Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit

Von Beginn an nehmen Kinder die Welt um sich herum wahr. Sie machen ästhetische Erfahrungen und beginnen so ihren kulturellen Weg in die Welt. Von der UNESCO wird kulturelle Bildung als Menschenrecht definiert, das befähigen soll, den eigenen kulturellen Interessen zu folgen, künstlerisch-ästhetische Wahrnehmung und Urteilsvermögen zu entwickeln und am kulturellen Leben teilzunehmen (UNESCO 2006).

Damit versteht sich Ästhetische Bildung als Hineinwachsen in und Auseinandersetzung mit den kulturellen Lebensformen und den vorhandenen Dingen. Kinder erfahren ihre kulturelle Eingebettetheit ebenso wie Schlüsselcodes des Zusammenlebens und Handelns in ihrer Welt. Auf diese Weise eignen sie sich grundlegend die Welt an und versuchen sich in damit verbundenen Handlungen und Gestaltungen.

Im Lauf der Kindheit wandelt sich der zunächst unvoreingenommene offene Zugang zu den Dingen in ein Wissen über die Dinge. Dieses Wissen hindert allerdings bestimmte Auseinandersetzungen und Erfahrungen, da das Kind die Bedeutung für seinen kulturellen Raum verinnerlicht, diesen reflexiv in sein Handeln mit einbezieht und damit andere mögliche Handlungsformen vernachlässigt.

Ästhetische Handlungen sind Teil des Alltags und haben Bedeutung für die kindliche Entwicklung. „Sie werden nicht nur in sich verfeinert und erweitert – und lassen somit Lernfortschritte erkennen, sondern wirken zurück auf die Person, ihr Selbstverständnis und ihre Orientierung“ (Scheunpflug & Prenzel 2013, S. 1). Ästhetische Bildung verändert sich daher im Laufe der kindlichen Entwicklung und nimmt zugleich Einfluss auf ihren Verlauf.

Ästhetische Bildung im Zentrum frühpädagogischen Handelns und Denkens

Schon lange bevor Kinder ihre Erfahrungen verbal artikulieren und reflektieren können, werden sie mit unzähligen sinnlichen Reizen konfrontiert, die ausgewählt sowie verarbeitet werden und zu neuen Handlungen und Erfahrungsräumen führen. In dieser frühen Phase drückt sich das Kind ästhetisch aus, es entwickelt Resonanz auf die sinnlichen Wahrnehmungen seiner Welt. Schäfer (2013) eröffnet Perspektiven für die Ästhetische Bildung von Kleinkindern und Kindern, indem er die Auffassung vertritt, Ästhetik sei ein Alltagsphänomen, der Begriff Ästhetik beinhalte alle Formen der sinnlichen Wahrnehmung, ihre Ordnung und inneren Verarbeitungsweisen (S. 188). Damit rückt Ästhetische Bildung ins Zentrum frühpädagogischen Handelns und Denkens.

In neueren Theorien wird kein Unterschied zwischen Wahrnehmen über die Sinne und der Kognition formuliert. Sinnliche und geistige Erfahrung werden somit nicht mehr voneinander getrennt. „Ästhetische Bildung wird heute weniger als Gegengewicht zum stark kognitiv dominierten Lernen verstanden; vielmehr reift die Einsicht, dass ästhetische Weisen des Erkundens, Verstehens und Erkennens wesentlicher Bestandteil von Lernen überhaupt sind“ (Dietrich et al. 2012, S. 9).

Ästhetische Bildung ist also zunächst die grundlegende Form der Bildung über die Sinne. Sie verändert sich im Laufe der frühen Kindheit zu einer ästhetischen Alphabetisierung durch visuelle Beobachtungen, weitere Handlungen und neue Erfahrungen. Dabei erfolgt die Aneignung der Kultur mit ihren Materialien, Dingen, Situationen und Phänomenen, aber auch ihren Regeln und Handlungsweisen. Die Dauer ästhetischer Auseinandersetzung verlängert sich ebenfalls im Laufe der Entwicklung mit Zunahme der Aufmerksamkeit (Müller, Krummenacher, Torsten 2015). Ästhetische Bildungsprozesse werden häufig als kurze, subtile intrinsische Prozesse erlebt.

Als Konsens in der Frühpädagogik gilt, dass der ästhetische Weltzugang in der frühen Kindheit grundlegend für die weitere Entwicklung ist. Zugleich regt sich der Wunsch nach wissenschaftlicher Untersuchung und Messung der Wirkung von ästhetischer Bildung (Kirsch & Stenger 2020). Das gesicherte Wissen über die Wirkung ästhetischer Prozesse ist gering (Liebau 2013, S. 27 ff.), dennoch finden sich insbesondere kleinere Studien, die sich mit Teilaspekten auseinandersetzen (z.B. Reuter 2007; Borg-Tiburcy 2015; etc.). In der Wirkungsforschung ist auch die Frage der Transferwirkung (Rittelmeyer 2016) von Interesse, insbesondere für Sprachbildung, Feinmotorik und Körperkoordination, Konzentration und Ausdauer.

Die Teilelemente der Ästhetischen Bildung

In Prozessen ästhetischer Bildung vollziehen sich Momente ästhetischer Wahrnehmung, ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Praxis. Sie ermöglicht Entwicklung von Wahrnehmungs-, Darstellungs-, Gestaltungs- und Ausdruckformen, vor allem über eigene ästhetische Praxis, die später auch zu einer künstlerischen Praxis werden kann. Zu diesen Unterbegriffen von Ästhetischer Bildung lassen sich folgende Unterscheidungen formulieren:

Ästhetische Wahrnehmung basiert auf Sinnesleistung und hebt sich durch eine besondere Akzentuierung ab (Seel 2003). Sie ereignet sich in einem besonderen Verhältnis zur Zeit. In verschiedenen Abfolgen von aktiven und passiven Phasen wird der Moment, in dem sich das Kind dem ästhetischen Objekt zuwendet, zentral für seine ästhetische Auseinandersetzung.

Jede Wahrnehmung in der Zeit ist insofern eine ästhetische, als sich im zeitlichen Ablauf ein Bruch (unterschiedlicher Intensität) einstellen kann, der ästhetisches Wahrnehmen als Veränderung der bisherigen Wahrnehmung ermöglicht. Im Laufe der Entwicklung werden die Handlungen der Kinder und ihre Intentionen zunehmend von gesellschaftlichen Normen geleitet, diese Normen beeinflussen die Wahrnehmungen, d.h. Kinder gehen ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr unvoreingenommen nach.

Ästhetische Erfahrungen bilden die Grundlage der kognitiven Entwicklung, deshalb können sie nicht aus zweiter Hand bezogen werden. Ausgelöst durch Irritation, Verwunderung, Staunen (Dunker 2010), durch eine nicht erwartete Situation können ästhetische Erfahrungsprozesse beginnen. Dabei entstehen kaum kontrollierbare emotionale und sinnliche Bewegungen (Dietrich et al. 2012) sowie unmittelbare positive emotionale Erlebnisse.

Ästhetische Praxis ist der rezeptive oder produktive Umgang mit ästhetischen Objekten (Seel 2003). Mit dem Begriff des ästhetischen Objekts ist all das gemeint, dem das Kind mit ästhetischer Aufmerksamkeit begegnen kann. Die Form der Aufmerksamkeit ist zweitrangig. Um es an einem Bei spiel zu verdeutlichen: Ton als ästhetisches Objekt in der Krippe kann die Aufmerksamkeit des Kindes auf dessen erdigen Geruch lenken, der eine Irritation in der sonst so naturfernen Einrichtung mit sich bringt. Seine Konsistenz könnte aber auch dazu auffordern, einen anderen Gegenstand hineinzustecken und den Tonklumpen zu durchdringen. Oder aber die Oberflächenstruktur spricht das Kind an, den Ton zu fühlen und den eigenen Druck der Hände in die Masse hinein auszuprobieren, um Spuren zu hinterlassen. Ton als ästhetisches Objekt sendet unterschiedliche Appelle an die Kinder und initiiert verschiedenes Antwortverhalten. Hieraus ergeben sich unterschiedliche ästhetische Verhaltensweisen, die aus einer bloß funktionalen Orientierung heraustreten. Die ästhetische Praxis versteht sich daher als eine zunächst nicht zielgerichtete. In der Antwort auf den Appell entstehen ggf. Ideen, Ziele, Intentionen, Bilder, die in weiteren Auseinandersetzungen unterschiedlich umgesetzt werden.

Ästhetische Praxis ist somit die handelnde oder gestaltende Auseinandersetzung, angeregt durch ein ästhetisches Objekt. Wie diese Praxis aussieht, lässt sich durch Handlungs- und Gestaltformen beschreiben, aber auch aus der Perspektive unterschiedlicher kultureller Register wie der des Theaters, der bildenden Künste, der Musik, der Philosophie... Die jeweiligen Register nutzen für ihren Aneignungsprozess spezifische Techniken, Materialien und Formen, die im Rahmen der ästhetischen Alphabetisierung angeeignet werden.

Strukturmomente ästhetischer Bildungsprozesse

Die Möglichkeiten Ästhetischer Bildung eröffnen sich in Auseinandersetzungsprozessen mit Dingen, Material, Situationen oder weiterreichenden Phänomenen (Bulander 2018), sie benötigen zudem entsprechende Gelegenheitsstrukturen. Diese ergeben sich aus einem Möglichkeitenraum, der dem jeweiligen Kind zur Verfügung steht und den es aktiv realisiert. Als Grundlage für Handlungen und Gestaltungen spielen individuelle Aufmerksamkeit, aber auch rezeptive Formate der Wahrnehmung und Erfahrung eine Rolle.

Responsivität
Abhängig von der kognitiven Entwicklung ist die Aufmerksamkeitsspanne von Kleinkindern unterschiedlich ausgeprägt (Saalbach, Grabner, Stern 2013). Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu fokussieren, ist im Kleinkindalter zeitlich begrenzt, Kinder lassen sich in diesem Alter noch stärker von anderen Dingen und Gegebenheiten ablenken.

Den Kern ästhetischer Bildungsprozesse bilden responsive Prozesse mit Materialien, in denen das Kind Antwort gibt auf das, was ihm begegnet. Responsive Prozesse beginnen, sobald die Aufmerksamkeit nach einer Orientierungsphase aufrecht erhalten bleibt und der Appell des Materials vom Kind deutlich erlebt wird. Dabei bezieht sich der Appellcharakter des Materials auf sich selbst oder eine konkrete Handlung an ihm. Das Moment der Überraschung bzw. des Erstaunt-Seins zeigt sich bei Abweichungen von bisherigen Erfahrungen und dem bislang gebildeten Handlungswissen.

Hier eröffnet sich ein Feld, das sich erstreckt zwischen einem völligen Erstaunen des Kindes einerseits und dem Wissen um Handlungen, Material, Phänomene und Strukturen sowie Handlungsmöglichkeiten andererseits. In diesem Feld erwirbt das Kind ein erweitertes Handlungswissen und wendet es an.

Der ästhetische Bildungsprozess, der sich in der Auseinandersetzung von Kind und Welt konstituiert, beinhaltet den Spannungsbogen von ‚kindlichen‘ und ‚weltlichen‘ Komponenten, d.h. er wird von der kindlichen
Konstitution (Körperlichkeit, Kognition, Interaktionsstile etc.) sowie von weltlichen Elementen (Kultur, Material, Raum, Personen etc.) geprägt (Bulander 2018).

Soziale Interaktionen
Soziale Interaktionen sind in ihren Ausprägungen entwicklungsbedingt unterschiedlich. Sie reichen von einem parallelen Handeln mit wenigen oder mehr Verbindungsoptionen über den verbalen oder nonverbalen Austausch bis hin zum Einbinden anderer Personen in den eigenen Prozess. Immer wieder sucht das Kleinkind im Feld seiner ästhetischen Bildung soziale Kontakte, es teilt sein (Er-)Staunen, ahmt nach, instruiert und sucht Sicherheit. Mit zunehmendem Alter der Kinder konzentriert sich die soziale Interaktion in diesem Zusammenhang stärker auf Peers und weniger auf die Bezugspersonen. Im Kindergartenalter werden dann eigene Prozesse durch Komponenten von Prozessen anderer Kinder erweitert oder Prozesse werden zusammengelegt und gemeinsam weiterverfolgt. Kinder lernen in mimetischen Prozessen (Wulf 2014)
durch Beobachtung, Nachahmung und die Implementierung fremder Tätigkeiten in das eigene Handlungsskript.

Material
Formen frühkindlicher ästhetischer Bildung lassen sich unterscheiden in aktive (die Kinder sind handelnd und motorisch entdeckend tätig) und passive (die Kinder sind visuell sehr gebunden, sie schauen zu, rezipieren, aber werden nicht motorisch aktiv). Jüngere Kinder (bis ca. 18 Monate) lassen sich vor allem ansprechen durch Material, das in ihrer Umwelt vorhanden ist (Alltagsgegenstände wie Löffel, Handy, Schlüssel etc.). Ältere Kinder werden vor allem angesprochen durch neue Materialien, die ihre Aufmerksamkeit bündeln, aber auch durch
  • neue Materialkombinationen
  • Materialien in einer verfremdeten Form
  • Materialien in einem anderen Kontext
  • Materialien in einer anderen Mengenanzahl (Bulander 2018).
Werden Materialien von weiteren Personen anders genutzt oder erzeugen sie andere Effekte, kann dies die Aufmerksamkeit des Kindes positiv unterstützen. Sobald die Kinder sich daher mit den Materialien dieser Welt auskennen, sind Angebote in Form von Verfremdung, (De-)Kontextualisierung oder auch Exkursionen zu Museen, Arbeiten mit Künstler*innen und anderes mehr potentielle Grundlagen für weitere ästhetische Auseinandersetzungen. Folglich wächst das Handlungspotential des Kindes mit dem ihm zur Verfügung gestellten Raum.

Raum
Kinder erweitern im Laufe ihrer Entwicklung den Nahraum hin zum Fernraum. Dadurch wird der Raum erprobt und der Erfahrungsradius erweitert. Kinder erkunden mitunter die räumliche Wirkungsweise von Material, Bewegung oder Lauten. Zum Beispiel bewegen sie sich oder tanzen durch den Raum, rollen Material oder laufen darüber. Im Zuge ästhetischer Angebote in institutionellen Settings wird der Raum bevorzugt auf den Nahraum begrenzt und die Bewegungsmöglichkeiten des Kindes werden eingeschränkt. So ist es üblich, im Sitzen zu malen, im Stehen zu tanzen, im Liegen zuzuhören. Damit werden zentrale Elemente des Erfahrungsraumes zugunsten einer Kultur der Statik, z.B. des (Still-)Sitzens, aufgehoben.

Ästhetische Alphabetisierung vollzieht sich dann in einem kulturellen Setting, das nur spezifische Räume gestattet sowie Handlungsweisen öffnet. Mit diesen kulturellen Kompetenzen ist oft eine positive Bewertung verbunden, weil diese Praktiken im gegebenen Kulturraum als normal angesehen werden.

Instanzen Ästhetischer Bildung

Die bisher dargestellten Prozesse und ihre Strukturen werden in zwei Sozialisationsinstanzen verwirklicht, die in der frühen Kindheit von besonderer Bedeutung sind – Familie und Kindertagesstätte.

Familien
Der Zugang zum Material wird nach Ahnert & Haßelbeck (2014) als kulturspezifisch gesehen. „Kinder wachsen in dieser vorstrukturierten Welt auf, die das kulturelle Wissen ihrer Vorfahren enthält und den Alltag organisiert. Die Kultur wirkt sich dann auf die kindliche Entwicklung dadurch aus, dass sie zum Gegenstand von Interaktions- und Kommunikationsprozessen wird“ (ebd., S. 26). Durch das Vorhanden-Sein der Dinge im alltäglichen Umfeld ist bereits eine erste kulturell bedingte Vorauswahl gegeben. Die ästhetische Auseinandersetzung beginnt im familialen Umfeld, in das das Kind hineingeboren wird. Die Dinge und Materialien nehmen die Gerüche auf, entwickeln spezifische Geräusche, mit denen sich die Familie umgibt.

Ebenso prägt der Umgang mit den vorhandenen Materialien und Dingen die ästhetische Wahrnehmung, Erfahrung und Praxis des Kindes. Dabei treten Unterschiede auf, die in der „Familienkultur“ wurzeln, z.B.: Was kommt in den Blick? Sind Materialien für die Kinder erreichbar und dürfen sie genutzt und ausprobiert werden? Gibt es eine richtige und falsche Handhabung? Wie agieren die Familienmitglieder, wenn das Kind sich anders mit den Materialien beschäftigt?

Doch nicht allein innerhalb der Familie finden sich Anlässe ästhetischer Wahrnehmung. So erfreuen die Angebote ästhetischer Förderung sich wachsender Beliebtheit, z.B. Nachmittagskurse in Form von frühmusikalischer Erziehung. Bereits 2012 wurde festgestellt, dass ein Viertel der Zwei- bis unter Sechsjährigen Angebote frühkindlicher Musikerziehung nutzten (Bildung in Deutschland 2012). Hierbei ist eine hohe Selektivität nach dem Bildungsstand der Eltern zu verzeichnen. In der frühen Kindheit haben außerdem Kurse zur Anregung der Sinne wie PEKiP oder Babymassagen weiterhin einen hohen Stellenwert. Neben der alltäglichen ästhetischen Bildung finden somit in Familien, je nach sozialer Situation, gezielte Formen der ästhetischen Förderung in der frühen Kindheit statt.

Tageseinrichtungen für Kinder
In den vergangenen Jahren zeichnet sich eine deutliche Veränderung der Betreuungs- und Bildungslandschaft der frühen Kindheit ab. Werden in Deutschland 2020 nur 1,9 Prozent der Kinder zwischen null und einem Jahr betreut, sind es bei den Kleinstkindern zwischen ein und zwei Jahren bereits 37,1 Prozent (Statistisches Bundesamt 2020). Das heißt über ein Drittel der Kleinstkinder treffen im Laufe ihres zweiten Lebensjahres auf eine institutionalisierte Welt, die mit ihren vielfältigen Materialien zum Welterkunden einlädt, aber auch eine Vorauswahl bietet. In diesem frühen Alter ist die Bedeutung des einzelnen Materials in seiner kulturellen Verortung für das Kind in den meisten Bereichen noch nicht festgelegt. Das Verständnis des Kindes konstituiert sich sukzessive im kulturell geprägten Rahmen, dabei lässt sich das Kind in seinen Handlungsaufforderungen zunächst noch vom Material leiten.

Der freie Zugang zu und der freie Umgang mit Materialien finden sich insbesondere in Angeboten oder Spiellandschaften von Krippen wieder. In den Tageseinrichtungen für Kinder eröffnen die Fachpersonen dem Kleinkind eine erweiterte Materialwelt. Diese Materialien sind speziell für sein Entwicklungsalter kulturspezifisch vorbereitet und bieten Unterschiedlichkeiten in der Auswahl und den Umgangsmöglichkeiten mit ihnen. Das geschieht nicht allein in Abhängigkeit vom pädagogischen Konzept, sondern z.B. auch von der Einrichtungs- oder Alltagskultur.

Ästhetische Bildung wird in den Institutionen der frühen Bildung häufig verstanden als Bildung der Sinne und/oder der Kulturtechniken, die sich in verschiedenen Disziplinen, zum Beispiel der Musik (durch Singen und Musizieren), der Motorik (durch Tanzen und andere Bewegungsabläufe), der Kunst (durch zwei- und dreidimensionales Gestalten) ausdrücken. Dadurch werden Kindern Räume eröffnet, um sich und ihr Bild von der Welt auszudrücken und damit ihr Welt- und Selbstverständnis sowie die Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.

In den für die Kitas verbindlichen Bildungs- und Erziehungsplänen der Bundesländer wird die Bedeutung von Ästhetischer Bildung hervorgehoben, wenn auch mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten. Die Sinne und Emotionen der Kinder sollen damit angesprochen werden, ebenso ihre Fantasie und Kreativität. Hier spielen Transferwirkungen im Bereich der sozialen, motorischen und kognitiven Entwicklung eine Rolle. So sieht der Orientierungsplan für Bildung und Erziehung (Baden-Württemberg) die individuellen Gestaltungen und ästhetischen Lernprozesse im Kindergarten als besonders förderungswürdig. Damit Kinder sich in vielfältigen gestalterischen Sprachen äußern können, sollen verschiedene Gestaltungsmittel und Materialien frei zur Verfügung gestellt werden (Engemann, Meyer-Elmenhorst, Simmat 2015). Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan verbindet Ästhetische Bildung und Erziehung mit Kunst und Kultur. Kreatives und künstlerisches Potential der Kinder soll angeregt werden. Die Kinder lernen nicht nur die eigenen, sondern auch fremde Kulturerzeugnisse und ungewöhnliche künstlerische Ausdrucksformen „anerkennen und schätzen“ (Fthenakis 2016). Der Orientierungsplan der niedersächsischen Tageseinrichtungen für Kinder wiederum gliedert die Ästhetische Bildung als Lernbereiche und Erfahrungsfelder und definiert kulturelle/musisch-ästhetische Bildung im Lebenslauf (Niedersächsisches Kultusministerium 2018). Ein einheitliches Verständnis ästhetischer Prozesse in der Bildungslandschaft sowie in der Theorie ist nicht zu finden.

Die Kita übernimmt einen anfänglichen ästhetischen Alphabetisierungsprozess, der sich im weiteren Lebensverlauf durch die Schule, Hochschule und Einrichtungen der Erwachsenenbildung ebenso wie Kulturanbieter differenziert. Ästhetische Alphabetisierung (Mollenhauer 1990) ist grundlegend für die Befähigung, mit ästhetischen Produkten produktiv und rezeptiv umzugehen, und dadurch an der Kultur teilzuhaben.

Das kulturell gesammelte Wissen über die verschiedenen Künste wird durch Umgangsweisen mit ästhetischen Materialien, Kenntnisse über ihre Tradition und Symbolbestände, ihre Erscheinungsweisen und ihren Gebrauch weitergegeben (Dietrich 2012). Diese erste Weitergabe wird in den Kitas durch die Öffnung für Angebote der Museumspädagogik, der Kunstschaffenden, Musik, Theater etc. realisiert. Ein Großteil dieser Angebote findet in Form von Pilotprojekten statt, so dass eine kontinuierliche Alphabetisierung schwerpunktmäßig durch die angestellten Fachkräfte innerhalb der Kita erfolgt. Wegen der offenen Erziehungs- und Bildungspläne hängt es am persönlichen Engagement, Interesse und den Fähigkeiten des Personals, an der Personalsituation und dem Budget der Einrichtung, wie diese erste Alphabetisierung ausgestaltet wird.

Die Fachkräfte geben auch den Grad der Freiheit vor, der dem Kind bei ästhetischen Prozessen zur Verfügung steht bzw. der sie erst ermöglicht. Das Maß der Freiheit ergibt sich zwischen den Polen des selbständigen Entdeckens und Welterlebens einerseits sowie einem strukturierten und vorgegebenen Handeln andererseits.

Fazit

Die hier vorgestellten Überlegungen haben gezeigt:
  • Grundlage aller Ästhetischen Bildung ist die kindliche Aufmerksamkeit, die sich entzündet an Brüchen in der gewohnten Wahrnehmung.
  • Ästhetische Bildung ereignet sich (auch) in vielen Momenten des Alltags, der alle erforderlichen Materialien bereits enthält.
  • Ästhetische Alphabetisierung ist wichtig, kann aber erst sukzessive erfolgen. Denn das Handeln mit Material beginnt im Alltag und öffnet sich danach allmählich für weitere Bereiche mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Techniken.
  • Den individuellen ästhetischen oder später auch künstlerischen Aktivitäten kommt eine besondere Bedeutung für Bildungsprozesse zu. Dies gilt umso mehr angesichts der damit verbundenen – später auch reflexiven – Auseinandersetzung mit ästhetischer Praxis. Zugleich muss gesehen werden, dass dieser Prozess in seinem Bildungsertrag nicht direkt erfassbar ist. Eine Wirkungsmessung ästhetischer Bildung ist daher nicht möglich.
 

Literatur

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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe Kindheit 5-2020, S.18-23


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