Zur Begrüßung unterstrich der nifbe-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Jan Erhorn die Bedeutung der Demokratiebildung und Partizipation, denn: „die Demokratie in unserer westlichen Welt und damit auch in Deutschland war lange nicht mehr so gefährdet und unter Druck wie in den letzten Jahren“. Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit und „muss daher immer neu verstanden, bestätigt, verteidigt und vor allem gelebt und erlebt werden – und das von Anfang an.“ Wie Jan Erhorn weiter ausführte, stellt die KiTa „einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft da und kann in idealer Weise zu einer ‚Kinderstube der Demokratie‘ werden“, in der Kinder lernen in einer Gemeinschaft sozial verantwortlich und nach demokratischen Prinzipien zu handeln. Demokratie könne in der KiTa aber natürlich nicht abstrakt erklärt werden, sondern müsse tagtäglich gelebt und erlebt werden. Dies sei auch Ziel der in der aktuellen nifbe-Qualifizierungsinitiative angebotenen „Demokratie-Werkstätten“.
Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne wies in seinem Grußwort auf die gegenwärtig „extrem herausfordernden Zeiten“ mit der Corona-Pandemie und dem Angriffskrieg auf die Ukraine hin. Die Krisen „rütteln an der alltäglichen Arbeit und zehren an den Kräften der Fachkräfte“ sagte er. Aber gerade auch angesichts solcher Krisen werde deutlich, „dass Demokratiebildung in der KiTa nicht hoch genug eingeschätzt werden kann“ und dass die KiTa eine immer wichtigere Rolle als „Lernort der Demokratie“ spiele. In der KiTa könnten die Kinder „Toleranz, Solidarität und Rücksichtnahme lernen und leben“ und in all ihrer Vielfalt eine demokratische Gemeinschaft bilden. Grant Hendrik Tonne dankte den vielen KiTa-Fachkräften, die sich schon mit so viel Engagement und Herzblut für die Demokratiebildung und die Partizipation in der KiTa einsetzen.
„Der Weg lohnt sich“
Wie Demokratiebildung und Partizipation in der KiTa-Praxis tatsächlich umgesetzt werden kann und welche Hindernisse dabei auch überwunden werden müssen, erfuhren die Tagungs-Teilnehmer*innen aus dem gesamten Bundesgebiet in einem von Inga Doll und Meike Sauerhering moderierten Praxistalk. Die nifbe-Prozessbegleiter*innen Daniel Frömbgen und Martina de Vries sowie die KiTa-Leiterin Christine Gromm berichteten aus ihren vielfältigen Erfahrungen rund um das Thema.Unisono unterstrichen sie, dass die konsequente Umsetzung von Demokratiebildung und Partizipation in der KiTa lange dauert und es neben der Geduld auch den Mut braucht, neue Wege zu gehen und Gewohntes loszulassen. Themen mit viel Konfliktpotenzial seien dabei das Essen oder auch das Anziehen: Muss der Probierlöffel sein und dürfen Kinder auch bei Kälte nur im T-Shirt nach draußen gehen? An jeder Ecke des KiTa-Alltags würden immer wieder solche kontroversen Fragen auftauchen, über deren Beantwortung im Team ein gemeinsamer Konsens hergestellt werden müsse. Wichtig sei es, die Rückmeldungen der Kinder ernst zu nehmen, um den Alltag partizipativ umzugestalten und des Weiteren die Eltern früh mit ins Boot zu nehmen.
Zusammenfassend formulierte Daniel Frömbgen drei Leitsätze für die Einführung oder Weiterentwicklung der Demokratiebildung und Partizipation in der KiTa:
- Geduld haben und sich die Zeit nehmen, die es braucht, damit sich die demokratisch-partizipatorischen Prozesse in der KiTa etablieren können
- Intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und den Kolleg*innen, um zu gemeinsamen Positionen zu kommen, denn „Demokratie lebt vom Streit um die Sache“
- Routinen verändern und Neues ausprobieren – "das Schwerste überhaupt"
Die Praktiker*innen stellten die konsequente Demokratiebildung und Partizipation in der KiTa als „Paradigmenwechsel“ und „einschneidende Veränderung unserer Arbeit“ dar. Und „man ist nie fertig damit“. Auch wenn die ersten Schritte durchaus hart und anstrengend seien, ließen die Früchte nicht auf sich warten: Wenn Demokratiebildung und Partizipation sich in der KiTa etabliert habe, werde der KiTa-Alltag leichter und die Fachkräfte von vielen Entscheidungen und Interventionen entlastet. Die Kinder würden durch die vielen neuen Selbstwirksamkeitserfahrungen selbständiger und selbstbewusster, gelassener und ausgeglichener und könnten ihre Bedürfnisse zunehmend selbst benennen. Viel mehr als sonst sei der KiTa-Alltag durch positive Begegnungen und Beziehungen bestimmt und Kinder und Fachkräfte erlebten sich als Gemeinschaft, in der es keinen „Bestimmer“ mehr brauche. „Der Weg lohnt sich“ waren sich in diesem Sinne die Diskutanten einig.
In ihrem Auftakt-Vortrag stellte Prof. Dr. Raingard Knauer von der Fachhochschule Kiel die demokratische Partizipation als „Leitziel von KiTa-Pädagogik“ dar – und zwar im Hinblick auf verschiedene Aspekte wie
- Kinderrecht
- Schutz vor Machtmissbrauch
- Schlüssel für Bildung
- Schlüssel für Demokratiebildung
- Bedingung für Inklusion
Als Basis und ersten Schritt führte sie die Einführung demokratischer Strukturen und die Klärung der Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder an. Es sei der Weg „von willkürlicher Gnade zu verbindlichem Recht“. In einer „KiTa-Verfassung“ müsse geklärt werden, wo Kinder das Recht haben selbst zu entscheiden oder mitzuentscheiden und wo sich Fachkräfte das Recht vorbehalten, zu entscheiden.
Rechte der Kinder klären und ihnen vermitteln
In einem zweiten Schritt müssten die Kinder dann ihre Rechte auf ganz verschiedenen Wegen kennen lernen – z.B. durch Visualisierung, durch sinnliche Konkretion abstrakter Inhalte, durch das Sprechen über demokratisches Handeln oder durch die Bestätigung der Kinder in ihren Selbstbestimmungsrechten bei entsprechenden Anlässen im KiTa-Alltag. Wichtig sei es auch, die Übergänge von der Selbst- zur Mitbestimmung zu gestalten und Situationen zur Mitbestimmung bewusst wahrzunehmen und aufzugreifen. Grundsätzlich, so Raingard Knauer, sei es im Kontext von Demokratiebildung und Partizipation auch notwendig (und bisher stark vernachlässigt) die jeweiligen Gefühle der Kinder und der Fachkräfte selbst wahrzunehmen und darüber zu sprechen bzw. sie zu reflektieren.Gemeinsame Entscheidungen treffen
Als zweiten umfassenden Handlungsaspekt stellte sie das in Beziehung setzen des einzelnen Kindes zur Gruppe und der gesamten KiTa-Gemeinschaft vor. Hier sei es notwendig über Beteiligungsgremien wie Gruppen-Konferenz oder KiTa-Konferenz und verbindliche Verfahren zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Zu achten sei dabei darauf, dass auch Kinder, die besonderer Fürsorge bedürfen, die Chance haben sich einzubringen. „Wir müssen Kinder ungleich behandeln, damit alle ihre Rechte wahrnehmen können“ unterstrich Raingard Knauer an dieser Stelle.Abschließend nahm die Referentin in den Blick, was Fachkräfte dabei unterstützt, Kinder systematisch demokratisch zu beteiligen. Hier wies sie auf die zentrale Rolle der Leitung, aber auch auf die Unterstützung von Fachberater*innen und Fortbildner*innen hin. Die Träger seien durch entsprechende Vorgaben und Rahmenbedingungen gefordert. Grundsätzlich, so Raingard Knauer, brauche die Entwicklung von Demokratiebildung und Partizipation in den KiTas gute Unterstützungssysteme sowie eine demokratische (Führungs-) Kultur auf alle Ebenen.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
In einem zweiten Hauptvortrag nahm Bianka Pergande, Geschäftsführerin der Deutschen Liga für das Kind, das Kinderrecht auf Selbst- und Mitbestimmung im Krippen-Alltag in den Blick. Sie stellte dabei klar, dass das Beteiligungsrecht „für alle Kinder ohne Altersgrenze gilt“. Grundsätzlich, so die Referentin, sei die Demokratiebildung und Partizipation ein Bildungsauftrag der KiTas und Fachkräfte sollten folgende demokratierelevante Kompetenzen fördern:- Das Respektieren des Rechts auf Autonomie des Anderen
- Die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und das (sprachliche) Benennen
- Das Aushandeln von unterschiedlichen Interessen
- Das Erkennen und Benennen von sowie das Entgegenstellen bei Grenzüberschreitungen, Vorurteilen und Diskriminierungen
- Selbstwirksamkeit und Selbstzuschreibung von Selbstwirksamkeit
Rechteträger und Verantwortungsträger
Bianka Pergande wies auf ein nicht wegzudiskutierendes Machtgefälle zwischen den Kindern als Rechteträgern und den Fachkräften als Verantwortungsträgern hin. Daher sei es notwendig die entsprechende Macht genau zu reflektieren und die Selbstbestimmung der Kinder und ihre Verantwortlichkeit für das Kindeswohl jeweils gut abzuwägen. Eine pädagogische Umgebung sei dann ideal partizipativ, wenn in ihr das Autonomiebedürfnis des Einzelnen anerkannt, die Autonomie eines jeden nur durch die gleiche Autonomie der anderen und durch die Schutzrechte begrenzt wird. Gehemmt werde Partizipation durch eine den kindlichen Selbstwert mindernde Kommunikation sowie durch ein Verhalten, dass Partizipations-Gelegenheiten verhindert und die eigene Macht demonstriert.Erschütternder Blick in die Realität
Wie die Partizipation in der Krippe derzeit tatsächlich gelebt wird, führte Bianka Pergande anhand der von ihr mit durchgeführten „BiKA“-Studie vor Augen. In knapp 90 KiTas aus Ost und West, aus Stadt und Land und mit unterschiedlichen Trägern wurden 18-30 Monate alte Kinder in der Interaktion mit Fachkräften in Schlüsselsituationen wie Essen. Spiel und Buch anschauen videographiert.In der Schlüsselsituation Essen ergaben sich dabei erschreckende Ergebnisse:
- Nur gut ein Viertel der Kinder durfte selbst entscheiden, was auf den Teller kommt und über die Hälfte nicht.
- Ein Viertel der Kinder konnte auch nicht selbst entscheiden, was sie kosten und knapp 40 Prozent nicht entscheiden, wieviel sie essen.
- Knapp die Hälfte der Kinder wurden gefüttert, obwohl sie selbständig essen konnten und auch wollten.
- In diesem Sinne musste Bianka Pergande eine „häufig unangemessene Assistenz beim Füttern, aber auch beim Gesicht abwaschen oder Nase putzen“ konstatieren. Grundsätzlich wurde in allen beobachteten Schlüsselsituationen „nur marginal“ über Emotionen und Überzeugungen gesprochen.
„Die direkte Handlungsanweisung und grenzüberschreitendes nonverbales Verhalten“, so resümierte die Referentin die Studienergebnisse, „gehört für viele Krippenkinder zum Alltag und über die Hälfte der Kinder konnte über ureigenste Angelegenheiten wie das Schlafen nicht mitbestimmen.“ Deutlich sei auch geworden, dass Fachkräfte eigene Partizipations-Erfahrungen in der Kindheit „signifikant in die eigenen Erziehungsziele übernehmen.“ Deutlich wurde hier auch noch einmal die Bedeutung von Biographiearbeit für die Realisierung der Partizipation in den KiTas.
Ungenügende Rahmenbedingungen
Abschließend forderte Bianka Pergande u.a. die Mindeststandards für KiTa an die Realisierung der Kinderrechte zu koppeln und insbesondere den partizipativ zu gestaltenden Schlüsselsituationen wie Essen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.Im Anschluss an die beiden Hauptvorträge konnten die Tagungsteilnehmer*innen das Thema der Demokratiebildung und Partizipation in zehn verschiedenen Workshops vertiefen – von der Entwicklung demokratischer Strukturen und Verfahren in der einzelnen KiTa und auch im Gesamtsystem über spezifische Fragen der Partizipation von Krippenkindern bis zur kulturellen Vielfalt in der Demokratiebildung.
"Seid ihr fertig mit dem Gesage?"
Deutlich wurde auf der Tagung, dass es wichtig ist, sich als Team gemeinsam auf den Weg zu machen, um die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder und auch der Fachkräfte zu reflektieren. Dann gilt es möglichst bald ins konkrete Handeln zu kommen, Routinen hinter sich zu lassen und Neues auszuprobieren. Dabei dürfen die Fachkräfte und Teams sich auch Umwege und Sackgasen erlauben und sollten sich selbst gegenüber fehlerfreundlich sein. Auf wunderbare Weise passt hier zum Abschluss das im Praxistalk wieder gegebene Zitat eines Kindes, das unwiderstehlich zum Handeln aufruft: „Seid ihr fertig mit dem Gesage?“Karsten Herrmann