2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ver-pflichtet, Schüler mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten. Seitdem steigen die Inklusionsanteile in deutschen Klassenzimmern. Von einem inklusiven Bildungssystem - vor allem in den weiterführenden Schulen - ist Deutschland aber noch weit entfernt, so die Ergebnisse einer aktuellen Bertelsmann-Studie.

Der Inklusionsanteil an deutschen Schulen ist im Schuljahr 2013/14 auf den höchsten Wert seit Inkrafttreten der UN-Konvention gestiegen. Fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf besucht mittlerweile eine Regelschule (31,4 Prozent). Das ist ein Anstieg um 71 Prozent gegenüber dem Schuljahr 2008/09 (18,4 Prozent). Trotz der Fortschritte ist die Situation an deutschen Schulen für Kinder und Jugendliche mit Handicap noch unbefriedigend. Der Schüleranteil an Förderschulen geht kaum zurück und von bundesweit vergleichbaren Chancen auf Teilhabe an Inklusion kann noch keine Rede sein. Dazu kommt: In der Sekundarstufe bleibt Inklusion weiterhin eine Ausnahme. Das geht aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung hervor.

 

Je höher die Bildungsstufe, desto geringer due Chancen auf Inklusion

Unverändert gilt in Deutschland: Je höher die Bildungsstufe, desto geringer sind die Chancen auf Inklusion. Gemeinsames Lernen und Spielen ist in Kitas bereits weit verbreitet. Auch die Grundschulen nehmen immer mehr Förderschüler auf. Doch sobald Kinder mit und ohne Handicap eine weiterführende Schule besuchen, müssen sie in der Regel getrennt lernen. Während der Inklusionsanteil in deutschen Kitas 67 Prozent (2008/09: 61,5 Prozent) und in den Grundschulen 46,9 Prozent (2008/09: 33,6 Prozent) beträgt, fällt er in der Sekundarstufe auf 29,9 Prozent (2008/09: 14,9 Prozent). Besonders auffällig: Von den knapp 71.400 Förderschülern in den Schulen der Sekundarstufe lernt nur jeder Zehnte an Realschulen oder Gymnasien. Inklusion findet hauptsächlich an Hauptschulen und Gesamtschulen statt. Auch in der Ausbildung ist Inklusion noch die Ausnahme. "Inklusion in Deutschland macht Fortschritte. Zum gemeinsamen Lernen ist es aber noch ein weiter Weg. Inklusion ist insbesondere an weiterführenden Schulen und in der Ausbildung oft noch ein Fremdwort", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

 

Exklusionsquote geht nur leicht zurück


Bundesweit wird bei immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Zwischen den Schuljahren 2008/2009 und 2013/2014 ist diese Quote von 6,0 auf 6,8 Prozent und damit um 13 Prozent gewachsen. Zwar steigen die Inklusionsanteile seit Jahren, der Anteil der Schüler, die Förderschulen besuchen, sinkt hingegen nur leicht. Das ist ablesbar an der Exklusionsquote, die in den letzten Jahren nur minimal gesunken ist (2008/09: 4,9 Prozent; 2013/14: 4,7 Prozent). Vor Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention war die Exklusionsquote sogar niedriger (2001/02: 4,6 Prozent) als heute. Die fast gleichbleibenden Schüleranteile an Förderschulen trotz steigender Inklusionsanteile lassen sich bundesweit durch höhere Förderquoten erklären.

"Bei immer mehr Schülern in Deutschland wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Das stellt das Bildungssystem vor erhebliche Herausforderungen und zeigt, dass Investitionen in Inklusion nicht nachlassen dürfen. Zu oft scheitert gemeinsames Lernen an mangelhafter Infrastruktur und unzureichender Ausbildung der Lehrer", sagte Jörg Dräger.

 

Inklusion auf Länderebene: ein Flickenteppich


In den Bundesländern klaffen die Inklusionsanstrengungen weit auseinander. Während in den Stadtstaaten Bremen (Inklusionsanteil: 68,5 Prozent), Hamburg (59,1 Prozent) und Berlin (54,5 Prozent) oder in Schleswig-Holstein (60,5 Prozent) die Mehrheit der Förderschüler an Regel-schulen lernt, sind es in Hessen (21,5 Prozent) und Niedersachsen (23,3 Prozent) weniger als ein Viertel. Auch der Anteil der Schüler, die separiert an Förderschulen unterrichtet werden, unterscheidet sich erheblich. Die Spannweite liegt hier zwischen Exklusionsquoten von 6,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt bis zu 1,9 Prozent in Bremen. Nicht zuletzt weichen die Förderquoten in Folge unterschiedlicher Diagnosestandards auf Landesebene stark voneinander ab. Die höchste Förderquote in Mecklenburg-Vorpommern ist mit 10,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Niedersachsen (5,3 Prozent) oder Rheinland-Pfalz (5,4 Prozent).

 

Kritik aus Niedersachsen an den Zahlen

Angesichts der schlechten Zahlen für Niedersachsen kritisiert Kultusministerin Frauke Heiligenstadt die der Bertelsmann-Studie zu Grunde liegende Systematik.  „Die Bertelsmann Stiftung vergleicht, wie hoch der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler von Jahrgang 1-13 beträgt. In Niedersachsen wird die inklusive Schule nach und nach umgesetzt, daher sollten bei der Bewertung des Inklusionsfortschritts auch nur die Schuljahrgänge betrachtet werden, in denen der Rechtsanspruch bereits besteht."

In Niedersachsen, so Heiligenstadt, werde die inklusive Schule aufsteigend eingeführt: im Jahr 2013/2014 galt das Elternwahlrecht zunächst für die Jahrgänge 1 und 5, seitdem kommen jährlich zwei Jahrgänge dazu. „Der bundesweite Vergleich der Bertelsmann Stiftung, der sich im Übrigen auf zwei Jahre alte Erhebungen bezieht, hinkt und erweckt einen völlig falschen Eindruck. Wir sind in Niedersachsen schon viel weiter", so die Ministerin. Der niedersächsische Weg, die Inklusion behutsam und schrittweise umzusetzen, werde völlig ignoriert: In den betroffenen Schuljahrgängen lag die Inklusionsquote bereits 2013/2014 bei fast 45 Prozent. Im vergangenen Schuljahr 2014/2015 besuchten in den entsprechenden Jahrgängen schon rund 52 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf die inklusive Schule, also deutlich mehr als die Hälfte.

 

Quellen: Bertelsmann-Stiftung / Niedersächsisches Kultusministerium