Das Buch „Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung“ gibt einen Einblick in kulturelle Muster, die die sozialen Erfahrungen der ersten Lebensjahre prägen. Dabei wird vor allem auf zwei Prototypen fokussiert, deren Gegenüberstellung hilft, „Kultur überhaupt zu erkennen, denn normalerweise fällt uns das Vertraute, das „Normale“ nicht auf.“ (S. V), Diese Gegenüberstellung soll als Grundlage für weitere interdisziplinäre Fachdiskussionen dienen.

Das vorliegende Buch gliedert sich in vier Kapitel, die jeweils eine Erweiterung durch ergänzende Unterpunkte erfahren. Im ersten Kapitel steht die Beziehung von Entwicklung und Kultur im Vordergrund. Neben einer Einführung wird der Begriff der Kultur definiert und in den Zusammenhang mit Erziehungsstrategien gestellt. Die Autorin stellt dabei „die Alltagskultur, die Traditionen und die Weitergabe von Generation zu Generation beim Menschen, insbesondere die alltägliche Kultur des Erziehens kleiner Kinder“ in den Mittelpunkt. „Diese Kultur ist offensichtlich in unserem evolutionären Erbe verankert“.



Im Fokus des zweiten Kapitels stehen Kulturen elterlicher Strategien und deren Bedeutung für die kindliche Entwicklung. Es wird ein Komponentenmodell elterlichen Verhaltens dargestellt und im Vergleich zweier kultureller Prototypen auf ihre Umsetzung hin überprüft. Das dargestellte Modell besteht dabei aus den Komponenten „Primäre Pflege“, „Körperstimulation“, „Körperkontakt“, „Face-to-Face-Kontakt“, „Sprachumwelt“ und „Objektstimulation“. „Diese zunächst voneinander unabhängigen Verhaltenssysteme können sich überlappen und formen so elterliche Verhaltensstrategien. Sie unterstützen unterschiedliche Entwicklungskonsequenzen.“ Im weiteren Verlauf des Kapitels werden die Komponenten anhand von Untersuchungen in unterschiedlichen Kulturen genauer analysiert und damit das elterliche Erziehungsverhalten genauer betrachtet. Vor allem die Unterschiede in den Kulturen und die elterlichen Bedeutungszuschreibungen helfen das kulturelle Grundverständnis zu begreifen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird die Vater-Kind-Beziehung ebenfalls mit ihren kulturellen Unterschieden genauer betrachtet.

Kapitel 3 widmet die Autorin den Auswirkungen der frühen Erfahrungen auf die kindliche Entwicklung. „Entwicklung muss als Zusammenhangsmuster verschiedener Bereiche und Dimensionen verstanden werden. Das frühere und spätere Erreichen bestimmter Entwicklungsergebnisse wirkt sich auch auf andere Bereiche aus. Ein Kind, das sitzen kann, hat buchstäblich einen anderen Blick auf die Welt als ein Kind, das auf dem Rücken liegt.“ (S.94). Von dieser Annahme ausgehend müssen sich kulturelle Unterschiede in der Erziehung unterschiedlich auf die Entwicklung von Kleinkindern auswirken. Bei den folgenden Ausführungen wird Kultur als Definitionsgrundlage menschlicher Bedürfnisse verstanden. „Kultur definiert, was physischer Schutz und Sicherheit bedeuten, was gute Ernährung ist, wie Liebe und Bindung aussieht, was Vertrauen ist, was finanzielle Sicherheit und was Stimulation und Förderung bedeutet.“. Aus diesem Verständnis heraus lässt sich Entwicklung nicht in allgemein gültige Phasen einteilen. Und genau diese kulturspezifischen Entwicklungsverläufe werden in diesem Kapitel skizziert.

Im abschließenden Kapitel 4 wird die Bedeutung der vorangestellten Erkenntnisse für die Arbeit in Bildungsinstitutionen dargestellt und die bisher dort durchgeführte Arbeit reflektiert. Unter anderem unter Bezug auf den niedersächsischen Orientierungsplan wird ein anderes Verständnis von Kultur und deren Bedeutung für die Arbeit gefordert. „Das heißt, dass [bisher] Kultur als etwas Eigenes, unabhängig von allem anderen gesehen wird, das Vielfalt und Buntheit in den Alltag bringt. Wie wir aber bisher gesehen haben, ist Kultur Alltag und Alltag ist gelebte Kultur.“ (S. 140).


Kulturelle Sensibilität wird gesteigert
Heidi Keller hat mit dem Buch „Kinderalltag“ ein Buch vorgelegt, das die Sensibilität für kulturelle Entwicklungsprozesse und deren Bedeutung für die Arbeit in Bildungseinrichtungen steigert. Aufgrund vielfältiger Beispiele aus dem Erziehungsalltag und den Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen kann der Leser/ die Leserin sehr schnell Praxisbezüge herstellen und das eigene Verhalten reflektieren. Hier kommt es beim Lesen immer wieder zu Überraschungsmomenten, weil die gewählten Beispiele einem allzu vertraut vorkommen.

Die beiden ermittelten Prototypen, die die Basis für den Vergleich der Kulturen bilden, sind so unterschiedlich, dass die Untersuchungen anschauliche Ergebnisse aufzeigen. Gleichzeitig gelingt es der Autorin die Entwicklung innerhalb der Kulturen darzustellen, so dass Gemeinsamkeiten erkannt werden können. So kann gut nachvollzogen werden, dass es auch in Deutschland eine Zeit der bäuerlichen Großfamilie gab. Die Autorin betont jederzeit, dass es nicht darum geht die Kulturen zu bewerten oder gar gegeneinander zu stellen. Ihr Anliegen ist es „die Ressourcen aller Gruppen in den Vordergrund zu stellen. Das setzt an den Haltungen an, die wir einnehmen. Wir müssen fremde Praktiken und Gebräuche mit Neugier kennenlernen und hinterfragen.“ (S. 159).

In einer Gesellschaft, in der Kultur häufig inflationär gebraucht wird, trägt dieses Buch zu einer Begriffsklärung und insbesondere auch zum Überdenken des eigene Handelns und der formulierten pädagogischen Ziele bei. Für Fachkräfte, die sich ausführlich mit der Bindungstheorie nach Bowlby beschäftigt haben und als Konsequenz daraus ihr pädagogisches Handeln entsprechend ausgerichtet haben, kann dieses Buch spannende Erkenntnisse über den kulturellen Hintergrund dieser Theorie liefern.
Zudem liefert das vorliegende Buch für die Integrationsdiskussion in Deutschland wertvolle Beiträge. So schreibt die Autorin den VertreterInnen dieser Debatte ins Buch, dass „im gesellschaftlichen und politischen Diskurs […] allzu oft die Einbahnstrasse [dominiert]. Unsere Hausaufgabe als Personen wie als Institutionen des öffentlichen Lebens besteht darin, zunächst einmal zu akzeptieren, dass das, was anders ist, nicht zwangsläufig ein Defizit darstellt.“ (S. 158).

Fazit
Das Buch liefert eine gute Basis für die Fachdiskussion innerhalb der frühkindlichen Bildung und Entwicklung Es bereichert in jedem Feld der Grundlagen die theoretische Diskussion und verdeutlicht Zusammenhänge in den verschiedenen methodischen Konzepten. Es bietet gute Grundlagen für die theoretische Vermittlung möglicher Lerninhalte und die Reflexion der eigenen Haltung im pädagogischen Handeln. Das Buch richtet sich damit sowohl an Praktiker im Feld der frühkindlichen Bildung und Entwicklung wie auch an Fachleute, die auf eine sehr eindrucksvolle Weise ihre eigenen kulturellen Alltagshandlungen reflektieren und analysieren möchten.
 


Zur Autorin
Seit 1984 ist Heidi Keller Professorin für Psychologie (Fachgebiet Entwicklung und Kultur) an der Universität Osnabrück und seit 2008 Leiterin der Forschungsgruppe „Kultur, Lernen und Entwicklung“ des Niedersächsischen Instituts für Frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Sie beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel zwischen Biologie und Kultur. Ihre These ist, dass Entwicklung ein Resultat aus Biologie und Kultur darstellt. Speziell geht es in ihrem Forschungsprogramm darum, kulturspezifische Lösungen universeller Entwicklungspfade zu ermitteln. In kulturvergleichenden Längsschnittstudien konnte Prof. Dr. Keller nachweisen, dass die kulturellen Botschaften des Alltagslebens sowohl die Geschwindigkeit als auch die Abfolge von Entwicklungsaufgaben beeinflussen.


Prof. Dr. Dörte Detert

  • Keller, Heidi (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung.(Berlin Heidelberg) Springer Verlag GmbH. 169 Seiten. ISBN 978-3-642-15302-0