Die Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen
Die Bildung wird in der derzeitigen öffentlichen Debatte zu Recht als entscheidender Schlüssel zu einer gelungenen Integration gesehen. Doch schon viele Fördermaßnahmen in KiTa und Schule scheinen nicht richtig zu greifen. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?
Meiner Meinung nach liegt eine wesentliche Ursache für diese Situation darin, dass wir Kultur nicht wirklich ernst nehmen. Wir sprechen zwar viel von Kultur, von Interkulturalität oder auch von kultureller Kompetenz im Bildungs- und Erziehungsbereich, aber nehmen nicht zur Kenntnis, dass Kulturen Lebensformen darstellen, die sich in alle Bereiche hinein auswirken. Kulturelle Lebensformen können sehr unterschiedlich sein, die Normen und Werte der einen Kultur können pathologische Varianten einer anderen Kultur darstellen. In unserer Kultur steht das Kind im Mittelpunkt, seine Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit sind wichtige Erziehungsziele, die in Familien wie Institutionen gefördert werden. In vielen anderen Kulturen und so auch in vielen Familien mit Migrationshintergrund, hat man ein anderes Bild vom Kind: das Kind soll gehorsam und bescheiden, anpassungsfähig und hilfsbereit sein. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass nicht die eine Vorstellung besser als die andere ist - es sind verschiedene Lebensformen, die im Prozess der Integration in Beziehung miteinander treten müssen. Dies heißt aber auch, dass alle Beteiligten sich aufeinander zubewegen müssen.
Was bedeutet das für die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund im Allgemeinen und für die Förderpraxis in KiTa und Grundschule im Besonderen?
Wir müssen uns bewusst machen, dass viele Familien mit Migrationshintergrund unseren Erziehungs- und Bildungspraktiken oftmals völlig verständnislos gegenüber stehen und diese für falsch oder sogar gefährlich halten. Umgekehrt gilt natürlich genauso, dass in unseren Kitas und Grundschulen das Kind mit Migrationshintergrund durch unsere kulturelle Brille gesehen wird. Das kann zu völligen Fehlinterpretationen von bestimmten Verhaltensmerkmalen eines Kindes und seiner Entwicklungsprozesse führen. Was uns bei der Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund oftmals fehlt, sind also zunächst einmal grundlegende Informationen, um dem jeweils Anderen und Fremden mit Verständnis und Akzeptanz begegnen zu können.
Haben wir es also in erster Linie nur mit einem Informationsdefizit zu tun, dass durch eine entsprechende Kampagne beseitigt werden könnte?
Nein, Kulturelle Haltungen haben auch viele nicht bewusste Dimensionen. Die gilt es in spezifischen Maßnahmen ins Bewusstsein zu holen und daran zu arbeiten. Nehmen Sie einmal das Beispiel der Sprachförderung. Es gibt viele Maßnahmen, Programme und Aktivitäten, die alle davon ausgehen, die deutsche Sprache so zu vermitteln, wie Deutsche Deutsch lernen würden. Sprache ist jedoch in erster Linie ein kulturelles Werkzeug, wo sich nicht nur die Vokabeln und der Satzbau unterscheiden können, sondern auch der grundsätzliche Gebrauch – wie drücke ich mich mit welchen Mitteln der Konversation aus, um welche soziale Funktion zu erreichen? Wir haben inzwischen solide Kenntnisse zu kulturspezifischen Konversationsstilen, die einbezogen werden müssen, wenn wir erfolgreiche Sprachförderung vornehmen möchten. Für die Praxis haben wir daher entsprechende Module entwickelt, mit denen ErzieherInnen im Gebrauch verschiedener Sprachregister geschult werden und das feedback ist sehr ermutigend.
Bei allen Maßnahmen zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund dürfen wir jedoch auch niemals deren Eltern vergessen. Mit ihnen gilt es in KiTa und Grundschule gezielt ins Gespräch zu kommen und sie am Bildungsprozess ihrer Kinder teilhaben zu lassen. Hier sollten dann auch weniger Probleme oder Defizite der Kinder als vielmehr ihre Erfolge und Fortschritte im Vordergrund stehen.
In der aktuellen Debatte wird das Andere und Fremde und damit auch die kulturelle Vielfalt immer wieder als Bedrohung der gesellschaftlichen oder auch persönlichen Identität interpretiert. Wie sehen Sie das?
Grundsätzlich ist Vielfalt ein lebensnotwendiges Prinzip und ohne Vielfalt wäre die Menschheit bereits lange ausgestorben. Wir müssen in unserer Gesellschaft endlich damit anfangen, kulturelle Vielfalt wirklich ernst zu nehmen und ihr mit Respekt und Wertschätzung statt mit Misstrauen und Angst zu begegnen. In unserer globalisierten Welt wird eine entsprechende „integrative Kompetenz“ zu einer neuen Schlüsselkompetenz werden. Das ist ohne Zweifel eine große Herausforderung, aber auch eine große Chance und Bereicherung für alle Beteiligten – auch und insbesondere für unsere Kinder.
Interview: Karsten Herrmann
Veranstaltungs-Tipps:
- Zum Thema der Kulturellen Vielfalt und zum Umgang mit ihr in der Elementar- und Primarpädagogik veranstaltet Prof. Dr. Heidi Keller am 12. Und 13. November den Kongress „Kulturelle Vielfalt“ in Osnabrück.
- Am 2. Dezember ist zudem der amerikanische Sprachwissenschaftler David Everett, der mit seinem Buch „Das glücklichste Volk“ international für Aufsehen gesorgt hat, zu Gast bei Prof. Dr. Heidi Keller und hält einen öffentlichen Vortrag.