BAG-BEK-Tagung diskutiert Fachkräftesicherung in einem „Multiproblemfeld“
Die Fachkräftesicherung stand im Fokus der digitalen Frühjahrskonferenz der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG-BEK). Neben aktuellen Prognosen für den Fachkräftebedarf wurden verschiedene Modelle der Fachkräftegewinnung und -bindung vorgestellt und gemeinsam Strategien für die Zukunft diskutiert. Deutlich wurde, dass das ganze System und die Organisationsentwicklung in den KITas viel stärker als bisher mit gedacht werden muss.Die BAG-BEK-Vorsitzende Prof. Dr. Tina Friederich zeigte sich sehr erfreut über die mit fast 200 Teilnehmer*innen aus allen Bereichen des Feldes „tolle Resonanz“ auf die Frühjahrskonferenz. Sie markierte das Thema der Fachkräftegewinnung und –bindung als „ganz zentrales bildungspolitisches Thema der frühkindlichen Bildung“. Durch den Krieg in der Ukraine und die von dort geflüchteten Familien gewinne der aktuelle Personalmangel noch einmal an Dringlichkeit. „Es geht nicht“, so Tina Friederich, „wenn wir jetzt in einem System, das schon auf dem Zahnfleisch geht, einfach nochmals die Standards senken, um Kinder aus der Ukraine aufzunehmen – zumal, wenn diese traumatisiert sind und eine ganz besondere Zuwendung benötigen."
Von dieser eindringlichen Warnung ging es zunächst einmal zu den nüchternen Zahlen und den Prognosen zum Fachkräftebedarf im KiTa- und Ganztagsbereich über. Ninja Olszenka vom Forschungsverbund TU Dortmund und DJI stellte dazu zwei ktuelle Studien vor, die ein differenziertes Bild zu einem komplexen Thema zeichneten. Zentrale zu beachtende Faktoren sind hier auf der einen Seite die grundsätzlichen demographischen Entwicklungen und die in zwei unterschiedlichen Varianten prognostizierten Platz-Bedarfe der Eltern. Auf der anderen Seite steht der entsprechende Personalbedarf, der sich aus Abgängen z.B. aufgrund von Verrentung oder Berufswechsel sowie Zugängen durch Ausbildung, Studium, Quereinstiege usw. zusammensetzt.
"Gebremste Expansionsdynamik"
Insgesamt, so Ninja Olszenka, ergibt sich aus den aktuellen Zahlen eine im Vergleich zu den vergangenen Jahren „gebremste Expansionsdynamik“. In Westdeutschland besteht dabei aber doch noch für einige Jahre ein Ausbaubedarf. Um den Bedarfen der Eltern gerecht zu werden, müssten bis 2030 in Abhängigkeit von diesen Annahmen – je nach Szenario – für rund 372.000 bis 534.000 Kinder bis zum Schuleintritt Plätze geschaffen werden. Der sich zusammen mit den voraussichtlichen Personalausstiegen ergebende Personalgesamtbedarf in KiTas in Westdeutschland läge somit zwischen 203.000 und 235.000 Personen und kann rein rechnerisch zumindest bis Mitte des Jahrzehnts nicht vollständig durch die erwarteten Zugänge aus der Ausbildung gedeckt werden.Wie Ninja Olszenka ausführte, sind für Ostdeutschland aufgrund der stärker rückläufigen Bevölkerungsentwicklung einerseits sowie der zugleich geringeren aktuellen Lücke zwischen Angebot und Nachfrage andererseits, deutlich schwächere Ausbaubedarfe bzw. sogar Minderbedarfe zu erwarten. Im Jahr 2030 werden demnach voraussichtlich weniger Plätze benötigt als im Vergleichsjahr 2019 – und nur in der Zwischenzeit bestünde ein vergleichsweise geringfügiger zusätzlicher Bedarf von bis zu 22.000 Plätzen. Der Personalgesamtbedarf für die Betreuungsangebote für Kinder vor dem Schuleintritt in Ostdeutschland bis zum Jahr 2030 läge damit bei rund 22.000 bis 31.000 neu einzustellenden Personen in Kitas. Dieser Personalbedarf könnte, wie Ninja Olszenka ausführte, durch die erwarteten Zugänge aus der Ausbildung in Ostdeutschland gedeckt werden und es ergäbe sich sogar ein zusätzliches Potenzial von 30.000 bis 50.000 Fachkräften, die theoretisch Lücken in Westdeutschland füllen könnten.
Entwarnung - aber nur ohne Qualitätsentwicklung
Wie auch in der Diskussion von vielen Teilnehmer*innen unterstrichen und kritisiert wurde, ist bei diesen Zahlen jedoch noch keine der aus wissenschaftlicher Perspektive dringend gebotenen Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels berücksichtigt. Die Personalbedarfe in Ostdeutschland könnten alleine wegen der dort zum Teil wesentlich schlechteren Quoten als in Westdeutschland gedeckt werden.Unabhängig von der Frage der weiteren Qualitätsentwicklung konnte Ninja Olszenka so mittelfristig leichte Entwarnung beim Fachkraftmangel geben, unterstrich aber für die Jahre bis 2025: „Jetzt sind sehr schnelle und kurzfristig wirkende Lösungsansätze notwendig“ – und dies gilt ganz aktuell auch für die Aufnahme von geflüchteten Kindern aus der Ukraine.
Schwierige Datenlage im Ganztagsbereich
Eine schwierige Datenlage musste Ninja Olszenka im Hinblick auf die Ganztagsbetreuung konstatieren, da die Zahlen hier einerseits durch die Kinder- und Jugendhilfe und andererseits durch die Kultusministerkonferenz erfasst werden – und dies auch zum Teil doppelt. Bereinigt ergeben sich dadurch aktuell 1.633.000 Ganztagsplätze im Grundschulbereich, was eine Inanspruchnahme von 55 Prozent entspricht. Bei einer zu erwartenden steigenden Inanspruchnahme auf 65 Prozent ergäbe sich bis 2030 ein Mehrbedarf an Ganztagsplätzen von 500.000 – 700.000. Im Hinblick auf den entsprechenden Personalbedarf musste die Statistikerin noch gravierendere Lücken in der Erfassung einräumen: So gebe es kaum Daten zu Alter, Qualifizierung oder Beschäftigungsumfang der jetzigen Ganztagskräfte. Grob prognostizieren konnte sie jedoch einen Mehrbedarf von 29.000 – 40.000 zusätzlichen Vollzeit-Stellen.Neben den fehlenden Daten für den Ganztagsbereich wurden in der anschließenden Diskussion auch insbesondere auf fehlende Begriffsbestimmungen und Qualitäts-Konzepte im Ganztagsbereich eingegangen. Hier zeigte sich, dass dieser Bereich trotz des Rechtsanspruchs ab 2026 noch eine riesige Baustelle darstellt, die dringend bearbeitet werden muss.
Modelle und Strategien für die Fachkräftegewinnung
Nach den grundlegenden Zahlen wurden auf der BAG-BEK-Tagung in kurzen Impulsen exemplarische Strategien und Modelle für die Fachkraftgewinnung vorgestellt und diskutiert. Zum Auftakt nahm Tina Friedrich als Professorin der Katholischen Stiftungshochschule in München die Gewinnung von Fachkräften mit Migrationshintergrund in den Fokus. Zu unterscheiden sind dabei einerseits „Personen mit eigener Zuwanderungsgeschichte und ausländischer Qualifikation“ und andererseits Personen ohne eigene, aber mit familiärer Migrationsgeschichte. Derzeit haben 17% der Fachkräfte in KiTas Migrationshintergrund und sind damit im Vergleich zu 23 Prozent Gesamtanteil bei allen Erwerbstätigen in diesem Bereich noch deutlich unterrepräsentiert. Wie Tina Friederich ausführte, stehen Fachkräfte mit ausländischer Qualifikation vor dem Eintritt in die KiTa jedoch vor hohen Hürden durch komplizierte Verfahren bei der Prüfung auf Vergleichbarkeit sowie Anpassungslehrgänge oder Eignungsprüfungen. „Es gibt unglaublich viele unterschiedliche Anerkennungsregelungen und Zuständigkeiten in den Bundesländern“ und eine vollständige Anerkennung als Erzieherin sei die Ausnahme – nicht zuletzt weil es international kaum eine vergleichbare (Breitband-)Ausbildung gebe. Zumeist laufe es daher nur auf eine Teilanerkennung und / oder eine Anerkennung auf geringerem Qualifikationsniveau, also auf ein „Downgrading“ hinaus. In 2017/18 hätte es bundesweit ungefähr 2.000 Anerkennungsverfahren für den Beruf der Erzieherin gegeben und damit die fünftmeisten aller Berufe. Tina Friederich unterstrich das grundsätzliche Entwicklungspotenzial dieser Ressource, forderte aber zugleich: „Wir brauchen einfachere Anerkennungsverfahren und eine gezielte Ansprache“ sowie nicht zuletzt entsprechende Anpassungsmaßnahmen und Qualifizierungen.Prof. Dr. Peter Cloos beleuchtete als Mitglied des Sprecherrates des Studiengangstages Pädagogik der Kindheit die „in der Diskussion um die Fachkräftegewinnung vernachlässigte Ressource der Kindheitspädagoginnen“. Entgegen vieler Prognosen und Hoffnungen stagniert die Anzahl der Kindheitspädagog*innen in der KiTa seit einigen Jahren und beläuft sich aktuell auf rund 8.000 oder ein Prozent des Gesamtpersonals. Peter Cloos zeigte die „Push- und Pullfaktoren“ für eine Tätigkeit in der KiTa auf und auf der positiven Seite markierte er u.a. eine „breite Akzeptanz und hohe Erwartungen bei den Trägern“, den schnellen Aufstieg in Leitungspositionen und die häufig unbefristeten Stellen. Auf der anderen Seite bildet die KiTa aber nur für 45 Prozent der Kindheitspädagog*innen das Wunscharbeitsfeld und sie müssten sich dort mit einer nicht-akademischen Bezahlung und fehlenden differenzierten Aufgabenprofilen arrangieren. Zudem bildeten sie in der KiTa eine Minderheit und sähen sich Unsicherheiten und Vorbehalten der klassischen Fachkräfte ausgesetzt. An dieser Stelle kritisierte Peter Cloos, dass es in den KiTas nur wenig Auseinandersetzung mit und Vorbereitung auf multiprofessionelle Teams gebe. In diesem Sine müsse das Fachkräfteproblem auch im Kontext von Organisationsentwicklung und einem kompetenten Gesamtsystem diskutiert werden. Für die stärkere Gewinnung von Kindheitspädagog*innen plädierte er für den konsequenten Ausbau der Studienplätze, insbesondere auch an Universitäten, für die Schaffung von Fachkarrieren sowie eine „bessere Sichtbarkeit“ dieser Profession im Feld.
Die neue Fachkräftevereinbarung für Rheinland-Pfalz stellte Xenia Roth aus dem Ministerium für Bildung vor. Mit dieser Vereinbarung sollen multiprofessionelle Teams gefördert werden und im Vordergrund stehe dabei die „fachliche Überzeugung“, so die Referentin. Die in das neue KiTaG eingebettete Vereinbarung sieht in der KiTa einen Anteil von mindestens 70 Prozent für Pädagogische Fachkräfte auf dem DQR-6-Level vor und einen Anteil von höchstens 30 Prozent für Assistenzkräfte und „profilergänzende Kräfte“. Letztere können „vielfältigste bildungs- und lebensbiographische Hintergründe haben“ und „sollen für eine Stärkung des Bezugs zur kindlichen Lebenswelt in der KiTa sorgen“. Unter anderem kann hier der berühmte Tischler gemeint sein, aber auch der Schauspieler oder Musiker. Ihre Einstellung hänge dabei von der jeweiligen Konzeption der KiTa ab, zu der ihre Expertise passen müsse. Qualifiziert werden diese Quereinsteiger, so Xenia Roth, durch eine 160stündige Qualifizierung und bezahlt nach S2.
Strukturell anderes Denken notwendig
In der anschließenden Diskussion der drei Modellbeispiele forderte Peter Cloos im Sinne der Organisationsentwicklung und des kompetenten Systems ein „strukturell anderes Denken“ für die zukünftige Fachkräftegewinnung und die Etablierung von multiprofessionellen Teams. Man könne nicht immer nur den Bedarfen hinterherlaufen. Jannes Boekhoff, Vorsitzender des Berufsverbands für Kindheitspädagogik, verwies in diesem Sinne auch auf die „notwendige Zeit für Austausch und gemeinsames Denken in der KiTa“ und warnte davor, multiprofessionelle Teams als Deckmantel für eine Deprofessionalisierung zu nutzen.Analysen und Perspektiven
Die angesichts der komplexen Gemengelage von Helga Schneider so benannte „Multiproblemlage“ im Feld der frühkindlichen Bildung wurde dann abschließend auf einer von BAG-BEK-Vorstand Petra Strehmel moderierten Podiumsdiskussion noch einmal aus ganz verschiedenen Perspektiven beleuchtet.Corinna Malik vom BMFSFJ verwies zunächst auf eine Erfolgsgeschichte mit einem „enormen Platzausbau“, „Verdoppelung der Beschäftigtenzahlen“ und „Rekordzahlen in der Ausbildung“. Auch wenn es bisher nicht zu Qualitätsverlusten gekommen sei, müsse nun die weitere Qualitätsentwicklung in den Blick genommen werden. Keine Neuigkeiten konnte sie in diesem Kontext jedoch zum Stand des „Gute KiTa-Gesetzes“ ab 2023 und zur Fortsetzung des Programms der Sprach-KiTas geben. Hier liefen gerade die Haushaltsverhandlungen, die angesichts der vielen neuen Herausforderungen nicht einfach seien.
Jens Engelmann vom Fachkräfteverband Saarland entgegnete, dass die Qualität in der KiTa nur auf dem Papier nicht gesunken sei, in der Praxis aber doch sehr deutlich. So seien aufgrund des Fachkräftemangels vielerorts die Vor- und Nachbereitungszeiten nur noch Makulatur und der Fachkraft-Kind-Schlüssel sei grundsätzlich „nicht mehr zeitgemäß“. Er berichtete von massiven Abwanderungstendenzen von Fachkräften aufgrund ihrer ständigen Überlastung. Auf ein sehr kontroverses Echo traf sein Vorschlag, Kernzeiten für die Bildung in der KiTa von Randzeiten für die Betreuung zu unterscheiden.
Aus kommunaler Trägersicht schilderte Margit Braun aus der Landeshauptstadt München die Aktivitäten rund um die Fachkräftegewinnung und -bindung. Seit Jahren gebe es hier einen relativ konstanten Mangel von 12 Prozent und entsprechend werde ein hoher Aufwand für die Personalgewinnung über Social Media, Anzeigen, Messe und Speed-Dating betrieben. Ein ganz wichtiges Standbein sei die eigene dualisierte und bezahlte Ausbildung mit Unterstützung der Stadt bei der Wohnungssuche und einen KiTa-Platz für Auszubildende mit Kind. Hier könne die Stadt auf eine hohe Verbleibquote von 90 Prozent verweisen.
Michael Baumeister vom Fachschulverband BöfAE musste einräumen, „dass uns trotz Verdoppelung der Ausbildungszahlen der Fachkräftebedarf davonrennt“. Sehr gut nachgefragt seien die Fachschulen unter anderem durch Aufstiegs-Bafög, eine dualisierte / praxisintegrierte Ausbildung sowie Umschulungsmaßnahmen. Allerdings würden an zu wenigen Standorten Fachschul-Lehrer*innen ausgebildet und hier gebe es einen „massiven Mangel“. Zudem seien auch Quereinsteiger*innen kaum noch für diesen Bereich zu gewinnen.
Warum sich die Katze immer wieder in den Schwanz beißt
Nicht nur im Hinblick auf diese letzten Hinweise konstatierte Petra Strehmel, „dass wir an vielen Stellen wissen, was eigentlich getan werden müsste“. Allerdings „ist das ganze System unterfinanziert“ und „es braucht den politischen Willen auf Bundes- und Landesebene“ dies zu ändern. Ansonsten, so die durchaus ernüchternde Erkenntnis, beißt sich die Katze immer wieder in den Schwanz, wenn das Arbeitsfeld KiTa nicht entsprechend seiner Aufgaben und Bedeutung ausgestattet und für Berufs- und Querensteiger*innen so attraktiv gestaltet werden kann, dass diese auch in ihren Jobs verbleiben.Padlet zur Tagung mit vielen Statements und Links zum Thema, auf dem auch weiter diskutiert werden kann
Präsentation Ninja Olszenka
Impuls Tina Friedrich
Impuls Peter Cloos
Impuls Xenia Roth
Karsten Herrmann