intelligenz 150Die Frage nach der Intelligenz ist ein Thema, das jeden Menschen betrifft und das entsprechend heiß diskutiert wird: Ist Intelligenz erblich oder umweltabhängig, gibt es nur eine oder gleich mehrere Intelligenzen, wie es zum Beispiel Howard Gardner postuliert? Und wie kann Intelligenz insbesondere auch in der frühen Kindheit gefördert werden?
In ihrem Buch „Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen“ geben die renommierten PsychologInnen und IntelligenzforscherInnen Elsbeth Stern  und Aljoscha Neubauer stichhaltige und auf vielen wissenschaftlichen Studienergebnissen basierende Antworten zu diesen Fragen und versuchen auch mit einer Reihe von Vorurteilen beispielsweise im Hinblick auf Hochbegabte aufzuräumen.


Gleich zu Beginn stellen sie unmissverständlich klar, „dass es genetisch bedingte Unterschiede in der geistigen Leistungsfähigkeit gibt“. Sie weisen aber im gleichen Atemzuge darauf hin, dass diese genetischen Veranlagungen „sich nur unter förderlichen Umweltbedingungen entfalten [können]“ – und in diesem Sinne könne jedes individuelle Intelligenz-Potenzial erst wirksam werden, wenn es in Familie, KiTa und Schule entsprechend gefördert werde. Es könne damit als „ein Startkapital verstanden werden, in das man investieren muss“.

Intelligenz als "generelle Lern- und Denkfähigkeit"

Intelligenz wird in diesem Buch als „generelle Lern- und Denkfähigkeit“ definiert und ihre Messbarkeit auf den kognitiven Bereich fokussiert – also sprachliche, visuell-räumliche, rechnerische oder mathematische Fähigkeiten. Als ausschlaggebende Faktoren für die Intelligenz heben Stern und Neubauer generelle Faktoren wie Verarbeitungsgeschwindigkeit, Verarbeitungskapazität oder das Gedächtnis heraus und erläutern detailliert ihre jeweiligen neurobiologischen Grundlagen. Sie resümieren: „Der / die Hochintelligente kann besser schlussfolgern […], nimmt Informationen schneller auf, kann sie schneller im Hirn abspeichern und vernetzt sie schneller und mit mehr bereits im Langzeitgedächtnis gespeicherten Informationen.“

Auf Grundlage dieser Intelligenz-Definition bewerten Stern und Neubauer auch die standardisierten Intelligenztests als seriöses und aussagekräftiges Mittel ein, um Intelligenz zu messen und damit auch schon den  Lebenserfolg auf breiter Ebene vorherzusagen  – denn Intelligenz sei hierfür „das erklärungsmächtigste psychologische Persönlichkeitsmerkmal“.

Von der Intelligenz als genereller Lern- und Denkfähigkeit grenzen Stern und Neubauer Begabungen ab, die sie als das Potenzial eines Menschen zu Erzielung hoher Leistungen in einem bestimmten inhaltlichen Bereich (z.B. Musik oder Kunst) definieren. Talente schließlich kennzeichnen sie als die gleichsam realisierten Begabungen, d.h., „jemand, der seine Begabung dauerhaft in beobachtbare hohe Leistungen umsetzt, ist talentiert.“


Plädoyer für institutionalisierte Frühförderung

Wann werden nun die entscheidenden Grundlagen für die Intelligenz-Entwicklung gelegt und wie kann diese gezielt gefördert werden? Eine klare Absage erteilen Stern und Neubauer Frühförderprogrammen bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres. Hier reichten eine gute Ernährung und Bindung sowie „wohlwollende und kommunizierende Mitmenschen“ aus, um die genetisch gesteuerten Entwicklungsprogramme in Gang zu setzen. In den Folgejahren müssten aber über die Umwelt verstärkt die Grundlagen für Aufmerksamkeitssteuerung, die numerische Entwicklung und den Schriftspracherwerb gelegt werden, um das Intelligenz-Potenzial zu nutzen. Aber auch hier reichten in der Regel bereits „eine Umgebung, die nicht als bedrohlich erlebt wird, handlungsbegleitendes Sprachen und die Quantifizierung von Alltagsereignissen“.

Aufgrund einer stark veränderten Kindheit, in der beispielsweise das Spielen mit anderen Kindern und damit das soziale Lernen nicht mehr selbstverständlich ist, befürwortet das Autorenduo jedoch auch „uneingeschränkt“ eine „professionalisierte und obligatorische Frühförderung […] zur Vorbereitung auf ein Leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Unabhängig von ihren genetischen und familiären Voraussetzungen profitieren Kinder und damit die gesamte Gesellschaft davon, wenn sich die kognitiven Potentiale entfalten können.“

Im Hinblick auf die Schule halten Stern und Neubauer auch die häufig im Vordergrund stehenden bildungspolitischen Strukturdebatten für nicht zielführend, denn: „Die eigentliche Frage betrifft nicht das System, sondern den Umgang mit interindividuellen Unterschieden.“ Worauf es wirklich ankomme, sei die Unterrichtsqualität und hier sei es zentral , die Lernmotivation aller SchülerInnen zu erhalten und zu fördern und die Lernenden in Aktivitäten zu verwickeln, mit deren Hilfe sie ihr vorhandenes Wissen weiterentwickeln können  – und dies gelte auch und insbesondere für hochbegabte Kinder.

Auf wissenschaftlich fundierte und differenzierte Weise durchleuchtet dieses Buch das hochkomplexe und kontrovers diskutierte Thema der Intelligenz. Die für viele durchaus unbequeme und vielleicht auch desillusionierende Kern-Botschaft lautet dabei, dass Menschen mit genetisch bedingten unterschiedlichen Intelligenz-Potentialen zur Welt kommen. Chancengerechtigkeit bedeutet in diesem Sinne, dass jedem von der Gesellschaft von Anfang an die Chance gegeben wird, seine Ressourcen bestmöglich zu entwickeln und auszuschöpfen – und dafür treten die AutorInnen überzeugend ein.


Karsten Herrmann

 
  • Elsbeth Stern / Aljoscha Neubauer; Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen. DVA, 304 S., 19,90 Euro.