennen.

Diese dienen der Erfassung derjenigen Aspekte der pädagogischen Umwelt, die als besonders entwicklungs- bzw. lernfördernd oder -hemmend gelten. Das umfasst die Strukturbedingungen, wie z.B. Fragen der Gruppengröße, des Erzieherin-Kind-Schlüssels, aber auch der Ausbildung bzw. Qualifikation des Personals. Weitere Aspekte haben mit der pädagogischen Orientierung zu tun, wie den Programmen, denen man folgt, den Aufgaben, die man wertschätzt und einlöst. Schließlich gehören noch Feststellungsverfahren zur Prozessqualität dazu. Hier geht es um Fragen, wie die Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern oder unter den Kindern beschaffen sind usw. Qualitätsfeststellungs-verfahren, wie z.B. die Kindergarteneinschätzskala KES, die Tagespfl egeskala TAS oder die Krippenskala KRIPS, vermitteln also ein differenziertes Bild des Kontextes, indem ganz unterschiedliche Punkte der zentralen Qualitätsbereiche ausgeleuchtet werden.

Diagnostik ist ein genuiner Bestandteil professionellen frühpädagogischen Handelns. Gemessen daran, gibt es ein zwar beachtliches, aber längst nicht hinreichendes Angebot geeigneter Verfahren. So wird z.B. vor dem Hintergrund der Bildungsrahmenpläne deutlich, dass es an einer alle Bildungsbereiche einbeziehenden Kompetenzdiagnostik sowie einer umfassenden standardisierten Prozessdiagnostik mangelt. Infolgedessen können Eltern und/oder pädagogische Fachkräfte derzeit nicht anders, als sich mit einem Mix aus bewährten und selbst erstellten Verfahren zu behelfen. Das erfordert eine diagnostische Kompetenz, die bei den Betroffenen, laut eigenen Aussagen in verschiedenen Befragungsstudien, so noch nicht oder kaum gegeben ist. Dem gilt es, mit Fort- und Weiterbildungs- sowie Beratungsangeboten abzuhelfen.


Literatur

  • Fried, L./Roux, S. (Hg.) (2006): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim.. – Häcker, H. u.a. (1998): Standards für pädagogisches und psychologisches Testen. Göttin-gen.
  • Ingenkamp, K./Lissmann, U. (2005): Lehrbuch Frühpädagogische Theorien der pädagogischen Diagnostik. Weinheim.
  • Martin, E./Wawrinowski, U. (2003): Beobachtungslehre. Weinheim.
  • Viernickel, S./Völkl, P. (2005): Beobachten und dokumentieren im pädagogischen Alltag. Freiburg.


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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)