Von der Philosophie über die wissenschaftliche Theorie zur Praxis

Wir sind mittendrin, aber wo sollen wir nur anfangen? -So fühlen sich viele Träger, Fachberater*innen, KiTa-Leitungen und Fachkräfte rund um das Thema Digitalisierung und Medienbildung. Im Hauruck -Verfahren wurde während der Pandemie die technische Infrastruktur und Digitalisierung in den KiTas irgendwie vorangebracht und nun ist der bundesweite Flickenteppich bunter denn je.

Es lässt sich im Feld beobachten, dass Kommunen und Träger oftmals keine Konzepte haben und kaum Ressourcen für IT-Verantwortliche. Fachberater*innen haben sich eingelesen oder ein bisschen fortgebildet, aber ebenfalls wenig Ressourcen für neue Aufgaben und Themen - und sind nicht selten unschlüssig in der eigenen Haltung. KiTa-Leitungen versuchen innerhalb der aktuellen digitalen Welt Standpunkte und Konzeptionen zu entwickeln. Dabei müssen sie unter anderem zwischen Präferenzen und Widerständen im Team und den pädagogischen Anforderungen im Alltag vermitteln. Kompetente Hilfe und Beratung von außen bleibt für alle Beteiligte oft noch Mangelware oder diese kratzt gerade an der Spitze des Eisbergs, von dem bekanntlich der größte Teil immer unsichtbar ist.

Orientierung und Unterstützung können aktuelle Publikationen zu diesem Themenfeld geben und sollen im Folgenden in einem „Top downTop down||||| Stammt aus dem Englischen und bedeutet "von oben herab". Hierbei werden Vorgehensweisen beschrieben, die von etwas Abstraktem, Allgemeinen und Übergeordneten ausgehen und sich schrittweise hin zum Konkreten, Speziellen oder Untergeordneten bewegen. In sozialpädagogischen Handlungsfelder sind das unter anderem Prozesse, bei denen ausgehend von Handlungsvorgaben,Verordnungen oder Gesetze etc., diese "von oben herab" für die konkret Tätigen im sozialpädagogischen Feld erlassen oder geschrieben werden.   “ vorgestellt werden: Als erstes kommt der habilitierte Medienwissenschaftler Roberto Simanowski mit seinem Essay „Digitale Revolution und Bildung“ zu Wort. Dann werfe ich einen Blick in den Sammelband „Kita digital“ von Herausgeber Prof. Norbert Neuss und zum Schluss betrachte ich die Praxisideen von Susanne Roboom in „Mit Medien kompetent und kreativ umgehen“.

Vom Analogen zum Digitalen

simanowskiDas Buch von Medienwissenschaftler und Publizist Roberto Simanowski ist 2021 im Belz Verlag erschienen und umfasst rund 100 Seiten. In sieben Kapiteln befasst er sich mit der These „Fit für die Zukunft heißt weniger funktionstüchtig als kritikfähig zu sein. Was wir brauchen, ist mehr Bildung nicht mit, sondern über und auch gegen digital Medien“, so der Klappentext. Wie kommt er dazu?

Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf dem Bildungsbereich Schule, einige Ausführungen lassen sich aber problemlos auf KiTa und andere Bereiche anwenden. Eine seiner Grundkritiken lautet, dass Mangel (z.B. an Räumen oder Lehrern) oder die Pandemie nicht als Begründung für Digitalisierung herangezogen werden dürfen. Digitale Bildung, so Simanowski, müsse die Antwort auf die Digitalisierung sein (S. 9). Für die Bildung schlägt er vor, dass Kinder Medien in ihrer geschichtlichen Abfolge kennenlernen sollten. Also zunächst „sprechen, singen, malen lernen, dann das Lesen, dann das Fotografieren, bevor sie sich den elektronischen und digitalen Medien zuwenden“. Auch wenn ein Computer heute ein Alleskönner ist, so ändert sich das analoge Medium in seiner digitalen Kopie (S. 20).

Weiterhin kritisiert der Wissenschaftler, dass der Umgang mit dem PC für Kinder oftmals einen „verkehrspolizeilichen Geist“ habe. Es geht mit Angeboten wie „Surfschein, Medienführerschein oder Computerführschein“ um das Erlernen von Umgangsregeln mit dem PC und digitalen Medien. Viel wichtiger wäre aber eine kriminalistische Herangehensweise, die hinter den (Touch-) Screen schaut, um sich zu fragen: „Welche Geister rufen wir, welche wollen wir wieder loswerden und welche auch gar nicht erst wecken?“ (S. 74). Das kann man auch mit Kindern gemeinsam tun.

Simanowski ist der Meinung, dass es vor allem analoge Fähigkeiten benötigt, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern. Das sachliche Vorbringen und Annehmen von Kritik z.B. ist für die demokratische Gesellschaft überaus wichtig. „Wer Zukunftsfähigkeit im Zeitalter der Digitalisierung nachhaltig denkt, der setzt auch auf Fächer (bzw. Angebote), die keine technischen Erkenntnisse und praktischen Fertigkeiten vermitteln.“ (S.27) Keineswegs ist er ein Gegner von digitalen Angeboten oder didaktischen Möglichkeiten, doch er verurteilt die vorschnelle Anwendung und falsche Heilsversprechen. Online-Unterricht ist ihm zufolge keine Vorbereitung auf eine digitale Zukunft, sondern nur eine andere Art, Schulstoff zu vermitteln. Auch ein Pflichtfach Informatik sei nicht die Lösung. Er plädiert für eine Medienreflexionskompetenz, die sich mit der Frage beschäftigt welche sozialen, kulturellen und philosophischen Folgen die Digitalisierung hat und plädiert dafür, dass es weiterhin notwendig bleibt, geduldig zuzuhören, konzentriert einen langen und komplizierten Text zu lesen und sachlich, tolerant, ergebnisoffen und selbstkritisch zu diskutieren (S. 94f).

Das Buch eignet sich, um noch einmal grundlegend über digitale Medien und die Digitalisierung nachzudenken und ist auch für Leser*innen geeignet, die sonst seltener wissenschaftliche Texte lesen.

Positive Effekte und Chancen im Fokus

neussEbenfalls 2021 hat Prof. Norbert Neuss als Herausgeber im Belz Verlag den Sammelband „Kita digital – Medienbildung, Kommunikation – Management“ veröffentlicht. Auf rund 150 Seiten kommen 15 Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis zu Wort, die unter anderem aktuelle Forschungsergebnisse sowie Praxisbeobachtungen und Erfahrungen beschreiben.

Hier unterscheiden sich Texte, die von Praktiker*innen geschrieben wurden teilweise stark von den wissenschaftlichen Artikeln. Einigen Texten aus der Praxis fehlt ein kritischer Ansatz gänzlich! Da wird z.B. bedenkenlos der Einsatz von Apps großer Firmen wie Google, Meta und Appel beworben, ohne auf die Risiken einzugehen (S.100ff). Ein aufklärender Artikel widmet sich der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) (S. 102ff) und ein weiterer befasst sich mit aktuell zur Verfügung stehen KiTa-Apps. Hier weist der Autor darauf hin, dass man grundsätzlich den Einsatz auf das Nötige beschränken und immer den Datenschutz im Blick haben sollte (S. 66). Erste Untersuchungen aus der Schweiz zeigen auf, welche unterwünschten Nebenwirkungen der Einsatz von „KiTa-Apps“ in der Praxis haben kann (S. 130). Mehrere Autor*innen scheiben immerhin von einem nötigen kritischen und selbstreflektierten Umgang mit (digitalen) Medien in der KiTa. Ein Beitrag arbeitet allerdings heraus, dass in einer Stichprobe nur 6% der KiTa-Teams auch schon eine Teamfortbildung zu dem Thema hatten. Häufiger haben einzelne Fachkräfte oder Leitungen an Fortbildungen teilgenommen und immerhin 78% gaben an, dass ihr Träger einen verlässlichen Ansprechpartner zur Verfügung stellt.

Im Großen und Ganzen sind sich die Autor*innen des Sammelbandes einig, dass die Digitalisierung in der KiTa bereits da ist, dass sie zunimmt und auch viele positive Effekte hat sowie Chancen birgt. Mehrere Autoren*innen sprechen an, dass über die Arbeit in der KiTa Kinder und Familien „Medienkompetenz“ erlangen sollen. Das dies auf vielfältige Art erfolgen kann, wird in dem Band deutlich. Das Buch eignet sich daher gut für Träger und Fachberatungen, um einen ersten Überblick auch über aktuelle Forschungsergebnisse zu erhalten. Tiefgreifende Bedenken und andere Betrachtungsweisen, wie Simanowski sie beschreibt, fehlen aber meist.

Lernen mit und Lernen über Medien

roboomSusanne Roboom ist mit „Blickwechsel e.V.“ sowie als Referentin und Autorin seit vielen Jahren Fachfrau in Sachen Medienbildung in der Kita. 2019 erschien die überarbeitetet Auflage ihres Buchs „Mit Medien kompetent und kreativ umgehen“ (Belz Verlag). Auf 130 Seiten beschreibt sie nach einer Einführung in „Basiswissen“ insbesondere praktische Beispiele und ihren Einsatz in der KiTa. Hierbei geht es um Sprache und Lesen, Emotionen und soziales Lernen, kulturelle Bildung, MINT-Bildung sowie Bewegung und Gesundheit.
Jedes Kapitel ist mit Informationskästen und Fotos und einführenden Zitaten und weiterführenden Literaturtipps versehen. Die Aufmachung und Gestaltung und der dargestellten Praxisideen ist sehr übersichtlich. Das Buch ist somit direkt für den Arbeitsplatz der Fachkraft in der Gruppe geschrieben. Ein Buch, dass Lust weckt, sofort die teils verstaubten Geräte aus den Schränken zu holen und auszuprobieren.

Aber halt! Das Einführungskapitel ist lesenswert, denn es beschreibt im Ansatz die Bedenken, die von Simanowski geäußert werden – nur heruntergebrochen auf die Zielgruppe: „Das Lernen mit Medien eröffnet auch Chancen zum Lernen über Medien – Medienkompetenz gehört unbestritten zu den Schlüsselqualifikationen, um kompetent, kritisch und aktiv an dieser Gesellschaft teilhaben zu können“ (S.5). Die Autorin geht kritisch auf einige Medien ein, streift kurz den Datenschutz genau wie „Big Data“ und kommerzielle Interessen von Anbietern. Weiterhin regt sie an, mit neuen Medien auch „Brücken zu alten Medien zu bauen“ und sagt weiterhin: „Wenn sie auch sonst bei Neueinführungen keine „Führerscheine“ machen, sollte sie bei digitalen Medien nicht damit anfangen (…) (S. 18).

Roboom hat immer die Lebenswelt der Kinder und Familien im Blick und plädiert dafür, Technik als ergänzendes Angebot in der KiTa einzusetzen und nicht unnötig interessant zu machen. Gleich ihr erstes Praxisprojekt befasst sich gar nicht mit einem digitalen Gerät, sondern mit der kritischen Betrachtung von „Medienstars“ wie sie im Alltag der Kinder vorkommen. Roboom empfiehlt KiTas, sich als Team zusammenzusetzen und sich bei einer Fachberatung oder Fortbildner*in Unterstützung bei der Konzeptentwicklung zu holen (S. 14).

Fazit

Neuss u.a. beschreiben die Situation vor Ort in einem Spannungsfeld zwischen Medieneuphorie und Bewahrpädagogik, zwischen (digitalem) Kompetenzerwerb und (Gesundheits-) Prävention. KiTas hätten dabei mit unterschiedlichsten Voraussetzungen und Vorgaben umzugehen Die Diversität und die damit einhergehende „digitale Ungleichheit“ wird sich erstmal nicht auflösen lassen. Fest steht aber auch, dass Kinder ein Recht auf Bildung und Medienkompetenz haben (UN-Kinderrechtskonvention).

Somit bleibt am Ende nur der Blick auf die pädagogischen Aktivitäten mit (digitalen) Medien in der KiTa, weil sich hier am schnellsten und einfachsten „Erfolge“ verzeichnen lassen. Auch Simanowski weiß, dass es meist nicht mehr der kindlichen Lebenswelt entspricht, zuerst analoge und dann digitale Fotografie kennen zu lernen. Inwieweit die Erstellung von digitalen Bilderbüchern oder des digitalen PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. s eines Kindes mit einer App nun dazu führt, dass Kinder auf die Zukunft vorbreitet werden, ist aber noch zu diskutieren - ergebnisoffen natürlich.

Letztlich geht es beim Thema Digitalisierung und Medienbildung auch um eine philosophische Frage: „Wie wollen wir als Gesellschaft miteinander leben oder sollte alles, was technisch möglich und ökonomisch erwünscht ist auch umgesetzt werden?“


Lese-Tipps zum schnellen Einstieg:

nifbe Themenheft Nr. 33- Medienbildung in der KiTa

nifbe-Fachbeiträge zur Medienkompetenz und - bildung


Iris Hofmann